Hirnflimmern

Rolling Stones & Beatles: Über die Urgewalt des schlechten Geschmacks


Kurz hätte man denken können, es sei '66. Aber knapp daneben ist auch vorbei. Josef Winklers Kolumne.

Na, wie sieht’s bei Ihnen aus? Die Krisen und die Fürchterlichkeit überall – ein Zustand, „der uns echt schlecht schlafen lässt“, meinte vorhin die Radiomoderatorin, aber ich muss sagen: Schlafen geht noch. Das Wachsein ist das Problem! Das ist so schwer geworden, ich mach’s momentan nur unter Vorbehalt. Wobei, in diesem Winter, netter Wink von der sonst so unromantischen Realität: Erst eine neue Stones-Platte, dann die neue Beatles-Single im Radio – hey, es könnte 1966 sein!

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Hätte was für sich, find ich … Zwei ästhetische Anmerkungen vielleicht: Möglicherweise hätten die Stones ihr Album-Artwork nicht bei Harald Glööckler in Auftrag geben sollen. Und dieser GIF-artig winkende Grinse-Lennon in dem „Now And Then“-Video – ui ui ui! Vielleicht hat McCartney „How Do You Sleep?“ doch immer noch nicht ganz verwunden. Aber ich bin jetzt auch nicht dazu da, Sir Paul und Ringo Starr im Jahr 2023 schlechten Geschmack vorzuwerfen.

„Christian Rock“, wir wissen es alle: der elektrische Stuhl der Musik!

Was für eine Urgewalt schlechter Geschmack haben kann, wurde mir letztens ausgerechnet im ehrwürdigen Münster St. Georg in Dinkelsbühl bewusst. Uns Städtereisenden war die dortige Orgel mit ihren 4.000 Pfeifen angepriesen worden, und in der Hoffnung auf sonische Sensationen hatten wir uns zur Sonntagsmesse in den hochgotischen Hallen eingefunden.

7 weihnachtliche HipHop-Songs für die Winterzeit

Doch stellte sich nun, da wir zwischen Onkeln, Tanten und anderem Kirchenvolk eingeschlossen im Gestühl festsaßen, heraus, dass der Organist die musikalische Gestaltung an diesem schicksalshaften Morgen einem schwarzgewandeten „Projektchor“ überlassen hatte, welcher nun dazu anhob, die arglose Christenschar mit US-evangelikalesken „Worship“-Songs zu bedrängen. „Christian Rock“, wir wissen es alle: der elektrische Stuhl der Musik! Aus Konservenlautsprechern kreischten Plastikrock-Lärmkaskaden, bis ich dachte – und at some point mir wünschte –, das 600 Jahre alte Gewölbe müsse über uns zusammenstürzen. Dies blieb aus, also ist Gott entweder taub oder noch viel gütiger als gemeinhin angenommen – oder es gibt ihn halt tatsächlich nicht.

Hey, keine Angst vor der KI!

Ich mache noch mal einen abrupten Themensprung, damit klar wird, dass dieser Text nicht von einer KI geschrieben ist. Die tut so was (noch) nicht. Und sie würde wohl auch keine Schmählieder auf sich selbst dichten. Ich schon! Weil gerade Weihnachten war, hab ich eins mitgebracht, bitte zur Melodie von „Chim Chim Cher-ee“ aus „Mary Poppins“ singen:

ChatGPT, ChatGPT, Chat G-P-T /
Ich glaub ich muss speien und beiß mir ins Knie.
ChatGPT, ChatGPT, Chat G-P-T /
Geh, lass ma mei Ruah mit deim ChatGPT!
Die Welt ist so modern, dazu sag ich: njet!
Ja, leck mich doch fett mit dem GPT Chat!

„Modern“ müsste man englisch singen von wegen Versmaß. Sie lesen es zwischen den Zeilen: Ich stehe dem Ganzen eher skeptisch gegenüber. Andererseits: Hey, keine Angst vor der KI! Da stecken aufrichtige kommerzielle Interessen von Weltkonzernen dahinter, die werden schon verantwortungsvoll … Waaahahaha! Nur Spaß. Schlafen Sie gut.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 1/2024.