Scorpions
Halbzeit. Das Zwischenergebnis läßt auch den letzten Zweifler verstummen: Bislang zwei Millionen verkaufter Tickets auf der laufenden Welt-Tournee; allein zwei Millionen Amerikaner, die für LOVE AT FIRST STING ihre Dollars auf die Theke blätterten. Die wilden Buben aus Hannover spielen jenseits des Großen Teiches endgültig in der obersten Spielklasse. Andreas Kraatz konnte beobachten, wie die Bad Boys drüben drastisch aufdrehten.
Auch Rockmusiker leben gefährlich. Ein Schritt zu viel, ein Augenblick zu spät reagiert – und schon ist es vorbei mit der Herrlichkeit. Man geht zu Boden, wie vom Blitz getroffen. Das Instrument des Nachbarn hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet; Narben sind die unliebsame Folge.
Gitarrist Rudolf Schenker jedenfalls kann ein Lied davon singen; er hat die bittere Pille mehr als einmal schlucken dürfen und dennoch seinen Humor nicht verloren. „Mein Kopf ist die reinste Landkarte: Diese Verletzung (zeigt die Stelle) stammt aus Washington, die aus Las Vegas, die habe ich mir in Fukojoka eingehandelt und die in Frankfurt“, erklärt er lächelnd dem erstaunten DJ von 98-Rock CHOM FM, der Radiostation in Montreal.
Man sollte meinen, Rudolf habe die Branche gewechselt und sei Spezialist für plastische Chirurgie, so präzise und detailliert sind seine Angaben über Ort und Grad der jeweiligen Verletzung.
Der DJ schaut noch ungläubiger drein, als ihm Sänger Klaus Meine eine andere Anekdote serviert. „Unser Tourmanager hat uns Vorjahren einmal geraten, Ampeln auf die Bühne zu stellen; andernfalls bekäme die Ambulanz zu viel zu tun.“
Auf Ampeln hat man verzichtet und den Bühnenverkehr stattdessen intern geregelt. Trotzdem gab es in all den Jahren reichlich Verletzte; das Band-Lazarett konnte sich über Mangel an Arbeit nicht beklagen.
Eines Tages erwischte es Francis Buchholz, der trotz Warnung genau in Meines Mikrofonwirbel geriet. Dafür revanchierte sich der kurzsichtige Bassist gleich am nächsten Abend auf Rudolfs Hinterkopf, mit einem schmerzhaften Schlag seines Instruments.
Doch – wie meist in solchen Fällen – sagten sich die Scorpions: „The show must go on“. Oder um Rudolfs Lieblingssatz zu zitieren: „Das einzige Abenteuer in unserer heutigen Zeit besteht darin, Rockmusiker zu sein. „
Abenteuer hatte die Band auf ihrer diesjährigen World-Tour, der ersten als Headliner in Amerika und Kanada, einige zu bestehen. In Japan etwa, wo man von Anfang August an mehrere Open airs spielte, wurden alle von einem mittleren Erbeben überrascht. Auch in Alaskas Hauptstadt Anchorage mußte man, nur zwei Tage vor meiner Ankunft in Kanada, deswegen bange Minuten verbringen. Bis dahin allerdings hatten sich derlei unangenehme Erschütterungen in Grenzen gehalten.
Der Auftakt zur längsten und laut „Billboard“ erfolgreichsten und (mit 180000 Dollar Kosten pro Woche) aufwendigsten Tournee, die je eine deutsche Rock-Band unternommen hat, liegt bereits etliche Zeit zurück. Ende Januar startete der Hardrock-Convoy aus Germany im englischen Birmingham, nahm darauf Frankreich und Paris im Sturm und landete schließlich in den Staaten.
Wobei man so ziemlich jeden Zipfel und Winkel des riesigen Landes bereiste und ganz nebenbei noch neue Hallenrekorde aufstellte. Ins berühmte Los Angeles Forum kamen allein an zwei Abenden jeweils 22000 Zuschauer und in Chicago zu drei Konzerten jeweils 20000 – Zahlen, die zeigen, in welcher Gewichtsklasse sie mittlerweile kämpfen.
Dennoch stuft Klaus die Erfolge an der Ostküste als die eigentliche Überraschung ein. „An der Ostküste sind wir eigentlich noch immer auf dem Level der Aufbauarbeit. Deshalb war es für uns ein tolles Gefühl, diesmal den Madison Square Garden in New York auszuverkaufen. In Washington zum Beispiel war das Konzert bereits zwei Tage nach Vorverkaufsbeginn mit 18000 Tickets restlos ausverkauft, so daß wir einen zweiten Gig angehängt haben und nächste Woche noch einmal weitere zweigeben werden, die, soweit ich weiß, beide ebenfalls schon ausverkauft sind.“
Die Scorpions können mit Recht zufrieden sein – mehr als das, sie können stolz sein, auch im Süden der USA den Durchbruch geschafft zu haben. In Georgia, Carolina und anderen Orten, in denen, so Klaus, „die meisten Rockbands sterben, weil keine Leute kommen und andere Musikrichtungen in sind“ bot, sich meist das gleiche Bild: Sold out, volle Häuser, volle Kassen. Anchorage im hohen Norden, „am Arsch der Welt“, wie Rudolf meint, bis Puerto Rico im tiefen Süden bescherten den Fabulous Fife Tour der Superlative. Am Ende, nach neun Monaten on the road, im Dezember werden rund zwei Millionen Zuschauer dieses Spektakel erlebt haben.
Und Rudolf wird sich in seiner Ansicht bestätigt wissen: „Ich war früher mal Pfadfinder und bin es heute noch“, erklärt er schmunzelnd. „Das genau ist das Leben, mal in Achorage zu spielen und dann wieder in Peurto Rico, weil wir Musiker und Pfadfinder sind und weil wir das Abenteuer lieben.“
Wo immer die Scorpions auftauchen, stehen Presse, Funk und Fernsehen Gewehr bei Fuß. So ist es in Toronto, in Quebec drei Tage später und anschließend in Montreal. An allen Tagen, die ich auf der Pirsch bin, ist das gewaltige Interesse an „Metal from Germany“ nicht zu übersehen. Hier gilt es, nach dem morgendlichen Frühstück noch schnell ein Interview zu absolvieren – dort warten bereits laufende Kameras auf das Erscheinen der Akteure. Rudolf und Klaus übernehmen den Rundfunk, während Gitarrist Matthias Jabs und Schlagzeuger Herman Rarebell fürs TV zuständig sind. „Job Sharing“ nennen die Amerikaner diese Ökonomie. Ein Amerikaner bestimmt denn auch, wer und wann welchen Sender bedienen muß. Bob Steinberg ist der „Einsatzleiter für aktuelle Informationen aus dem Scorpions-Camp“, ein Mann der Medien, in dessen Fach Radio- und TV-Promotion fallen. Er besorgt die nötigen Termine und achtet vor allem auf die angemessene Präsentation seiner Schützlinge. Inzwischen bereitet ihm der Job sogar sichtliches Vergnügen, wenn er allabendlich seinen Auftritt hat und die Gewinner des VIP-Radio-Contest der Band vorstellt. Dann kommt Stimmung auf, denn nicht selten ist auch die eine oder andere Stadt-Schönheit unter den Glücklichen. Spaß muß sein.
Davon hat die 23 Mann starke Crew, von Roadie bis zur Küche, dem sogenannten „Catering“, allerdings wenig. Sie darf die Trucks be- und entladen, Anlage installieren und muß dabei manchmal ohne jeden Schlaf auskommen. Was oft so einfach und für den Zuschauer selbstverständlich aussieht, ist doch das Werk vieler und letztlich anonymer Hände. Gordi zum Beispiel, der Mann aus Boston, lange Zeit bei Bob Seger tätig, ist die Ruhe in Person. Selbst bei größter Hektik behält er die Nerven und koordiniert als Stage-Manager gelassen den Aufbau der Bühne.
Der Pate, der hinter den Kulissen sämtliche Fäden zieht, hört auf den Namen Bob Adcock. „Bärchen“ hat ihn die Band getauft, ein Engländer wie er im Buch steht. In seiner tapsigen Art macht er diesem Namen alle Ehre. Er ist der Tourmanager, bestellt die Limousinen für die Fahrt zum Konzert und zurück, mahnt zur Eile, wenn man – wie in Toronto – gleich nach dem Auftritt noch den gecharterten Flieger erreichen will, der sie zu Video-Aufnahmen nach New York bringen soll.
Bob, das „Bärchen“, mit der Figur eines Rechtsauslegers, scheint mit seinem Beruf verheiratet zu sein. Er ist überall, ständig auf Achse und macht dabei stets den Eindruck eines Streßgeplagten. Daß er zudem ein wandelndes Rocklexikon in stämmigem Einband ist, erfährt man erst später. Merseybeats, Cream, Mountain und Rainbow heißen die Bands, für die er seit Mitte der 60er Jahre seine Heimat Liverpool verlassen hat, bis er zu den Scorpions stieß. Noch heute schwärmt, er von den „good old days“ des Rock’n-‚Roll.
Diese Erinnerung verbindet ihn mit der Band. Denn die Scorpions sind die letzten einer allmählich aussterbenden Spezies, die musikalisches Feeling und Ambitionen vor selbstgefällige Eitelkeit, die, wie sie selbst betonen, „Energien und Persönlichkeit“ vor hohlwangige Phrasen stellen.
Rudolf bringt dieses Selbstverständnis auf einen Nenner, wenn er behauptet: „Wirhaben nie den Fehler gemacht und nach dem Erfolg von BLACK-OUT gemeint: Jetzt sind wir die Stars und können uns ausruhen. Sondern wir wollen den Leuten noch mehr geben, noch mehr an uns arbeiten.
Immerhin sind wir die erste deutsche Gruppe, die gleich drei Alben in den amerikanischen Charts hat. Das ganze Drum und Dran ist zwar ganz schön, macht auch Spaß, doch sobald es wieder nach Hause geht, werden wir alles realistisch und nüchtern betrachten. „
Rudolf als Realist? Man will es nicht glauben. Hört man ihm jedoch genau zu, so wird deutlich, daß die Erfolge keinem von ihnen zu Kopf gestiegen sind. Sie wahren Distanz zur eigenen Popularität. Schließlich kennt jeder das Gefühl, während der Tour wie auf Wolken zu schweben, gar auf silbernen Tabletts getragen zu werden. Und doch bleiben alle auf dem Boden.
Was Rudolf zu einem witzigen Kommentar veranlaßt. „Ich kenne Leute, die behaupten, sie seien glücklicher gewesen, als sie weder Geld noch Erfolg hatten. Das ist falsch. Ich bin jetzt genau so zufrieden wie vor zehn Jahren, wo bei mir die Mäuse mit Schatten untern Augen aus dem Kühlschrank kamen.“
„Und wenn’s morgen vorbei ist, nehmen wir’s nicht tragisch, denn wir haben eine tierische Zeit gehabt“ ergänzt Klaus.
Geht man an einem x-beliebigen Tag über eine x-beliebige Straße in der Millionenstadt Toronto, kann es passieren, daß einen plötzlich Scorpions-Klänge aus den Radios vorbeifahrender Autos aufschrecken. Spätestens dann weiß man, wo man ist, wo die Scorpions zumindest musikalisch alles in den Schattens stellen.
Ähnlich geräuschvoll sind auch die Szenen, die sich im Dressing Room abspielen. Man kommt sich vor wie in einem Taubenschlag; es vergeht kaum eine Minute, in der nicht irgendeine Nase oder ein Gesicht auftaucht. Es ist eine illustre und international besetzte Großfamilie, die sich da trifft. Nur die Band hält sich zurück; Rudolf ist bereits mit seiner Gitarre beschäftigt und will von niemandem gestört werden, Klaus sitzt gedankenverloren in seiner Ecke – und Francis stimmt in aller Ruhe seinen Baß. Matthias und Herman sind eigentlich die einzigen, denen man die Anspannung vor dem Gig kaum anmerkt. Lampenfieber ist wohl ein Fremdwort für sie. Diese Stimmung ändert sich schlagartig, sobald der Vorhang fällt. Dann sind auf einmal alle in ihrem Element.
Es ist, als sei ganz Montreal im Rausch, so phantastisch ist der Empfang, den die 13500 Zuschauer im weiten Rund des Forums den Scorpions bereiten. Wie verwandelt, wie eine Hardrock-Ballerina tänzelt, springt und hüpft Klaus Meine über den Bühnenparcour. Pausen gibt es in dieser Show nicht; Kondition ist alles. Die Fans schreien sich die Kehlen heiser – und das, obwohl die Band nicht unbedingt ihren besten Tag erwischt hat.
So dürfte „der Lange“, der für den Sound verantwortlich ist, sich denn auch noch oft an diesen Abend erinnern. Erst einige Drinks aus der Flasche haben ihm geholfen, die Standpauke zu überstehen.