Schock Behandlung
Schock: Was am 16. Juni 1978 im Brüsseler Club „Ancienne Belgique“ geschieht, überfordert die stärksten Nerven-. Poli-zei, Randale, Tränengas – Suicide waren hier.
Acht Jahre zuvor: In einem staatlich unterstützten New Yorker Loft namens „The Project of Living Artists“, wo Maler, Performance-Artisten, Jazz-Musiker und andere Künstler 24 Stunden am Tag „any fuckin‘ thing they wanted“ (Alan Vega) tun oder auch nur mangels Wohnung Unterschlupf suchen, trafen sich der Free-Jazz-Musiker Martin Rev (bürgerlich Reverby) und der Bildhauer und Dichter Vega (bürgerlich Bermovitz). Beide lebten damals auf der Straße und hatten radikale Ansichten über moderne Musik, die sie nun gemeinsam umsetzten: alles spielen, was verboten ist, den Rock-Kadaver ausweiden und das Skelett mit Elektroschocks zum Tanz auf dem eigenen Grab bringen. „Es war hart, nichts zum Essen zu haben“, sagte Vega später. „Die Musik war wie eine religiöse Erfahrung für uns. Wir versuchten, die Armut, den Hunger niederzukämpfen, um zu überleben.“
Obwohl die USA damals Underground-Bands wie die Stooges, MC 5, Electric Eels, Velvet Underground beherbergten, kam Suicides Radikalität im Herbst 1970 absolut zu früh. Ihr erster richtiger Auftritt fand im Frühling 1971 in der OK Harris Gallery statt, unter dem Motto „A Punk Music Mass“. Die Zuhörer reagierten verstört, auch weil Rev nicht mehr trommelte, sondern nur noch Knöpfe drehte: „Drum-Maschinen „, sagte er später, „gab es auch bei Bar-Mitzvah-Feiern. Aber wie wir sie benutzten… „Wo ist das verdammte Schlagzeug, Mann?“, schrien die Leute. Und dann hatten wir auch keine Gitarre, das war damals wie eine Beleidigung.“ „Wir brachen den Status quo gleich vierfach“, meint Vega. „Der Name, die Duo-Besetzung, das Fehlen von Schlagzeug und Gitarre, und dann kam die Angst dazu, die wir live erzeugten. Wir schwammen definitiv gegen den Strom.“ Und wie – zu Revs monotonem Orgel-Gehämmer schlug Vega mit Fahrradketten um sich und johlte wie unter Strom, was auch den Korrespondenten der deutschen Zeitschrift POP überforderte, der 1973 nach einem Besuch im legendären Mercer Arts Center berichtete: „Ein bis zum Nabel make-upierter Typ, der mit Vorliebe über Tische und Stühle springt, unschuldige Zuschauer mit Magenstößen bedient oder versucht, sie in Raufereien zu verwickeln.“ Ab 1974 veränderte sich die Situation – für andere. Aus dem deprimierenden Muff der New Yorkker Szene sprossen im Windschatten der New York Dolls neue Bands: Ramones, Dictators, Patti Smith, Television, Talking Heads, Blondie und andere verwandelten die Stadt – oder Teile davon – in einen brodelnden Hexenkessel. Die meisten der Bands, die in Hilly Kristals Club CBGB’s gastierten, hatten bald einen Plattenvertrag, nur Suicide waren immer noch zu extrem. „In etwa:,Wir haben alle gesignt außer Suicide, aber die sind auch das Letzte‘, „erinnert sich Rev an die Reaktionen der A&R-Leute. „Cheap Trick spielten mal in unserem Vorprogramm „, erzählt Vega. „Viele Bands wurden Stars, nachdem sie uns supportet hatten. Das war wohl ein Test: Schaun wir mal, ob die Typen vor einem Suicide-Publikum bestehen.“
Ex-New York Dolls-Manager Marty Thau brachte Suicide schließlich bei seinem Label Red Star unter und produzierte 1977 mit Ramones-Produzent Craig Leon das Debütalbum. Obwohl Thau, Leon, Rev und Vega vom kommerziellen Potenzial der Minimal-Songs überzeugt waren, blieb die erhoffte Revolution aus; statt Geldbergen erntete man Verwirrung und Stapel von enthusiastischen Kritiken, die mal wieder niemand las.
Immerhin: 1978 dürfen Suicide nach Europa reisen. Als sie die Bühne des „Ancienne Belgique“ betreten, ahnt kaum einer, was nun kommt. Martin Revs monotone Speed-Beats und zerrende Heimorgel-Läufe knallen schon beim Opener „Ghost Rider“ so brutal auf die Trommelfelle, dass Alan Vegas gegrummelter Rudimentärgesang, seine hysterischen Schreie, Kiekser und Stöhnlaute schnell zum Ärgernis werden. Im Gegensatz zu heute, wo man sich in dem renovierten Club an der Bar kostenlos Ohrstöpsel aushändigen lassen kann, sind die 2.000 Zuhörer dem Lärmsturm schutzlos ausgesetzt; raus könnten sie – aber dann nicht mehr rein, „aus technischen Gründen“. Sie sind aber wegen des Haupt-Acts Elvis Costello gekommen. Ein unwilliger Buh-Chor, dann kommt „Rocket USA“, noch eine Stufe primitiver, böser, monotoner. Vega lässt sich hineingleiten in den Vulkan von Minimal-Krach, als wollte er den Weltuntergang synchronisieren, und diesmal wird der Unmut lauter: „Elvis! Elvis!“, fordern die Chöre, meinen Costello und wissen nicht, dass Presley Vegas Idol ist und sie ihn damit nur noch mehr anstacheln. Nach dem zickig-hysterischen „Dance“ wird das Buh-Geschrei so impertinent und ansteckend, dass das epische Loser-Höllen-Drama „Frankie Teardrop“ keine Chance mehr bekommt: Eine Zeile, dann ist das Mikro weg. Revs Synthesizer läuft weiter, wie ein elektrisches Schreckschuss-MG. Als er im Hagel von Stühlen, Flaschen und Unrat plötzlich abbricht (weil Rev keine Hand zum Spielen mehr frei hat), feiern die Leute die Stille wie das entscheidende Tor zum WM-Sieg Belgiens. Vega erhält das Mikro noch einmal zurück, darf ein paar weitere Zeilen stammeln – jetzt ohne instrumentale Begleitung -, kräht ein letztes „Shut the fuck up!“ und rettet sein Leben (mit gebrochenem Nasenbein).
Elvis Costello könnte danach leichtes Spiel haben, aber er ist nicht der Mann, der solche Situationen zu seinen Gunsten nutzt. Dreißig Minuten lang schlägt er dem Mob seinen Zorn um die Ohren, verschwindet dann grüß- und zugabenlos und lässt eine schäumende Menge zurück, die jetzt endgültig nicht mehr zu halten ist. Fliesen, Stangen und Bretter werden von Decke und Wänden gerissen und die komplette Einrichtung samt Bühne buchstäblich zu Klump geschlagen. Durch einen Hinterausgang entkommt die Suicide-Entourage, quetscht sich in einen gemieteten Sportwagen und flieht, während die Ordnungskräfte mit Schlagstöcken und TränengasKanistern anrücken. Stunden später, in einem verlassenen Bistro am Stadtrand, werden die Ereignisse rekapituliert, und als Howard Thompson von Suicides britischer Plattenfirma Bronze Records verkündet, dass er das Konzert auf Kassette mitgeschnitten hat, sind sich alle einig, dass die Aufnahme veröffentlicht werden muss. Sie wird als „23 Minutes Over Brüssels“ zum sinistren Klassiker, zum Dokument einer Konfrontation zwischen Morgen und Gestern.
Es war nicht das letzte Mal, Derartiges erlebten. Über einen Auftritt im Vorprogramm der Cars im Universal Amphiteater in Los Angeles erzählte Alan Vega später dem ehemaligen Sonic-Youth-Trommler Bob Bert: „Der Lärm von 15.000 Leuten war wie eine monströse Woge, die uns überschwemmte wie nichts, was man je gehört hat.“ Cars-Kopf Ric Ocasek revanchierte sich, indem er das (wesentlich zugänglichere) zweite Suicide-Album produzierte. Für einen Moment erwachte da sogar das Interesse der Großindustrie: Als das Album fertig war, versammelten sich diverse A&R-Figuren von Arista Records und der zufällig anwesende Bruce Springsteen zum Probehören. Springsteen war so beeindruckt, dass er Alan Vega vor der versammelten Industrie-Meute wortlos umarmte, mit Tränen in den Augen. Aus dem Deal wurde nichts.
In dem großen Aufbruch, der Ende der 70er die Pop -Welt erschütterte, waren Suicide, die bis heute als Solokünstler und sporadisch auch gemeinsam (zuletzt diesen Herbst auf „American Supreme ) aktiv sind, einsame Vorreiter – während Punk, New Wave und Power-Pop sich in Flächenbrände verwandelten, blieb ihr brisantes Erbe zunächst unangetastet. Erst viel später erkannten Acts wie Soft Cell, Chemical Brothers, The Orb, Depeche Mode, Human League, Sigue Sigue Sputnik, The Jesus & Mary Chain, Nine Inch Nails, Prodigy und die keimende Techno-Szene, welch ungeheures Potenzial in den extrem reduzierten Attacken auf praktisch jede Pop-Tradition lag. Die Wirkung Suicides aber blieb unerreicht; ob es ihren Epigonen gelungen ist, daraus Bleibendes zu schöpfen, oder ob dereinst Klassiker wie „Ghost Rider“ und „Rocket USA“ einsam über Wüsten der Vergessenheit ragen, werden wir erst in vielen Jahren wissen.