Sébastien Tellier – Jesus Christ Superstar


Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Oder eine Pseudo-Religion um einen Blauen Gott daraus entwickeln. So wie der französische Sänger Sébastien Tellier.

Es ist eine bizarre Vorstellung, die da im Mai 2008 in der Belgrad-Arena in der serbischen Haupstadt abläuft. Im Vergleich zu dem, was sonst so beim Eurovision Song Contest geboten wird. Sébastien Tellier wird gleich für Frankreich mit seinem Lied „Divine“ antreten. Der Künstler, langhaarig und vollbärtig, in heller Hose und grauem Jackett, mit Schal und Sonnenbrille ausgestattet, fährt mit einem Golfwagen auf der Bühne vor, während dort schon ein fünfköpfiger Hintergrundchor aus Tellier-Klonen steht. Dass der Franzose am Ende Platz 19 von 25 erreicht – scheißegal, die Geste zählt. Ein offensichtlich mit viel Humor ausgestatteter Exzentriker hatte seinen subversiven Auftritt zwischen all den osteuropäischen Glitzer-Glitzer-Sängerinnen.

„Meine Lieder werden in Frankreich nicht im Radio gespielt, weil sie nicht ins Format passen“, erklärt Sébastien Tellier. „Der Eurovision Song Contest war eine große Chance für mich, meine Musik vor Millionen von Menschen zu spielen. Für mich war der Wettbewerb immer ein Witz. Danach aber waren meine Konzerte alle komplett ausverkauft. Das war natürlich fantastisch. Es ist schön, wenn ein Witz zur Realität wird.“

Sébastien Tellier, in Paris geboren, 37 Jahre alt, gehört zum Dunstkreis der French Pop/House-Szene der 90er-Jahre. Air zählen zu seinen Förderern, sein drittes Album Sexuality wurde 2008 von Guy-Manuel de Homem Christo von Daft Punk produziert; er hat mit Mr. Oizo an dessen Film „Steak“ gearbeitet, Sebastian, Kavinsky und Philippe Zdar von Cassius haben seine Songs remixed. Auch Telliers aktuelles, viertes Album, My God Is Blue, wurde wieder von einem großen Namen aus der Pariser Musikszene produziert: Mr. Flash aka Gilles Bousquet. Es ist ein spirituelles Album, ein Album über den Glauben – natürlich mit der Tellier eigenen Exzentrik umgesetzt.

„Ich habe drei Götter: natürlich den Gott der katholischen Kirche. Das ist der Gott meiner Kindheit. Musik ist für mich auch eine Art Gott. Sie lässt mich lebendig fühlen. Und ich habe einen dritten Gott, das ist der Blaue Gott.“ Es war in Los Angeles, da hatte Tellier „eine Art Zaubertrank“ getrunken, woraufhin er in eine Trance geraten sein will. „Plötzlich hatte ich einen Wachtraum mit vielen Visionen, blauen Visionen. Alles war blau. Das hat mich auf die Idee gebracht für My God Is Blue. Als ich später am Klavier saß und an das Blau dachte, war es so leicht für mich zu komponieren. Davor hatte ich versucht, ein Album über die Erde zu machen, die Erde war für mich ein großes Thema. Aber als ich am Klavier saß und darüber nachdachte, als ich versuchte, Texte zu schreiben, ist mir nichts eingefallen.“

Es müssen immer die ganz großen Themen bei Tellier sein: Politik, Sexualität und Spiritualität. Er nähert sich ihnen aus der Sicht des Anfängers, dem die großen Entdeckungen noch bevorstehen, der mit offenem Mund den Wundern der Welt gegenübersteht. „Ich habe keine Ahnung von Politik, ich bin kein Experte für Sexualität, ich glaube, ich habe ein relativ normales Sexleben mit meiner Frau. Und ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet der Spiritualität. In gewisser Weise ist der Künstler der Feind des Experten.“ Das Video zu „Cochon Ville“, der ersten Single aus dem neuen Album, bringt die Themen Sexualität und Spiritualität perfekt zusammen. Gerade noch so, dass kein Amtsrichter auf die Idee kommen könnte, das Filmchen zu verbieten, wird da eine Orgie zwischen Dutzenden Menschen gezeigt. Schön in Zeitlupe mit wippenden und baumelnden primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Und über allem wacht Sébastien Tellier wie ein Mittelding aus modernem Guru und Jesus Christus. „Ich möchte mit dem Video zeigen, dass das Laster ein Quell der Freude sein kann. Laster ist nicht immer eine schlechte Sache. In der Religion und in der Philosophie wird es aber oft so dargestellt, als sei das Laster der Feind des Glücks. Und das stimmt nicht.“

Telliers Musik ist Pop, dem man aus naheliegenden Gründen das Adjektiv „french“ voranstellt. Eine cinematographische Musik, die nicht selten an Pornofilmsoundtracks aus den 70er-Jahren erinnert. Der Künstler nennt den Filmkomponisten François de Roubaix als seinen maßgeblichen Einfluss. Dieser hatte in den 70ern stark experimentelle elektronische Elemente in seine Musik integriert. Aus de Roubaix, Michael Jackson, George Michael, Grace Jones, Serge Gainsbourg, Salvador Dalí und Yves Saint Laurent setzt sich Sébastien Telliers künstlerische Welt zusammen. Und über ihr wacht der Blaue Gott.

Der Künstler erzählt noch ein bisschen. Von der Farbe Blau, zu der er eigentlich gar keine besondere Beziehung habe. Das Meer ist blau und der Himmel, wenn die Sonne scheint. Das findet er gut. Tellier erzählt von seinem Blauen Gott und von der Alliance Bleue. Das müsse man sich wie eine freie Community ohne Anführer vorstellen. Ob diese real existiert, oder nur in der Vorstellung des Künstlers, ist aus Tellier nicht herauszubekommen. „Manchmal ist es gut, sich an einen Ort zurückzuziehen, an dem man sich frei fühlt. Ich möchte diesen Ort schaffen. Unser Traum ist es, einen Freizeitpark für Erwachsene zu eröffnen. Spaß zu haben, ist eine sehr gute Art, um die Wahrheit zu finden.“ Als wolle er sich absichern, nicht für einen falschen Propheten oder den Anführer einer Sekte gehalten zu werden, fügt er noch hinzu: „Es ist aber Entertainment, Showbusiness, die Vision des Künstlers. Ich glaube an den Gott der katholischen Kirche.“

Albumkritik S. 92