Schwacher Start


Nachdem das Jahrhundert des Kinos fulminant zu Ende gegangen war, tat sich im neuen Millennium erst mal wenig. In Hollywood regierte das Mittelmaß.

Man könnte es kurz machen und sich die langwierige Analyse ersparen: Das Filmjahr 2000 war ein besch…eidenes. Die Gründe? Logisch, am schwersten wiegt, dass die Filme durch die Bank schlecht waren. So dünn sind die Perlen in diesem Jahr gesät, dass selbst kurz vor Jahresende noch kein einziger todsicherer Oscar-Kandidat auszumachen ist. Noch besser: Eine Reihe namhafter US-Kritiker hat in Ermangelung an nennbaren Kandidaten bereits angekündigt, seine Jahres-Top-Ten auf sechs Titel einzudampfen. Und auch bei der Erstellung der ME-Top-Ten hätte es ernsthafte Schwierigkeiten gegeben, wenn einzig Produktionen des Jahres 2000 in Betracht gekommen wären. Nicht weniger als sieben Titel der Jahrescharts (inklusive der vier Topfilme) sind bereits 1999 in den USA im Kino angelaufen, kamen eben erst 2000 bei uns auf die Leinwand.

Gleichzeitig gab es hinter den Kulissen genug andere Dinge, die die Player auf beiden Seiten des Atlantiks beschäftigten: Börsengänge von Filmfirmen, Fusionen der Konzerne, der bevorstehende Schauspielerstreik, die von Washington im Zuge des Wahlkampfes entfachte Diskussion über die vermeintliche Einbeziehung von Minderjährigen in das Marketing von Filmen mit Gewalt- und Sexinhalt, das wenig überzeugende Abschneiden der Filme am Boxoffice (M:1-2 kam als einziger Film knapp über 200 Mio. Dollar und blieb damit mehr als 200 Mio. Dollar hinter dem letztjährigen Topfilm, Star Wars: Episode I, zurück). Womit sich der Kreis wieder schließt, denn die Umsatzzahlen hängen zweifellos unmittelbar mit der grottigen Qualität der Filme des Jahrgangs 2000 zusammen.

Vielleicht fällt die Mittelmäßigkeit des (weltweiten) Outputs auch deshalb so auf, weil man sich noch 1999 über ein Jahr gefreut hatte, in dem offensichtlich ein neues Kapitel in der Geschichte des Films aufgeschlagen wurde. Man erinnere sich: Matrix und Fight Club veränderten das Gesicht des Mainstreamfilms nachhaltig, die Dogma-Idee wider die Tyrannei der Perfektion sprach sich herum, Blair Witch Project bewies, dass Innovation keine Kostenfrage ist. The Sixth Sense lotete die Grenzen des Erzählkinos neu aus, und American Beauty sowie Magnolia (beide sind in der ME-Top-Ten vertreten) vereinten den Tiefgang des europäischen Kinos mit der Energie und Virtuosität Hollywoods. „1999 – Das Jahr, das den Film veränderte“ titelte das Unterhaltungsmagazin „Entertainment Weekly“ damals.

„2000- Das Jahr, das den Film vergaß“ möchte man dem nur zwölf Monate später entgegensetzen. Die Zukunft muss doch noch ein bisschen warten. Befreit vom Ballast der Millenniumsangst ließ man sich in Hollywood von der Happy-Go-Lucky-Attitüde der Poplandschaft anstecken: Backstreet Boys, Britney Spears und die Plastikkohorten sollten Vorbild stehen beim Versuch, es einem Kleinster-gemeinsamer-Nenner-Publikum mit bemüht konzipierter Plastikunterhaltung recht zu machen. Doch die Gute-Laune-Doktrin kam nicht an, die Geschmacksarbeiter haben sich vergaloppiert. Gehörig. Man nehme nur das amerikanische Sommerprogramm: Wenn gut und clever gemachte, aber inhaltlich doch eher nährwertfreie Popcornware wie M:1-2, Schatten der Wahrheit oder Shaft schon den Gipfel des Filmschaffens darstellen, dann hat man ein Problem. Klar, das ist allemal besser als die idiotische Einfalt von Der Patriot, der lobotomisierte Poserquatsch Nur noch 60 Sekunden, die simplizistische Schwerfälligkeit von Dar Sturm oder jedes beliebige Beispiel für Bad-Taste-Komödien, die im Dutzend offenbar noch billiger herzustellen sind (siehe Kasten). Der Tiefpunkt ist damit noch nicht erreicht: Angesichts des nahenden Wahlkampfs und offenbar auch als Reaktion auf Littleton etc. zieht sich das Thema „Familie als höchstes Gut“ nachgerade wie ein roter Faden durch die 2000er-Produktionen Hollywoods. Ganz als wären die 80er Jahre auch im amerikanischen Film wieder von den Toten auferstanden. Gratulation an den, der sich Filme wie Frequency, The Kid oder Family Man ansehen kann, ohne würgen zu müssen. Problem ist, dass die Independents den Studio-Rechtsruck hin zu sauberem Family Entertainment nichts entgegen zu setzen hatten. Auch die vermeintliche künstlerische Speerspitze hatte – Ausnahmen wie O Brother Where Art Thou?, Darren Aronofskys fiebriger Requiem For A Dream oder Neil LaButes treffsicherer Nurse Betty bestätigen die Regel zu Beginn des neuen Jahrtausends Leerlauf. Vielleicht nahm man sich ja auch nur eine Auszeit, weil man des ewigen Kämpfens um Finanzen und inhaltliche Freiheiten überdrüssig war. Sicher ist es frustrierend mitanzusehen, wenn Regisseure wie Wolfgang Petersen ihr hart erkämpftes Privileg des Director’s Cut nutzen, um Filme zu machen, die zahmer und zahnloser sind als es ein Studio jemals anordnen könnte. Man freut sich regelrecht über einen Drei Engel für Charlie, der zwar nichts zu erzählen hat, aber wenigstens unbeschwert Spaß macht und nicht aussieht, als hätten ihn zehn 50-Jährige am Reißbrett entworfen (vermutlich waren es in diesem Fall zehn 30-Jährige).

Ob es nun also daran lag, dass man viel Zeit zur Beschäftigung mit anderen Dingen hatte, weil die Filme so schwach waren, oder umgekehrt: Fest steht, dass Hollywood in diesem Jahr primär andere Dinge am Herzen lagen. Die Präsidentschaftskandidaten bereiteten Kopfzerbrechen, weil sie die Unterhaltungsindustrie als bequemen Prügelknaben für ihren Wahlkampf missbrauchten: Angeblich sollten die Studios die Höhe besessen haben, ihre mit R-Rating (Freigabe ab 17 Jahren) versehenen Filme gezielt auch bei unter 17-Jährigen zu bewerben. Das ist natürlich allein deshalb Quatsch, weil unter 17-Jährige in Filme mit R-Rating gehen dürfen, wenn sie sich in Begleitung eines Erwachsenen befinden. Egal. Es war Wahlkampfthema. Die Aufregung war groß. Es gab Anhörungen. Und mit Ausnahme von Vince McMahon, dem Chef der Wrestling-Organisation WWF, kniffen alle artig den Schwanz ein und gelobten Besserung (in der Hoffnung, das Thema nach der Wahl wieder unter den Teppich zu kehren).

Als größeres Problem entpuppte sich alsbald der im Sommer 2001 anstehende Generalstreik der Autoren- und Schauspielergewerkschaften, die neue Entlohnungsmodelle für Filmauswertungen in den Neuen Medien fordern. Sollten bis zu diesem Zeitpunkt keine Einigungen erzielt werden, steht Hollywood effektiv still: Kein Schauspieler darf in der Zeit des Streiks vor eine Kamera treten. Missachtung bedeutet den Ausschluss aus der Gewerkschaft, was dem Karriereende gleichkommen würde. Die Drohung wird ernst genommen: Sämtliche Studios haben ihre Produktion massiv angekurbelt und ab Sommer begonnen, Filme auf Halde zu drehen, um nicht auf einmal während des Streiks ohne Produkt dazustehen. Die emsige Umtriebigkeit trieb bizarre Blüten: Auf Schauspieler der A-Liste wurde regelrecht Jagd gemacht, und selbst weniger populäre Stars konnten angesichts der veränderten Angebots- und Nachfragelage plötzlich ganz erkleckliche Gagenforderungen stellen.

Eigentlich stellt der Streik für das Weltkino eine echte Chance dar: Wenn alle Quellen versiegt sind, wird Hollywood nichts mehr anderes übrig bleiben, als auf nichtamerikanische Ware zurückzugreifen, wenn man nicht gerade die x-te Wiederholung eines US-Klassikers im Kino sehen will. Fragt sich nur, ob den Amerikanern gefallen wird, was sie zu sehen bekommen. Denn auch in Europa herrscht Ebbe. Großbritannien schrieb wenigstens mit dem charmanten Billy Elliot und der pubertären Gangsterposse Snatch (von „Mr. Madonna“ Guy Ritchie) zwei Erfolgsgeschichten. Frankreich entdeckte in Filmen wie Romance oder Baise-Moi harte Pornographie als dramatisches Stilmittel und hatte sonst wenig zu bieten (Ausnahme: der Serienkillerthriller Crimson Rivers). Und Deutschland? Ja, Deutschland überflutete die Kinos mit einem nicht enden wollenden Strom mittelmäßigen Mülls, der vom Publikum verständlicherweise ignoriert wurde. Immerhin gilt es für die Produzenten, ihre Aktionäre mit immer neuen Aktivitätsmeldungen milde zu stimmen. Vorerst ist noch egal, was dabei herauskommt. Aber es sollte nicht verwundern, wenn schon im nächsten Jahr erste AGs wieder von der Bildfläche abtreten müssten. Aus dem Gros der teilweise wirklich unanschaubaren deutschen Filme ragte nur ganz wenig heraus. Hans-Christian Schmids einfühlsamer und witziger Crazy natürlich und Fatih Akins gut gelaunte Reiseromanze Im Juli. Manchmal brillant, manchmal bleischwer war Tom Tykwers Der Krieger und die Kaiserin. Erwähnenswert wären höchstens noch Der Himmel kann warten, Kanak Attack und Schule. Aber dann? Mehr dazu im nächsten Jahresrapport. Bis dahin nicht den Mut verlieren: Es kann nur besser werden!