Roll over Beethoven


Bei Licht besehen reichen die Ursprünge der meisten Rockbands zurück in die 60er Jahre. Auch das ästhetische Electric Light Orchestra. in jüngster Zeit nur noch knapp "ELO" genannt, macht da keine Ausnahme. Der Stammbaum dieser Edelrocker geht sogar auf eine besonders wüste Truppe zurück, die sich Move nannte und deren Anführer ein gewisser Ron Wood war. Dieser irrsinnige Kapellmeister gab den Stab allerdings schon sehr früh an Jeff Lynne ab, der die Truppe nach diversen Startschwierigkeiten immerhin zum Spitzenverkäufer machte.

Zwei Dinge kennzeichnen wohl den Aufstieg des Electric Light Orchestra plus seiner Vorgänger am deutlichsten: Was sich heute weltweit, sei’s in Europa, den USA, Südafrika oder Neuseeland, abspielt, begann vor fünfzehn Jahren denkbar provinziell im englischen Birmingham. Und: kaum eine Band erlebte einen solch gleichmäßigen Aufschwung ohne jegliche Sprünge nach oben oder unten und leistete sich nebenher noch zwei, drei Band-Derivate, die ebenfalls Maxi-Hits absahnten. Gemeint sind hiermit Wizzard und Roy Wood im Solo. Nur eines stimmt dabei traurig: Von den poppigen Aberwitzigkeit der Move, vom stets aufs Neue aufgetürmten Bombast-Spaß der Wizzard oder gar von Roy Wood’s Kauzigkeiten ist bei ELO nichts mehr zu spüren. Da läuft’s samt und sonders nach Generalstabsplan ab, zwar stets perfekt und richtig, aber eben auch ohne den Reiz des Risikos.

Doch bevor ich ELO ernstlich kritisiere, muß ich anläßlich neuester Erkenntnisse erst eine Lanze für sie brechen. Gewiß sind ELO heute reiner Pop- kaum noch Rock – sogar mit solcherart Streichern, wie sie auch mancher Schlagerfritze verwendet. Nur: bei ELO klingt das alles erheblich wendiger und spritziger. Und die Vielfalt der eingängigen Melodien hat ELO, respective Jeff Lynne, den fatalen Ruf eingebracht, sowas wie die 123. Reinkarnation der Beatles zu sein. Der Vergleich mit Abba, durchaus im Guten gemeint, liegt eigentlich viel näher.

Aber dann tauchen diese Bekannten auf, die einem von der Lahmheit des letzten ELO-Albums „Discovery“ erzählen wollen (zwar nicht meine Meinung, aber diskutabel) und im gleichen Atemzug selig über „Helter Skelter“ vom weißen Beatles-Album schwärmen. Im speziellen Vergleich zu ELO’s“Don’t Bring Me Down“, versteht sich. Freunde, das ist indiskutabel, denn entweder sehen wir ELO wie Beatles als eine Rockband und kriegen angesichts diverser ELO-Geigenfantasien oder mit „Yesterday“ und „Rubber Soul“ erhebliche Schwierigkeiten (Genanntes ist ja wohl kein Rock), oder wir einigen uns darauf, daß beide Bands Pop und nichts als Pop sind/waren. Daß beide Bands so ziemlich alles spielen bzw. spielten, aber keinen Stil wirklich konsequent beherrschen. Im Einzelfall gab und gibt’s immer kompetentere Bands, doch im Status des Allgegenwärtigen, des Allumfassenden liegt ja wohl die große Bedeutung der Beatles und auch etwa Elvis Presleys, der stets weniger wild als Little Richard, weniger urig als Chuck Berry und weniger radikal als Jerry Lee Lewis war, aber eben von jedem etwas besaß, und das hob Presley unter allen hervor. Ich schätze, in fünf oder zehn Jahren wird man ELO ähnlich sehen. Allerdings ist schade, daß die meisten Leute dann ELO-Chef Jeff Lynne als Spiritus Rector beurteilen werden, obwohl man den – böswillig betrachtet – lediglich als Absahner bezeichnen könnte. Roy Wood ist der Name des Musikers, dem ELO fast alles verdanken.

Obgleich die Industriestadt Birmingham außer gewissen Natursehenswürdigkeiten in den umliegenden Midlands nichts als Rauch und Ruß zu bieten hat, ja nicht einmal mit einem renommierten Fußballverein aufwarten kann, wurde sie Mitte der sechziger Jahre halbwegs bekannt – in Rockkreisen. Hier starteten Muffs Mojo Men, die sich dann in „Spencer Davis Group“ umbenannten; hier traf der spätere McCartney-Wing Denny Laine Mike Pinder und Ray Thomas, mit denen er die Moody Blues gründete; und hier spielten Carl Wayne & The Vikings, Mike Sheridan’s Nightriders mit Roy Wood an der Gitarre, der bald von Jeff Lynne ersetzt wurde und sich durch fast alle Lokalbands durchgewuselt hatte: Gerry Levine & The Avengers, The Lawmen oder The Falcons. Kurz: eine reichhaltige und daher talentfördernde Szene.

Roy Wood war am 8.11.46 in Birmingham geboren worden und nannte sich Roy, weil seine wahren Vornamen Ulysses Adrian für eine Popkarriere kaum geeignet waren. Jedenfalls tauchte in Birminghams Beat-Szene Ende 1964 die Idee einer Super-Group auf. die tatsächlich formiert wurde: Carl Wayne (voc). Roy Wood (voc, g). Roy ,Bev“ Bevan (dr), Trevor Burton (g, voc) und Chris ,Ace“ Kefford (bg), der seines Aussehen wegen auch als“.der singende Totenschädel“ geläufig war. Man nannte sich programmatisch The Move.

Das Quintett besaß zwei Vorteile: Erstens Roy Wood mit seinem ausgeprägten Sinn für melodische Kompositionen sowie seiner umfassenden Kenntnis in Klassik und Rock & Roll, und zweitens Tony Secunda,einen Manager mit ausgeprägtem Gespür für wahnwitzige Ideen. Im Januar 1967 enterten die Move erstmals die Top Twenty mit ,,Night Of Fear“, das teilweise von Peter Tchaikovsky’s Ouvertüre Solennelle ,,1812″ op. 49 geklaut und mit dem hintergründigen Einsatz eines Cellos verziert war. Dazu gab“s Move-typischen Sound: bleischwere Baßlinien und ekstatischen Chorgesang oberhalb 3000 Hertz, was auch auf dem Nachfolger „I Can Hear The Grass Grow“ klappte. Das Gras am besten wachsen hörte jedoch Tony Secunda, der keine Gelegenheit ausließ, sich und die Move ins Gespräch zu bringen, weshalb er mit der Band atemberaubende Salti in puncto Imagepflege betrieb.

Präsentierten sich die Move anfangs noch als extrem unberechenbares Gangster-Syndikat, das auf der Bühne Fernsehapparate zertrümmerte, Bilder von Adolf Hitler und Ian Smith zerschlug und auf gut Glück ein paar Rauchbomben warf (die Who für arme Leute also), so trat die Band wenige Monate später, Ende des Flower Power-Sommers plötzlich in bunten Indien-Gewändern auf- Totenschädel Ace Kefford mit Blümchen im Haar. Was notwendig war, weil die Move gerade „Flowers In The Rain“ sangen, wozu Secunda noch eine Postkarte in Umlauf brachte, die den damaligen Premierminister Harold Wilson in verfänglicher Situation zeigte. Prompt wurden die Move von Wilson verklagt, mußten daraufhin alle Tantiemen für „Flower In The Rain“ an karitative Vereine abgeben und erzielten immense Publicity. Was urpsrünglich Zweck der Postkarte gewesen war.

Als 1968 ein Rock & Roll-Revival ins Haus stand, sah man die Move wieder in anderer Verkleidung: als Rocker. Ohne Vorankündigung wechselte die Band mit einem musikalischen Kopfstand ihren Stil, ließ bei Flower Power das erste Wort weg und zupfte in ,,Fire Brigade“ einen Edel-Rocker. Nach dem noch wilderen „Wild Tiger Woman“ schwenkte die Band zu Sittsamerem und produzierte mit „Blackberry Way“ einen langsamen Evergreen, der auch meinen Eltern gefiel. Spätestens dieser Hit offenbarte den Chef im Move-Haus: Roy Wood, Komponist, Texter, Gitarrist und Sänger. Denn mittlerweile hatten Ace Kefford und Trevor Burton die Band verlassen – letzterer tauchte später in der Steve Gibbons Band erneut auf. Steve Gibbons zählte übrigens auch zur weitverzweigten Birmingham-Szene, hatte Beziehungen zu Denny Laine’s Diplomats mit Drummer Bev Bevan und gründete mit Trevor Burton die Band The Balls, in der mit Richard Tandy und Keith Smart spätere ELO-Musiker und mit Alan White ein Schlagzeuger mitwirkten, der später in einer Band namens …. ähh, wie heißen sie noch . . .? YES.Yes!

Ironie beiseite. Weniger die Namen sollen hier zählen als der Eindruck der totalen Wirrnis, in der die Move gegen Ende ihrer Karriere agierten. Carl Wayne verließ die Move, weil Wood ihn nicht mehr ans Mikrofon ließ und Wayne sich außerdem in der irrigen Annahme befand, er könne eine Solokarriere erfolgreich bewältigen. Mit den Ersatzleuten Rick Price (bg) und ab 1970 Jeff Lynne setzten die Move ihre Gratwanderung jedoch fort. „Curly“ klang wie ein Wiegenlied und wurde zum Hit; „Brontosaurus“ tönte wie echter Rock & Roll und geriet zum Hit; „Tonight“ wirkte wie ein Glas Wasser, wurde trotzdem ein Hit; desgleichen geschah mit „California Man“ 1972, einer Single, die drei Stationen markierte: Das Ende der Move, nunmehr bestehend aus Wood, Lynne und Bevan die erste Trennung innerhalb des schon seit anderthalb Jahren existierenden Electric Light Orchestra, ebenfalls aus Wood, Lynne und Bevan zuzüglich einiger Studiomusiker bestehend – de facto jedoch gleichzeitig die Debutsingle von Wizzard.

Noch irgendwelche Fragen? Erklärungen später!

Denn die Move verdienen zunächst eine Würdigung. Wenige Bands der sechziger Jahre vermochten derart abenteuerlich Spaß und Abwechslung zu bieten, was leider dazu führte, daß die Move in den USA nahezu unbekannt und in Europa als reine Singles-Band abgestempelt blieben. Dabei hat das Quintett mindestens zwei exzellente LPs abgeliefert:“.The Move“ mit fast selbstmörderisch vielen Stilwechseln inklusive eines Songs, betitelt „The Girl Outside“,der heutzutage, neu abgemischt, ohne Schwierigkeiten als brandaktuelle ELO-Single akzeptiert würde. Zweitens“.Shazam“, wo in bloß sechs Stücken abermals fast sämtliche Stile dies- und jenseits des Atlantik auftauchten, einschließlich einer breiten Darlegung von „Hello Susie“, komponiert von Roy Wood und für Amen Corner ein dikker Hit 1969. Alle Move-LPs sind mittlerweile wieder erhältlich!!!

Womit wir endlich zu ELO kämen, liebe ELO-Fans? Denkste! Nicht Jeff Lynne spielte nach dem Bruch der Move eine Hauptrolle, sondern weiterhin Roy Wood, der eine alte, gemeinsam mit Carl Wayne ausgebrütete Idee verwirklichte: Da, wo die Beatles (Parallele!!) mit „Strawberry Fields“ und „I’m The Walrus“ aufgehört hatten, sollten Wood, Lynne und Bev Bevan unter dem Namen Electric Light Orchestra weitermachen – orchestraler Rock, Classic Rock oder ähnlich. Jeff Lynne zeigte sich von diesem Vorhaben recht angetan, zumal er wählend der vergangenen Jahre mit den Überresten der eingangs erwähnten Band Mike Sheridan & The Nightriders, jedoch unter dem Namen The Idle Race, Sinnverwandtes unternommen hatte. Bloß waren The Idle Race nie über einen Kult-Status hinausgekommen.

1971 erschien, nach langer Vorarbeit, „The Electric Light Orchestra , eine fast im Alleingang von den drei Ur-ELOs angefertigte LP mit selbst für die damalig ach so progressiven Zeiten verqueren Klängen: Viel Klassik, noch mehr Cello, und tatsächlich eine Fortführung von Beatles-Ideen, an die unsere Fab Four aus Liverpool wohl selbst nie gedacht hätten – trotz ihres unsäglichen „Yesterday“. Hört man diese erste ELO-LP heute, mag man sich mit Recht am Kopf kratzen, doch für 1971, als alles, was kompoliziert klang, demzufolge auch gut sein mußte, war’s eine mittlere Erleuchtung. Unverständlicherweise geriet das Album sogar zu einem kommerziellen Erfolg, nicht zuletzt wegen seines ausgekoppelten Hits“l0538 Overture“ (übrigens eine Lynne-Komposition!), von dem Zyniker behaupten, er sei bereits die Essenz aller weiteren ELO-Songs gewesen …..

Wie dem auch sei, die beiden Chefs von ELO begannen einen subtilen Streit: Roy Wood driftete die Musik zu sehr ins Klassische ab. obgleich doch gerade Wood das Konzept entworfen hatte; Jeff Lynne wiederum suchte den von Wood lancierten Trend zum Rock & Roll einzudämmen – eine auf Dauer unhaltbare Situation. Also beschlossen die beiden, sich mit im Showbusiness seltener Übereinstimmung gütlich zu trennen: Lynne übernahm ELO mitsamt der von Wood vorgezeigten Richtung, jener wiederum erhielt zwei neue ELO-Musiker (Bill Hunt und Hugh McDowell) als Basis für seine Band Wizzard, die sich als Rock & Roll-Revival mit klassischen Hintertönen verstand.

Und während ELO sich mit drei früheren Mitgliedern des London Symphony Orchestra (Mike Edwards, Colin Walker, Wilf Gibson) herumschlug, da diese den Sprung zum Rock nur mühsam schafften; während ELO anfangs generell unter Personalproblemen litt und das extrem mäßige Album „ELO II“ nur deshalb überstand, weil dort mit einem Remake von „Roll Over Beethoven“ ein Hit zu finden war, während dieser Zeit schlug die große Stunde von Wizzard, die zwar eine lockere Gemeinschaft aus früheren Move-Leuten wie Rick Price und späteren ELOs darstellten, jedoch vom überschäumenden Talent des Roy Wood zusammengehalten wurden. Eine Zeitlang, etwa 1971, verfolgte Wizzard Wood (engl. wizard: Magier, Hexenmeister) parallel vier Projekte: die alten Move, das neue ELO, die kommenden Wizzard sowie eine Solokarriere, deren bereits seit 1970 eingespielten Ergebnisse drei Jahre später auf Woods juxiger Solo-LP „Boulders“ zu genießen waren. Jedenfalls landeten Wizzard 1973 gleich vier Riesenhits: „Ball Park Incident“, „See My Baby Jive“, „Angel Fingers“, „I Wish It Would Be Christmas Everyday“ sowie ein halbes Jahr später noch „Rock And Roll Winter“ als fünften Streich. Allesamt glänzende Neuauflagen von Rock & Roll in zeitgemäßer Verkleidung, mit teils Phil Spector-haftem Soundgemälde, was zeigte, wo Wood’s Qualitäten lagen: Nicht in der Innovation, sondern im neuen Aufmischen bekannter Stile, verziert mit diversen Kautzigkeiten. Dazu trat Wood mit mehrfarbig getöntem Haar und Magier-Kleidung auf und ließ seine Fans gelegentlich in arger Verlegenheit: was etwa sollte man mit einem Titel anfangen, der übersetzte „Musik, um dabei Selbstmord zu verüben“ lautete.

Womit wir in der Nähe einer Deutung wären: Ist Roy Wood ein Genie oder sogar ein Wahnsinniger? Bekanntlich liegt beides eng beisammen und trifft sich bei Wood wohl in der Mitte. Denn mit dem Ende von Wizzard, die zwei relativ unbedeutende Alben vorlegten, und mit Wood’s fragwürdigen Solo-LPs neueren Datums verliert der Magier einiges an Wirkung. Nebenbei besitzt Wood, dem wahren Genie nicht unähnlich, beinah kindliche Anwandlungen: zeitlebens Beach Boys-Fan und Elvis Presley-Anhänger, schätzte er sich überglücklich, daß Elvis 1975 zwei Wood-Kompositionen akzeptierte und die Beach Boys ihn auf ihrem Album „15 Big Ones“ Saxofon spielen ließen. Was nebenbei ein weiteres Wood-Talent eröffnet: Der Mann beherrscht alle gängigen Instrumente gut bis brauchbar. Und als Produzent ist er ebenfalls gefragt, denn die gerade erschienene Darts-LP.,Dart Attack“, Rock & Roll natürlich, wurde von Wood produziert. Resümee: Roy Wood ist im Guten wie Schlechten zu allem fähig . . warten wir’s ab!

Jeff Lynne erscheint demgegenüber als eher stromlinienförmiger Musiker-Manager. Weniger vielfältig hinsichtlich der Beherrschung von Instrumenten, weniger genial bezüglich der Spaße und Tricks, dafür aber sicher geschäftstüchtiger, konzentrierter und sich auf das Wesentliche beschränkend. Lynne wurde am 12.12. 1947 in Birmingham geboren und kann, von Idle Race und dem kurzen Engagement bei The Move abgesehen, keine besonderen Erfahrungen vorweisen, obgleich er sich unterdess längst als eine Art Wizard für bescheidenere Ansprüche gemausert hat. Gegenüber dem gelegentlich flatterhaften Freigeist mit gleitender Arbeitszeit, Roy Wood, wirkt Lynne wie der Pragmatiker im Vorzimmer des Konzernchefs, wahrlich nicht untalentiert und sich stets mit dem Machbaren, nicht mit Höhentlügen befassend.

Diese Zähigkeit, gepaart mit Sinn für feine Melodien und dazu passenden Arrangements (wie bei Wood), hat ELO möglicherweise davor bewahrt, schon Anfang der siebziger Jahre zu sterben. Denn das Harvest-Label, ELO’s früherer Vertragspartner, zeigte sich nach Wood’s Weggang von ELO und der mäßigen LP „ELO II“ durchweg wenig begeistert von den Aktivitäten der Band. „Roll Over Beethoven“ als Maxi-Hit kehrte da jedoch einiges unter den Tisch. Außerdem war damals kaum absehbar, daß sich Lynne als Fließbandlieferant prägnanter Songs eignete und daneben, Pragmatiker in allen Gassen, auch die Schwächen von ELO erkannte und ausmerzte.

Denn so wenig, wie ein Berliner Philharmoniker von heute auf morgen das Rocken erlernt, so wenig schafft ein Rockmusiker über Nacht, Tchaikovsky oder Schubert zu interpretieren. Eben hier lagen die Schwierigkeiten im Classic-Rock-Konzept des ELO. Erst 1974 fand Lynne mit Mick Kaminski (vi) und Hugh Mc Dowall (cello) geeigneten Ersatz für frühere Mitglieder des London Symphony Orchestra, die sich allzu häufig klassischkulturell der Rockseite von ELO genähert hatten. McDowall hatte – wo sonst? – seine Lektion bei Wizzard gelernt. Kaminski glich jenem Typ, der schon immer Rock gehört hatte, dem aber von den Eltern statt der Gitarre eine Geige in die Hand befohlen worden war. Und noch zwei weitere ELO’s blieben später auf der Strecke: mit Mike Edwards auch der dritte echte Symphoniker (eigentlich ein beredtes Zeichen für die Bürokraten europäischer Klassikkultur) und mit Michael D’Albuquerque ein baßspielender Sänger, dem solo Größeres vorschwebte.

Zwei Ereignisse des Jahres 1974 trugen desweiteren zum stetigen Aufstieg des ELO bei: Erstens eine Mammuttournee durch die USA, wo die Band mittlerweile ihre größten Erfolge feiert, zweitens ein Konzept-Album namens „Eldorado“, für viele Kenner bis dato ELO’s Meisterstück, zugleich auch die erste Goldene LP der Band. Von „Eldorado“ an galt es für Lynne & Kollegen, den gewonnenen Erfolg zu verteidigen und weltweit auszubauen, was vermittels solcher LPs wie „Face The Musie“ und die Jeder-Song-Ein-Hit-LP „A New World Record“ spielend gelang. Da mochten die Fans sogar die Überlängen des Doppelalbums „Out Of The Blue“ schlucken, ehe ihnen mit „Discovery“ dann wieder mehr Abwechslung und Kurzweil geboten wurde.

Ganz offenbar hatte sich während dieser Alben Lynne’s Wunschbesetzung gefunden: Bev Bevan, längst Chefassistent und Schlagzeuger, Richard Tandy (keyb), Kelly Grocutt (bg), Mick Kaminski (vi). Hugh McDowall (cello), Melvyn Gale (cello), eine auch live durchweg überzeugende Truppe, die gegebenenfalls ihre Celli im Salto mortale weiterspielte. Warum ELO’s letzte Platte „Discovery“ mit Lynne. Bevan, Tandy und Grocutt nur noch die (dem Rock entsprechende) Grundformation hervorhob, blieb bislang unerfindlich. Vielleicht führt Pragmatiker Lynne seine Streicher nur noch auf einer die Gesamtkosten senkenden Gelegenheits-Lohnliste. Dieser rationalisierten Denkweise entsprechen auch die Mechanismen, nach denen ELO’s Erfolg funktioniert. Lynne scheint kaum einen Song zu schreiben, der sich nicht zweifach verwenden läßt: Als Album-Titel und hernach als Single-Auskopplung, angefangen beim beinah nach schwarzer Musik klingenden „Showdown“ über „Ma-Ma-Ma-Belle“, „Can’t Get It Out Of My Head“,“Evil Woman“, „Telephone Line“. ,“Livin‘ Thing“, „Turn To Stone“, „Mr. Blue Sky“ und „Shine A Little Love“ bis zu „Don’t Bring Me Down“, das in einigen Staaten der Erde von „Diary Of Horace Wimp“ als Single-Auskoppelung gekontert wurde. Bei all dieser Konfusion heißt ELO’s letzter Doppelnelson sinnig „Confusion“ — womit man die LP“.Discovery“ ziemlich vollständig auch auf Singles kaufen kann. There’s no business like…

Und wer genau hinhört, sieht sich von ELO auch ansonsten mit altbekannten Mechanismen des Pop bedient: Ein hoher Wiedererkennungswert zeichnet die Band aus, nicht bloß durch die Streicher, sondern auch durch Jeff Lynne’s unverkennbare Micky Mouse-Stimme, Bev Bevan’s Schlagzeug (das seit den frühen Move-Tagen unverändert die gleichen Breaks bietet), und nicht zuletzt durch eine ELO-typische Abmischung der Platten. Die Wiedergabequalität der ELO-LPs steht merklich unter dem technisch möglichen Niveau: Bollerige Bässe, nicht eben klare Höhen und insgesamt eine Art Breitwand-Sound, der alles anklingen läßt und weniges abdeckt. Vom stilistischen Regenbogen ganz zu schweigen.

Doch eben dies zeichnet ELO indirekt auch aus: Ein musikalisches Chamäleon, mit dem man ebenso Karfreitag wie Karneval bestreiten kann. Weder Rock noch Klassik, aber beides zusammen; sowohl LP-Band wie Singles-Renner; zwischen Mimikri und Ernsthaftigkeit lavierend, ich mag sie nicht, aber sie gefallen mir . . .