Schon ihr erstes Album machte sie zum Star. Doch der ganze Rummel schien Macy Gray zu nerven. Stress ist ihr zuwider. Auch ihre Songs entstehen völlig relaxt.
Am 30. April 1999 veranstaltete die Plauenfirma Epic in Hamburg einen Showcase. Die Journalistenschaft erhielt Einladungen, die Kampnagelhallen wurden mit rotem Samt und kristallenen Leuchtern dekoriert, es gab ein edles Büffet und Freigetränke satt – immer ein guier Weg, um Schreiberlinge milde zu stimmen. Das Ganze fand statt, um der deutschen Presse eine bis dahin völlig unbekannte Sängerin aus den USA schmackhaft zu machen. Die Dame hörte auf den Namen Macy Gray und kam – mit über anderthalbstündiger Verspätung – abends um elf endlich auf die Bühne. Sie wirkte mitgenommen, stützte sich bisweilen auf den Mikrofonständer, trug exzentrische Klamotten und sang mit heiserer Raspelstimme, als habe Joe Cocker Geschlechtsumwandlung und Verjüngungskur zusammengelegt. Da spielten auch Macys augenscheinliche Fitnessprobleme keine Rolle mehr, die Journaille war beeindruckt. Ein Umstand, der Folgen haben sollte. Mit wachsendem Erfolg wurde Macy Gray mehr und mehr zur Diva. Ein Fan beklagte sich im Internet: „Als ich im Plattenladen jobbte, habe ich über 300 Macy-Gray-CDs verkauft. Und als Dank dafür werde ich jetzt total verarscht. Ich hatte einen Backstage-Pass für eine Macy-Show. Sie jedoch ließ mich und eine Reihe anderer Fans zwei Stunden warten und sagte dann ganz lapidar, dass sie zu müde sei und aus diesem Grund keine Fans sehen und auch keine Autogramme geben wolle. Sie hat uns einfach ignoriert! Diese blöde Schlampe!“ Mit seiner Meinung stand der junge Mann nicht allein da, denn auch andere Anhänger beschwerten sich über Macys arrogantes Auftreten. Aber eine echte Diva ist eben keine pieksaubere All American Britney zum Anfassen und Draufsabbern.
Für ein Gespräch mit Macy Gray ließen diese Episoden jedoch Böses ahnen. Zu Erwarten stand ein Interview mit einer gelangweilten, wortkargen Zicke. Noch dazu bat die reisemüde 31-jährige aus Zeitgründen alle in Frage kommenden Reporter für die Interviews zum neuen Album („The ID“) am selben Tag ins Londoner Great Eastern Hotel. Alles in allem keine gute Ausgangsposition. Doch dann die Überraschung: Die Stimmung ist erstaunlich gut. Macy hat gute Laune, gibt sich alle Mühe mit den Reportern. Sie trägt Sonnenbrille sowie ein Tigertop zu einem schwarzen Rock und roten Turnschuhen. Macy sitzt auf einer Samtcouch, hat wegen der Klimaanlage eine Kunstfaserdecke über die Beine gebreitet und wippt während des gesamten Gesprächs vor und zurück wie ein verunsichertes Kind. Sie spricht leise, heiser und undeutlich. Wenn sie nachdenkt, rauft sie sich den frisch gestutzten Afro, wippt nach vorn, schnappt sich ein Glas vom Couchtisch, nimmt einen Schluck Red Bull mit Rum (nicht ohne – dank einer 50/50-Mischung) und zerkaut im Anschluss daran krachend einen Eiswürfel. Es scheint, als ob dieses Ritual ihr die nötige Ruhe für das Gespräch vermittelt.
Nicht einmal durch eine provokante Einstiegsfrage lässt sich Macy Gray aus der Balance bringen. Denn als sie sich vorstellen soll, wie sie gerne sterben möchte, schweigt sie verblüfft einen Moment, sagt jedoch bereits kurze Zeit später mit einem verträumten Gesichtsausdruck: „Bequem. Ich möchte gut gelaunt sterben. Ein Herzschlag beim Sex wäre toll. Oder ich möchte von einer Klippe runterfliegen. Umgeben von blauem Himmel! Dort wäre ich glücklich. Dieses Bild passt zu Frau Grays Aussage, dass sie eine große Tagträumerin sei. Vielleicht sogar ein wenig zu sehr: „Ich hab zwar noch viel vor, aber ich würde wirklich gern fliegen, bevor ich sterbe. Ich finde Vögel toll, ihre Freiheit. Vielleicht springe ich wirklich von einer Klippe.“ Das wäre nicht gerade produktiv. Denn: Was würde aus all den noch nicht zu Papier gebrachten Songideen, die – ebenso wie Tagträume – in Macys Kopf herumschwirren?
Darum sei der Gedanke an den Tod erst einmal verdrängt. Zum Sterben ist schließlich noch Zeit. Zeit, die seit Macys Überraschungserfolg angefüllt ist mit Reisen, Studioaufenthalten, Auftritten. „Ich habe schrecklich viele Termine“, stöhnt sie, „und wenn ich wirklich einmal frei hätte, dann würde ich einfach den ganzen Tag im Bett liegen und TV glotzen. Ich würde mir das Essen liefern lassen und den ganzen Tag lang Malibu-Rum mit Red Bull trinken. Und abends würde ich wahrscheinlich eine Party geben, einfach mal alle meine Freunde anrufen und einladen.“
So erschöpft sie auch von dem Trubel rund um ihre Person sein mag – eines hat Macy nicht verlernt: das Schreiben von gefühlsbetonten, ehrlichen Texten. Sicherlich, ihre Lyrics wirken streckenweise naiv, dennoch sind sie überraschend präzise und energiegeladen. Von „Everytime we kiss you bring out the woman in me/everytime you holler out my narae you set me free“ („Sex-O-Matic Venus Freak“) über „In my last years with him there where bruises/on my face (…) I still light up like a candle burnin‘ when he calls me up (…) We are going down/cuz you’re always getting high/and your crumbs of lovin/no longer get me by“ („Still“) bis zu „You/Tell me that you love me if it’s true/why am I runnin‘ from you and who/are these bitches on my answering machine“ („Boo“).
All diese Oden an die Liebe erreichen auch in Deutschland ein erfreulich großes Publikum. So verkaufte sich Macy Grays Debütalbum „On How Life Is“ hierzulande etwa 250.000 Mal. Weltweit wurden stolze sieben Millionen Exemplare der Scheibe abgesetzt, und Macy kassierte einen Grammy als beste Sängerin – nur drei Jahre, nachdem sie bei der Verleihung der begehrten Trophäen als Hostess gejobbt hatte. Angesichts der Tatsache, dass „On How Life 1s“ das Low-Budget-Projekt eines totalen Newcomers war, erscheint der Erfolg schlicht sensationell. Allerdings hat der schnelle Ruhm auch Nachteile: „Mein Freund und ich haben uns getrennt, und es ist sehr schwer für mich, jemand anderen kennen zu lernen“, erzählt Miss Cray, „die meisten Männer kommen auf mich zu und sagen, ,Hey, Macy‘, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Ein einfaches ‚Hallo‘ wäre viel neuer. Und nicht zu vergessen: ein Lächeln!“
Müsste möglich sein. Umso mehr, weil sich die Gelegenheit dazu durchaus bietet. Denn Macy Gray ist alles andere als menschenscheu. Während ihrer Tourneen bzw. Interviewreisen geht sie allabendlich aus, besucht die Clubs der jeweiligen Stadt, tanzt bis zum frühen Morgen und holt sich dabei Inspirationen: „Ich habe auf den Reisen sehr viel gelernt. Das hört man deutlich, zum Beispiel bei ‚Oblivion‘, ‚Sexual Revolution‘ oder auch ‚Psychopath‘. Die Menschen in anderen Ländern haben ganz andere Interessen, setzen ganz andere Prioritäten. Aber jeder hat ein ES, jeder hat irgendetwas in sich, was ganz automatisch abläuft, lind nach dem Showcase in Hamburg damals sind wir auf die Reeperbahn gefahren. Dieses Erlebnis hatte einen riesigen Einfluss auf die neue Platte. Diese ganzen kleinen Straßen da, und jede Menge Clubs, auch Stripclubs. Und überall lief diese Musik, ducku-dung, ducku-dung, ducku-dung! So was gibt es in Los Angeles nicht. Das hat mir an Deutschland wirklich gut gefallen, dieses irre Nachtleben! Wir waren auch in irgendeiner kleineren Stadt, irgendetwas mit O, und da war eine Straße voller Clubs, da bin ich Stunden lang von einem zum anderen gezogen. Ich hab genau aufgepasst, worauf die Leute am meisten abgefahren sind. Man muss die Menschen beobachten, auf ihre Reaktionen achten, dann bekommt man ein Gefühl für populäre Musik!“
Den Titel für ihr neues Album fand Macy Gray ebenfalls hierzulande: „Wir waren in Deutschland unterwegs, und ich hatte Spaß mit einem meiner Musiker. Plötzlich sah er mich an und sagte: ,Macy, du bist pures ID‘. So kam der Titel für die neue Platte zu Stande.“ Ebenso spontan wie der Albumname (wofür immer er am Ende stehen mag) entstanden auch die Songs. „Die Stücke auf der Platte sind sehr ungefiltert, sehr instinktiv. Da ist nichts aufgesetzt oder konstruiert, weder Text noch Musik. Meine Songs sind sehr, sagen wir, masturbativ. Ich bin ganz allein im Studio und singe einfach das, was mir gerade einfällt. Ich will einfach bloß Spaß haben, und wenn der Text gut klingt, bin ich zufrieden mit ihm. Nur einen Song habe ich mit einem klaren Ziel geschrieben, extra für meine Fans: .Psychopath‘. Ich wollte ein überraschendes Album machen, und nicht etwa meine erste Platte wiederholen. Und: Ich gehe nicht ins Studio, um irgendeine Message zu verkünden.“
Diese lockere Einstellung hat Macy davor bewahrt, sich zu sehr unter Druck setzen zu lassen. Denn obwohl die Sängerin zugibt, dass sie vor der Arbeit an „The ID“ „mächtig Schiss hatte“, betont sie immer wieder: „Ich habe mir keinen Stress gemacht. Es besteht ein riesiger Unterschied darin, ob man sich vor etwas fürchtet, oder ob man sich in Panik versetzen lässt. Wenn man vor irgendwas Bammel hat, fängt man eben einfach an, und dann geht die Angst schon irgendwann weg. Wenn man sich stressen lässt, ist der ganze Tag im Eimer.“ Vielleicht war diese Einstellung auch Macys Geheimrezept für den heutigen Interviewtag. Oder zumindest eines der Rezepte. Denn eine andere Möglichkeit ist das Erzeugen von Vorfreude. Auch diesbezüglich scheint Miss Gray sich auszukennen: „Ich muss noch bis neun Uhr durchhalten, also noch drei Interviews geben. Und wenn alles glatt geht, dann kaufe ich mir irgendwas ganz Tolles!“
www.macygray.com