Schwarze Stimme in weißer Frau – eine Laune der Natur hat aus Anastacia einen Star gemacht. Bodenständige Werte sollen der Sängerin diesen Status erhalten.
Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht.“ Diese Frage versuchte der deutsche Denker E.A.Rauter bereits in einer Zeit zu ergründen, als Anastacia Newkirk nicht mal ihren ersten Schrei getan hatte. Und das war vor immerhin schon 29 Jahren. Ja, wie denn wohl in Zeiten des medialen Overkills, der Verfügbarkeit (fast) jeder Information? Man erfährt das eine oder andere über eine bis dahin fremde Person oder einen wenig bekannten Sachverhalt, und wenn einem die Informationen zusagen oder es an dem Sachverhalt nach den Maßstäben eines normal denkenden Geschöpfes nichts auszusetzen gibt, dann entsteht eine Meinung. Und zwar dort, wo sie sich festsetzt: im Kopf.
Mit einar ebensolchen Meinung besuchte ich Anastacia in den New Yorker Sony Studios. Anastacia? Für die Unwissenden: Spätestens seit den Hits „I’m Outta Love“ oder „Not That Kind“ und ein paar Millionen verkauften Alben ist Anastacia Newkirk eine feste Größe in dem riesigen Business mit dem nicht mehr ganz so schnell rollenden Rubel. Und nun sitzen wir hier in einem der kleineren Sony-Studios, das zwar mit Technik nur so voll gestopft ist, dessen gedämpftes Licht aber eine beinahe schon gemütliche Atmosphäre aufkommen lässt. Ja, und genau hier, an dieser Stelle, schießt mir wieder der klassische Rauter-Satz durchs Him: Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht – oft, so viel scheint sicher, unter äußerst zweifelhaften Bedingungen.
Okay, anders als viele andere im Music Business kann Anastacia singen und hat auch noch tänzerisches Talent. Bloß, warum sitzt mir dann hier in Manhattan keine Diva gegenüber? Denn diese Meinung zu Anastacia war in meinem Kopf entstanden. Und warum entpuppt sich die Sängerin und Songschreiberin als das, was man gemeinhin als völlig normale Frau bezeichnet? Das bisschen frisch aufgetragene Make-up der eigens engagierten Visagistin lassen wir mal außen vor. So unkompliziert gibt sich normalerweise kein Popstar, der schon vor 40.000 Zuschauern mit Sir Elton John auf der Bühne des weltberühmten Madison Square Garden gestanden hat, keine Künstlerin, die Michael Jackson in einem halbstündigen Telefongespräch mal eben für sein eigenes Plattenlabel (MJJ) anheuern wollte.
„Was erwartest du? , fragt Anastacia freundlich (sofern das ihre kehlige Stimme erlaubt) und lässt dabei doch jene Selbstsicherheit durchblicken, die von reichlich Erfahrung zeugt: „Ich habe in diesem Geschäft wirklich alles probiert, um mit meiner Musik Erfolg zu haben. Zehn Jahre war ich auf Ochsentour durch die Plattenfirmen. Doch niemand, der etwas zu entscheiden hatte, konnte was mit meiner Musik anfangen. Da kamen dann schon mal Kommentare wie dieser: ‚Oh, prima Stimme. Aber was zum Teufel können wir mit ihr anfangen? Für eine Weiße singt sie zu schwarz, und für eine Schwarze klingt sie zu weiß.'“ Heute hat Anastacia für derlei Kuriositäten nur noch Spott übrig. Damals, als Kellnerin, als sie für ein fehlerhaft platziertes Salatblatt von einem besonders vornehmen Gast vor versammelter Mannschaft zur Schnecke gemacht wurde, fehlte ihr für wenig erfreuliche Vorkommnisse dieser Art noch jeglicher Humor.
Wie viele Show-Biz-Kids ist auch Anastacia ein Kind getrennt lebender Eltern. Als Tochter einer Musical-Darstellerin und eines Cabaret-Sängers wurde sie 1972 in Chicago geboren. Als sie drei war, gingen ihre Eltern auseinander. Mit 13 dann zog Anastacia mit Mutter, Schwester und Bruder nach New York (und im Big Apple lebt sie auch heute wieder). Als Anastacia 14 war, wurde sie von ihrer Mutter in Manhattan’s Professional Children’s School angemeldet. Doch die Ausbildung scheint der angehenden Künstlerin zu wenig praxisbezogen. Mit 18 knüpft Anastacia Kontakt zu MTV. Sie erhält die Chance vorzutanzen und ist später prompt in zwei Videos von Salt-N-Pepa zu sehen. „Damals dachte ich schon, ich hätte es so gut wie geschafft“, erinnert Anastacia sich heute lachend, „aber das sollte ein Irrtum sein.“
1993 verschlägt es die Sängerin nach Los Angeles, wo sie sich mit Gelegenheitsjobs mehr recht als schlecht über Wasser halten kann. Erst als Lisa Braude, eine ehemalige Rechtsanwältin, sich um die Belange von Anastacia zu kümmern beginnt, wendet sich das Blatt. Braude bringt ihren Schützling in einer MTV-Nachwuchs-Show mit dem viel versprechenden Namen „The Cut“ unter. Nachdem diese Hürde genommen ist, scheint Anastacias Weg für eine Karriere im Musikbusiness endgültig geebnet. Diejenigen, die Jahre zuvor noch dankend abgewunken hatten, tragen der stimmgewaltigen Lady mit den 50 bis 100 Brillen („Ohne die Dinger bin ich blind wie eine Fledermaus“) nun die Vertragsangebote höchstselbst ins Haus. Das Rennen macht schließlich die renommierte Plattenfirma Epic. Betrachtet man die bisherige Erfolgsbilanz von Anastacia und – wie die Sängerin selbst einräumt – ihrer Managerin, erwies Epic sich nicht als schlechte Wahl. Millionen verkaufte CDs und zahlreiche Auszeichnungen, darunter auch ein Echo-Award, sowie zahlreiche Gold- und Platinplatten sprechen eine deutliche Sprache. Jetzt genießt die Sängerin den hart erarbeiteten Ruhm und glaubt auch das Rezept zu kennen, wie sie den lang erträumten Status bewahrt – mit Bodenhaftung nämlich: „Ich habe ja wirklich alles versucht: mein Äußeres verändert, meiner Stimme eine andere Farbe gegeben, den Sound meiner Musik modifiziert – aber nichts hat geholfen. Also dürfte ziemlich klar sein, dass ich jetzt in gewisser Weise stolz bin, es trotzdem geschafft zu haben. Und das, obwohl ich letztlich nur ich selbst geblieben bin. Man muss – auch oder gerade im Erfolgsfall – so normal wie möglich bleiben. Erfolg ist ja nicht immer von Dauer. Und niemand weiß besser als ich, wie es sich anfühlt, ziemlich weit unten zu sein und von allen abgelehnt zu werden. Deshalb: lieber mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben.“
Klare Worte findet Anastacia auch, wenn es darum geht, größtmöglichen Einfluss auf die eigene Arbeit zu nehmen: „Wenn du wirklich zeigen willst, was in dir steckt, solltest du immer auch an eigenen Songs arbeiten und zusehen, dass sie den Weg auf deine Platten finden.“ Für die blonde Rhythm’n‘ Blues-Lady offenbar kein Problem. Nicht ohne Stolz weist sie daraufhin, dass sie an elf der zwölf Songs auf dem neuen Album „Freak Of Nature“ (Veröffentlichung hierzulande: 26. November) als Koproduzentin und Autorin maßgeblich beteiligt war. Schon jetzt deuten erste Anzeichen daraufhin, dass „Paid My Dues“, die erste Single aus dem neuen Werk, an die großen Erfolge aus der Vergangenheit anknüpfen kann.
Doch die zierliche, gerade mal 1,60 große Sängerin, die hier in Manhattan in Shirt und abgewetzten Jeans mit Route-66-Gürtelschnalle vor mir sitzt, scheint das alles nicht aus der Ruhe zu bringen. Wohl auch, weil vor vielen Jahren mal eine Meinung in ihrem Kopf entstanden ist: dass man es tatsächlich schaffen kann, wenn man nur hart genug daran arbeitet. Aber ja doch, auch so kann eine Meinung in einem Kopf entstehen.
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