Sarah Kuttner – Die Kolumne
Vor ein paar Tagen habe ich mein drittes graues Haar entdeckt. Der Tag war gelaufen, selbst Lieblingsbeschäftigungen wie das Lösen des ME-Rätsels konnten meine Stimmung nicht mehr hochpimpen. Die Entdeckung des ersten im letzten Oktober habe ich noch mit ironischem Hochmut betrachtet und im Kreise Interessierter breitgetreten. Beim zweiten war ich leicht angepißt, führte den Verfall aber auf eine fernsehprogrammbedingte Pigmentstörung zurück. Daß mir mit dem dritten eine verfrühte Steve-Martinisierung ins Haus steht, beunruhigt mich nachhaltig. Bislang konnte ich keinerlei Alterungserscheinungen an mir feststellen. Ich bin, obwohl ich die Duftkerze des Lebens an allen möglichen Enden abfackele, noch ziemlich faltenfrei und versprühe eine rüstige Aura: Ich kann schnell gehen, höre aufpeitschende Popmusik und bezeichne mich nach wie vor als „Mädchen“. Trotzdem weiß ich: Ab 25 fährt man körperlich Rolltreppe abwärts und sollte sich langsam auch mal mit dem Thema Erwachsenwerden beschäftigen. Als ich klein, äh. als ich noch ein Kind war, war ich sicher, daß ich nie hohe Schuhe tragen, rauchen und Sex haben würde – für mich damals drei der unangenehmsten Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens. Das habe ich so nicht aufrechterhalten können, wie einige andere Kinderspinnereien auch. Ein Erwachsensein im Bermudadreieck Nikotin-Stöckelschuhe-Extrempetting muß ich also auf jeden Fall schon mal anerkennen.
Schlimmer: Noch vor wenigen Monaten erschienen mir Sport und gesunde Ernährung als unlässige Anzeichen von Frühvergreisung. Freunden, die mir ein Date in der Dönerbude zugunsten eines Fitnesscenterbesuchs absagten, riet ich, sich gleich noch ’ne Phil-Collins-Best-Of mit beigelegter Heizdecke zu kaufen. Mittlerweile sammle ich selbst Bonuspunkte in sportlichen Abrichtungsstätten (allerdings spiele ich Badminton, auf diesen Unterschied lege ich Wert!], und in der Vollwertabteilung redet man mich beim Fachberatungsgespräch mit Vornamen an. Generell esse ich gerne gut. im Sinne von besser. Ich will Feld- statt Eisbergsalat, Carpaccio statt Spaghetti Carbonara. In Restaurants, die „Pizzeria“ heißen, geh ich nicht rein. Ebenso wie ich plötzlich Pettingpartner ablehne, die mir eine Matratze auf dem Boden als Bett verkaufen wollen, verkeimte Badezimmer haben und Kiffen und Saufen als Extremsport betreiben. Wie konnte es so weit kommen? Ich fange offenbar an, zu erkennen, daß das Heute eine tolle Sache ist, daß man dem Morgen aber auch nicht absprechen sollte, morgen ein Heute sein zu dürfen. D. h.: Ich werde erwachsen. Fuck. In letzter Zeit stört mich laute Musik beim Arbeiten. Ähnlich verhält es sich mit Dauerironie, schlechten Witzen, heifl gehandelten 80er-Retro-HypeBands aus New York und jungen Menschen im allgemeinen, was bei VIVA zu einsamen Kantinenaufenthalten führen kann. Hierzu paßt ein Online-Tests, demzufolge mein geistiges Alter 38 ist. Zwar sind mir mehrere 38jährige bekannt, die im selben Test auf ein geistiges Alter von 12 kamen (was auf erdrutschartige Generationsverschiebungen hindeutet], aber wer will sich selbst schon 50 vorausleben? Wenn das geistige Alter dem Lebensalter entsprechend voranschreitet, bin ich mit 38 innerlich 50 und muß eine Riesenparty organisieren, auf der nur Brotwasser und fair gehandelter Kaffee gereicht werden. Meine panische Frage lautet also: Bin ich schon Spießer oder nur Erwachsener? Vielleicht brauche ich ja nur ein Meet & Greet mit Pete Doherty oder anderen Ewig-Zwölfjährigen, und schon wird alles wieder gut? Vermutlich nicht. Jetzt muß ich leider aufhören – die Finger tun vom Schreiben weh. Vermutlich Gicht…