Rock und Pop fürs Buchregal


Musik muß man hören. Stimmt! Was aber nicht bedeutet, daß man Rock'n'Roll nicht auch lesen könnte. ME/Sounds über geschriebene Popkultur.

Große Ereignisse werfen lange Schalten. Und ähnlich dem Kino-Blockbuster „Titanic“, der in seinem Strudel ja einen ganzen Rattenschwanz an gedruckten Beibooten nach sich zog, sorgte auch das Tournee-Ereignis 1998 für ein grollendes publizistisches Nachbeben – vier der zehn meistverkauften Bücher des Münsteraner Popliteraturversands „Medium“ drehen sich um die Rolling Stones. Chartbreaker ist der luxuriöse Bildband The Rolling Stones. A Life On The Road (Schinner & Mosel, 288 Seiten, 98 Mark). Die Herausgeber Jools Molland und Dora Loewenstein wurden für exklusive Interviews auf den Rock-Olymp gebeten und haben im Archiv der Stones über 400 Fotos ausgegraben. Ebenfalls 30 Jahren Tourgeschichte im Gefolge der Glimmer Twins widmet sich The Rolling Stones Over Germany (Verlag Maria Thomas, 264 Seiten, 79 Mark). Ein sehr persönlicher Bildband der beiden Fans Gerd Coordes und Wolfgang Thomas, angefüllt mit unzähligen Anekdoten („Schickt einen Fahrer mit langen Haaren“) aus dem Umfeld der Stones. Die Story hinter jedem Dylan-Song der Jahre 1962 bis 1969 erzählt Andy Gill in Classic Bob Dylan (Edition Olms, 144 Seiten, 39,80 Mark) relativ knapp und auf den Punkt. Der hübsch illustrierte Bildband des Chef-Bobologen Paul Williams ist vor allem für Einsteiger lesenswert. Daß er nicht nur die Dylan-Exegese beherrscht, zeigt die Aufsatzsammlung mit dem gräßlichen Titel Dieses großartige Rock & Roll Gefühl! (Werner Piepers MedienXperimente, 190 Seiten, 25 Mark). Hier reicht das Spektrum von Neil Young über Jerry Garcia bis zu Eddie Vedder. Ray Charles-Biograph David Ritz dagegen konzentriert sich in einer Autobiographie ausschließlich auf das Leben von B.B. King: Ein Leben mit dem Blues {Palmyra, 370 Seilen, 49,80 Mark). Darin zeichnet der 73jährige, der seine Gitarre zärüich „Lucille“ nennt, nicht nur aus erster Hand die Entwicklung des Blues nach, sondern gibt in Kapiteln wie „Jemand sprach mich mal auf oralen Sex an“ auch unerwartet tiefe Einblicke in seine Libido. Das Buch, mit dem der „Medium“-Versand erstmals ins Verlagsgeschäft einsteigt, beschäftigt sich mit den Krautrockern von Can. Hildegard Schmidt und Wolf Kampmann liefern mit Can Box: Book (Medium Music Boolis, 480 Seiten, 48 Mark) die bisher beste Rekonstruktion der vielleicht wirkungsmächtigsten deutschen Band. Interviews, Analysen und Artikel sind die Mosaiksteine, die sich zu einem sehr präzisen Bild der Krautrocker zusammenrügen. Weniger gelungen ist das Nebeneinander von deutschern, englischem und französischem Text – das sollte man der Pornobranche überlassen. Zwischen die Klassiker drängt sich auf einem erstaunlichen vierten Platz der Verkaufscharts die Autobiographie von Marilyn Manson: Mit The Long Hard Road Out Of Hell (UK-Import, 272 Seiten, 49,80 Mark) konnte der Bürgerschreck gar die Top 10-Bestsellerlisten der New York Times beflecken. Poptexte (290 Seiten, 28 Mark) aus dem kleinen Mainzer Verlag von Jens Neumann beschäftigt sich u.a. mit weiblicher Selbstinszenierung von Nina Hagen bis Bikini Kill und der „Enthüllung: Womit sich die Hamburger Schule ihr Geld verdient“. Was viele Regalmeter voll schlauer Artikel nicht erklären können, zeigt Burckhardt Seilers Bildband The Album Cover Art Of Punk (Edition Olms, 120 Seiten, 49,80 Mark). Die Cover der New York Dolls, Stooges, Sex Pistols oder The Clash schufen eine rauhe, unwirkliche Bildersprache, die auch heute noch wirkt – vor allem wenn sie, wie hier, im Originalformat präsentiert wird. Formatsprengend große Bögen schlägt, wie üblich, Pop-Professor Peter Wicke: Von Mozart zu Madonna (Gustav Kiepenheuer Verlag, 320 Seiten, 39,90 Mark) ist der Versuch einer Kulturgeschichte der Popmusik, der vor allem im Kapitel zum Schlager unterm Hakenkreuz gelungen ist. Mit dem Schlager hat es auch der Mannheimer Thommi Herrwerth: Katzeklo & Caprifischer (Rütten & Loening, 178 Seiten, 39,80 Mark) bläst dabei nur am Rande ins Guildo-Horn, sondern entfaltet ein 50jähriges Panorama deutscher Popmusik der Nachkriegszeit. DER ENORME ERFOLG VON NICK HORNBY (siehe Kasten rechte Seite) hat der deutschen Verlagsszene mächtig Beine gemacht: Auf der Frankfurter Buchmesse traten sich plötzlich hoffnungsvolle Pop-Autoren gegenseitig auf die Füße. Wo waren die denn bloß alle letztes Jahr, hm?

Die erfolgreichste Mimikry der Attitüden britischer Vorbilder gelang dem Musikjournalisten Benjamin von Stuckrad-Barre mit seinem Soloalbum (Kiepenheuer & Witsch, 246 Seiten, 16,90 Mark). Das ist minderschlimm, weil der Kollege gut und unterhaltsam schreiben kann – „witzig, böse und stellenweise brillant“, wie der bisher als Literaturkenner maßlos unterschätzte Harald Schmidt im Klappentext anmerkt. FSK-Sänger Thomas Meinecke gibt sich weniger blasiert, setzt in seinem zweiten Roman Tomboy (Suhrkamp, 251 Seiten, 36 Mark) jedoch auch ein paar Semester Soziologie voraus. Aber da die heutzutage ja fast jeder irgendwie auf dem Buckel hat, ist die Geschichte einer Heidelberger Studentin auf Sinnsuche durchaus zu empfehlen. Tiefschürfende Fragen stellt sich auch der Slam-Poet Andreas Neumeister in seinem neuesten Werk, Gut laut

(Suhrkamp, 184 Seiten, 28 Mark). Er widmet sich dem „rasenden Musikbesessenheitszeitalter“, freut sich auf das Ende dieses „Katastrophenjahrhunderts“ und feiert die trotzige Vorwegnahme des kommenden Jahrtausends im digitalen Sample-Sound. Da suchen Sky Nonhoffs acht Geschichten in Boy Meets Girl (Rogner & Bernhard bei 2001, 368 Seiten, 25 Mark) schon nach der Lösung weit praxisorientierterer Probleme: Nonhoff fahndet nach einer Methode, die Liebe zum Bleiben zu bewegen. Und das mit Hilfe von Figuren wie dem wahren Lino Ventura, drei Bären namens John, Paul und Michelle sowie dem Mann, der „All My Loving“ wirklich schrieb. Der Journalist hat den Hornbys und Welshs dieser Welt offenbar so gründlich aufs Handwerkszeug geschaut, daß beiläufiger Witz und ein seziermesserscharfer Blick für Situationskomik allmählich zur Grundausstattung guter Belletristik gehören. Um nicht den Verdacht der Deutschtümelei zu erregen, sei hier auch ein US-Autor gepriesen: James Roben Baker, ehemaliger Drehbuchautor und verantwortlich für die Rock ’n‘ Roll-Romanze Treibstoff (Rocner & Bernhard bei 2001, 368 Seiten, 33 Mark). Vor seinem Selbstmord im vergangenen Jahr hatte Baker noch erklärt, er möchte so schreiben wie Keith Richards Gitarre spielt: „In einem artigen und gesitteten Stil Sex beschreiben zu wollen, wäre wie der Versuch, ein Stones-Album auf einer Harfe einzuspielen. Das gelingt ihm in der Geschichte von Sharlene, Ex-Sängerin der Girlgroup „The Stingrays“, und ihrem Produzenten-Ehemann immer dann, wenn er die 60er-Iahre-Klischees von Sex, Drugs & Rock’n’Roll nicht auf die Spitze treibt.

WER EBEN NOCH AUF DER SPITZE DER AVANTgarde tänzelte, findet sein „Album des Jahres“ viel schneller auf dem Grabbeltisch der Rockgeschichte wieder, als man das Wort Grunge aussprechen kann. Höchste Zeit also, daß das mit Abstand beste deutschsprachige Rocklexikon nach acht Jahren in seiner nunmehr vierten Auflage auf den Markt kommt. Ein Vierteljahrhunden nach seinem ersten Erscheinen hat Das neue Rocklexikon (herausgegeben von dem verstorbenen Barry Graves, Siegfried Schmidt-Joos und Bemward Halbscheffel, zwei Bände, Rowohlt, 1231 Seiten, 49,80 Mark) zwar jede Menge Staub angesetzt, ernsthafte Konkurrenz ist dennoch nicht in Sicht.

Wer allerdings des Englischen auch nur halbwegs mächtig ist, sollte durchaus mal die Sprachgrenze überwinden. Dahinter gibt es in diesem lahrvor allem die Neuauflage des All Music Guide To Rock (Miller Freeman Boote, 1232 Säten, 52,90 Mark) zu entdecken. Über 1200 Seiten geballte Nützlichkeit in so winziger Schrift, daß kein Auge trocken, kein Wunsch offen bleibt: Nach den obligatorischen Lexikontexten wird jede einzelne Platte jedes einzelnen Künstlers rezensiert und mit einer Wertung versehen – und zwar auf eine Weise, daß den Leser bald die wohlige Gewißheit umspült, daß der jeweilige Autor diese Platten auch tatsächlich gehört hat. Das Erfolgsrezept dieses Standardwerks: Für die Beiträge zeichnen bei weitem nicht nur die fünf Herausgeber verantwortlich. Über 100 Musikjournalisten widmen sich hier offensichtlich ihren Leib- und Magenthemen – allerdings meistens sehr sachlich, und daher nicht so süffig zu lesen wie etwa das Rowohlt-Lexikon. Martin C. Strangs The Great Rock Discography (nur über 2001, Postfach, 60381 Frankfurt, 39 Mark) bringt mit seinen monströsen 940 Seiten im Din A4-Format auch in der vierten Auflage mehr als zwei Kilo auf die Waage. Die über 1000 Einträge beschränken sich nicht nur auf das minutiöse Aufführen aller Singles und Alben inklusive Tracklisting – seinen besonderen Wert gewinnt dieses günstige Kompendium durch die knappen, teilweise ziemlich humorigen Kurzbiographien mit Stilanalyse, Trivia, Songwriter-Credits und Hinweisen auf interessante Cover-Versionen. Dazu gesellen sich jeweils die höchsten Chartsnotierungen aus Billboard und New Musical Express. Wer sich für die Musikbranche interessiert, kommt am Jahrbuch Pop & Kommunikation 98/99 (Econ, 98 Mark) kaum vorbei. Neben einer Fülle von Informationen aus dem Music Business auf 350 >eiten liegt dem Jahrbuch (Herausgeber: Viva-Chef Dieter Gorny und der Hamburger Journalist Jürgen Stark) zusätzlich eine CD-ROM mit einer umfangreichen Adressendatei bei. Das opulente Werk von Gorny und Stark enthält zudem eine Vielzahl von informativen Interviews. Nicht nur an Spezialisten und Love Parade-Veteranen richtet sich das TechnoLexikon (Schwarkopf & Schwarzkopf, 320 Seiten, 29,80 Mark) von Dirk Waltmann, Sven Schäfer und Jesper Schäfers. Nach einer Erläuterung der wichtigsten Spielarten von Flouse und Techno werden nicht nur Begriffe wie Speed Garage, Basement Style oder Reverb erklärt, sondern auch Labels, Produzenten, Künstler und Magazinen so stringent abgehandelt, daß auch die Besitzer verstaubter Rolling Stones-Biographien noch folgen können.