Rückblick: So war das Melt!-Festival 2011
Pulp retten den Rock auf einem Festival, dessen Transformation zum rastlosen Techno-Happening weitergehen wird. Ein Bericht von Christoph Dorner.
Als die Hamburger Krawallbrüder Deichkind vor fünf Jahren kurz vor fünf Uhr morgens ihr „Yippie Yippie Yeah“ skandierten und ihr Publikum zum Bühnensturm aufriefen, war es ein überaus schicksalsträchtiger Moment für das Melt!-Festival mit seinen ikonischen Stahlbaggern von Ferropolis.
Wäre die Bühne unter dem ekstatischen Hüpfen hunderter Remmidemmi-Raver zusammengebrochen, hätte das Festival glatt dicht machen können. Deichkind hätten sich dann wohl am besten schleunigst nach Südamerika abgesetzt. Die Hamburger Band hat auch später noch verrückte Dinge auf und abseits der Bühne angestellt (man erinnere sich nur an die kollektive Bierdusche von Dortmund), auf jenem vom Rockpalast dokumentierten Aufruf zur massenhaften Verletzung der Festival-Hausordnung gründet bis heute ihr nationaler Helden-Status. Gleichwohl hat damit auch das Melt! zusätzlich zu seiner außergewöhnlichen Location einen veritablen Mythos gestiftet bekommen. Dass bis in den frühen Morgen gefeiert werden konnte, war in geographischer Nähe zu Berlin kaum etwas besonderes. Die Aussicht auf den einen geilen Festival-Moment, ein Rauschgefühl, das sich nicht zuallererst über Drogen definiert, aber durchaus. Diese Rückversicherung hob das Melt! in den letzten Jahren atmosphärisch doch recht deutlich von Deutschlands großen Rock-Festivals ab.
Noch ein Beispiel: Man muss bei dem völlig übersteuerten Guerilla-Rave von Audiolith im Jahr 2008 dabei gewesen sein, dessen Videomitschnitt ein kleiner PR-Clou für das Hamburger Label war. Drei Jahre sind später sind die Electro-Punks von Egotronic die Helden ihrer Szene und bespielen mit Frittenbude und der Mediengruppe Telekommander am Donnerstag Abend die rappelvolle Zeltbühne zur offiziellen Pre-Party. Die Schockwellen all dieser orgiastischen Bilder sind heute sogar in der tiefsten Provinz zu spüren, wo die jungen Burschen mittlerweile nicht mehr in Rock-Bands spielen wollen, sondern auch „Electro“ hören und selbst auflegen wollen. Musikalisch ist das Melt! über die Jahre dabei noch näher an Berlin herangerückt. Die Gitarren sind heimlich von den Bühnen verschwunden, auch weil sie selbst Gitarrenbands nur noch als Staffage dienen. Natürlich haben aber auch Headliner wie die Pet Shop Boys, Björk, Oasis und – auch sie muss man in diesem Zusammenhang nennen – Hawtin, Villalobos oder Kalkbrenner über die Jahre die internationale Strahlkraft des Festivals sukzessive erhöht, zumal es im Vergleich zur Konkurrenz lange recht günstig gewesen ist.
Aber diese „arm aber sexy“-Wachstumsstrategie kennt man ja ebenfalls aus Berlin. Holländer, Engländer, Skandinavier – überhaupt der gesamte bunte Easyjetset hat sich den Termin des Melt! seit nun ein paar Jahren dick im Kalender angestrichen. Das bemerkt man schon, wenn man im Shuttlebus von Dessau nach Ferropolis sitzt und sich Sprachmelodien aus ganz Europa mischen. Mittlerweile kommt mit Sicherheit jeder dritte Besucher aus dem Ausland – ein großer Erfolg für das erneut ausverkaufte Festival. Einmal auf dem Gelände angekommen, wird die Abendgestaltung schon am Freitag zwangsläufig zu einem fließenden Trip zwischen musikalischen Welten. Die New Yorker Band Swans, einst Pioniere des No Wave und heute eine verstörend laute Noiserock-Band, sind am frühen Abend auf der Hauptbühne, ja auf dem ganzen Festival eigentlich relativ deplatziert. Das weiß auch der große Apokalyptiker Michael Gira, der etwas hämisch ins Publikum grüßt: „ Thank you, New-Wave-Electro-Pop-Aficinados.“ Ansonsten liefern die Swans ein verstörendes Lärmspektakel, im abschließenden, 24-minütigen Klangbad ohrfeigt sich Gira, bis man fast nicht mehr hinschauen mag. Weiter zu den Schweden Little Dragon, die auf der Zeltbühne die ohnehin schon tollen Pop-Songs ihres neuen Albums „ Ritual Union“ zu schmissigen Dance-Tracks ausbauen, zu denen die wunderbare Sängerin Yukimi Nagano mit Schellenkranz tanzt wie eine Biene.
Gänzlich fantastisch ist danach auch das Downtempo-House-Set, das New Yorker Wunderkind Nicolas Jaar mit voller Band an der Strandbühne spielt, die in diesem Jahr erneut von Modeselektor kuratiert wird. Vor allem Holländer und Briten schwingen zu Jaars Songs selbstvergessen mit, die ersten zücken auch gleich ihr Schießpulver. Kaum zu glauben, Jaar ist live noch einmal viel besser als auf seinem Album „Space Is The Only Noise“. Auch das Herumstreunen funktioniert auf dem Melt! ganz wunderbar – unter den Scheinwerfern, den unendlichen Lasern und dem Feuerflackern von Ferropolis ist sowieso alles ständig in Bewegung. So sieht man Jungs und Mädchen mit noch vollen Akkus, die bei der Crossover-Indie-Tanz-Party von FM Belfast ausrasten, hört dem Berliner Apparat ein paar Minuten rastend bei seiner elektrifizierten Neuinterpretation von Shoegaze zu und beobachtet, wie The Drums bei ihrem ersten großen Hauptbühnen-Slot in Deutschland trotz einigermaßen engagiertem Auftritt nicht so recht zünden wollen. Die New Yorker sind die ersten, die zu spüren bekommen, dass das Melt! nicht mehr das Festival der Gitarren-Bands ist. Ganz anders ist es danach bei Robyn, die mit Band im Rücken zwar ziemlich synthetisch klingt, all ihre „Body Talk“-Hits aber leidenschaftlich vorturnt und als einer der Konsens-Acts des Melt! groß gefeiert wird.
Dass es mit Sam Beam und seiner Band Iron And Wine auf der Zeltbühne zeitgleich das komplette Gegenprogramm gibt, ist eine wunderbare Sache. Sein mit neunköpfiger Besetzung aufgeführter Folk-Rock ist mal poppiger, mal wie eine fiebrige Jam-Session. Dann jedoch grätschen die ersten, drückenden Bässe von Paul Kalkbrenner Iron And Wine unsanft um. „Des is Berlin Calling“, ruft ein Mädchen aus Sachsen wenig später ganz verzückt, als Kalkbrenner das peitschende „Altes Kamuffel“ von dem Film-Soundtrack spielt, mit dem dieser etwas unheimliche Hype um seiner Person begann. In seinem Set gönnt sich der Techno-Star ein paar Samples wie „Praise You“ von Fatboy Slim, aber auch einige Hänger, weil er viele seiner gedämpfteren Tracks ebenfalls ganz ausspielt.
Carl Craig und Radioslave spielen derweil auf der Big Wheel Stage ein trockenes Oldschool-Techno-Set mit ein paar Rave-Momenten, das im Abschluss nur noch von A.T.O.L. getoppt wird. Hinter dem Kürzel verbergen sich mit Modeselektor und den beiden Berghain-Residents Shed und Marcel Dettmann gleich vier der wichtigsten Protagonisten der Berliner Techno-Szene. Anders als die ausgetüffelten Tracks von Moderat (Modeselektor und Apparat) sind A.T.O.L. wohl eher ein reines Spaßprojekt, dass zwei Stunden lang knüppelharte Bassschablonen abfeuert, zwischen denen Modeselektor mit ihren Frickeleien herumtollen. A.T.O.L sehen heißt zugleich Boys Noize verpassen, von dem später aber unisono atemlos geschwärmt wird.
Die Sonne ist am Samstag morgen längst aufgegangen, da lädt der Hamburger Produzent Tensnake zur Disco-Sause. Zum Tanzflächenknaller „Coma Cat“ werden die letzten Kräfte mobilisiert, der Rausschmeißer ist mit dem Edit von Talk Talks „It’s My Life“ geradezu famos. Apropos Rausschmeißer: Wer nach Tensnake noch zu Gui Boratto marschiert, kann da auch noch zum Abschluss „Atomic Soda“ hören. Um 7 Uhr morgens ist dann auch auf der Big Wheel Stage Schluss. Zu diesem Zeitpunkt sind die letzten Raver so einfach zu konditionieren, dass sie dem LKW gen Ausgang folgen, auf dem wie schon im Vorjahr eine Band tollen perkussiven Samba-Techno spielt.
Auch auf dem Sleepless-Floor ist danach die Stimmung blendend, weil das Dresdner Kollektiv Uncanny Valley – gerade die Shooting-Stars der deutschen House-Szene – tolle Tracks auflegen. Überhaupt beruht der Erfolg des Melt! auch darauf, dass das Festival die wichtigsten Szenen für elektronische Musik im Land erfolgreich einbindet. So bespielt am frühen Samstag Abend die Dial-Familie aus Hamburg bei recht mäßiger Resonanz den Big Wheel Floor mit deepem House. Parallel teilen sich Christopher Rau, Dionne und Julius Steinhoff vom Hamburger Label Smallville die Plattenteller am Sleepless Floor, mit dem das Melt! seinem etwas großspurigen Motto „3 Tage wach“ (nach dem Kirmes-Track von Lützenkirchen) gerecht werden will.
Wer danach sehen will, wie es eigentlich um Liam Gallagher gerade seelisch so bestellt ist, wundert sich erst einmal über die wenigen Zuhörer vor der Hauptbühne. Die auf beeindruckende Weise gestemmte Festival-Tageszeitung wird am nächsten Tag gar vom Ende der Rockstars titeln. Tatsächlich wirken Beady Eye mit ihrem bräsigen Brit-Rock im Midtempo im Melt!-Kontext wie aus der Zeit gefallen, obwohl man der Band mit ihrem allürenlosen Auftritt gar keinen Vorwurf machen will. Beady Eye machen einfach nur ihr Ding. Einen großen Auflauf gibt es dagegen im Anschluss bei The Streets, die bei ihrer womöglich letzten Festival-Show in Deutschland eine von Mike Skinner großartig moderierte, Rap-Party mit Hitgarantie veranstalten. Als kleine Ehrerbietung startet auch DJ Koze sein Set mit The Streets, gönnt sich anfangs noch relativ viel künstlerische Freiheit, ehe er zur Peak-Time druckvollen Techno spielt und sich am Ende mit Hildegard Knef verabschiedet.
Kleiner Nachtrag: Das Revival-Konzert von DAF auf der Zeltbühne ist im übrigen gänzlich unpeinlich. Sänger Gabi Delgado kippt sich literweise Wasser über den Kopf, hetzt über die Bühne und schreit zu Schlagzeug und Synthie-Stechschritten die Parolen einer Jugend, die mit der Neuen Deutschen Welle leben musste: „Verschwende deine Jugend“ und „Der Mussolini“ spielen DAF gleich zu Beginn – kein Wunder, dass da ein Moshpit ausbricht. In den Morgenstunden wird vor allen Bühnen mächtig getanzt. Zu Digitalism und den Crystal Castles vor der Hauptbühne, bei Modeselektor an der Strandbühne, zum Banger-Sound von Busy P und Proxy vor der Gemini Stage. Nur bei Total Confusion mit der Kompakt-Posse Michael Mayer, Superpitcher, Tobias Thomas wird etwas müder geschunkelt, es ist eben bereits der zweite Tag auf den Beinen. Nach einem Schläfchen und Aufwärmübungen bei Gerd Janson auf dem Sleepless Floor, der „I Feel Love“ von Donna Summer und einen tollen Remix von Fleetwood Macs „Dreams“ auflegt, fängt es leider an zu regnen.
Als hätte er es heraufbeschworen, spielt Songwriter Jose Gonzalez zum Ende seines besinnlichen Konzerts auch seine wunderbare Akustik-Version von „Teardrop“, dem Klassiker von Massive Attack. Es ist eine Rast, die vor Pulp gut tut. Zuvor fallen allerdings am Radbagger die letzten Hemmungen. Passend zum düsteren Wetter lässt man sich dort vom Berghain-Sound von Ostgut Ton durchprügeln. Bei Ben Klock und Marcel Dettmann regnet es in Strömen, das schweißt die tanzende Menge umso mehr zusammen. Der Regen vermiest leider auch Pulp im Anschluss den ganz großen Headliner-Auftritt. Obwohl sich keine 5000 Leute mehr vor der Bühne verlieren, bekommen Pulp den letzten großen Verbrüderungsmoment zustande. Jarvis Cocker hüpft wie Äffchen über die Bühne, gibt den großen Entertainer und hat auch eine Band hinter sich, deren Best-Of-Set druckvoll und leidenschaftlich: „Do You Remember The First Time“ zu Beginn, „Disco 2000“ mit kollektiven Gehopse in der Mitte, „Common People“ als krönender Abschluss – Pulp retten den Rock auf einem Festival, dessen Transformation zum rastlosen Techno-Happening weitergehen wird. Wir sind gespannt.
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