Popkolumne, Folge 98

Semsrott vs. Sonneborn, Millenial vs. Boomer: Linus Volkmanns Popwoche im Überblick


In unserer Popkolumne präsentiert Linus Volkmann im Wechsel mit Paula „Da hinten wurde geschossen!“ Irmschler die High- und Lowlights der Woche. In der Kalenderwoche 02/2021 dreht sich alles um Konflikte. Ärger bei DIE PARTEI, ausgefallene Touren, keine feste Nahrung und wie viel sozialer Sprengstoff schlummert bitte in einer mutwilligen Erinnerung an die Héroes Del Silencio? Musikjournalismus als Frontbericht – man kann eben nicht den ganzen Tag nur Landser-Hefte lesen. Helm auf, die Reise beginnt.

LOGBUCH KALENDERWOCHE 02/2021

Für die einen war es der zweite Lockdown, für mich eher immer weiter ausufernde Schlemmerwochen. Wenn sich im Dezember versehentlich die Selfie-Cam meines Handys öffnete, sah ich eine Art hysterischen Helmut Kohl vor mir. Erschreckend!
Dem Ritual der guten Neujahrsvorsätze sei „Dank“, stecke ich nun mitten in einer Saft-Fasten-Kur. Wer die Kolumne diesmal besonders bitchy findet, möge sich vergegenwärtigen, dass ich seit sieben Tagen keine feste Nahrung mehr zu mir genommen habe. Freue mich schon auf Pizza Hut und den Jojo-Effekt. Aber jetzt erst noch mal lange Stunden in den Entsafter-Mienen.

Fasten auch für den Geldbeutel. Aus 18 Euro Obst und Gemüse wird ein nahrhafter Saft von 0,25 Litern

KRIEG DER WELTEN: SEMSROTT vs. SONNEBORN

Der zweite Mann in Brüssel von DIE PARTEI schmeißt hin. Also nicht seinen Sitz im Europarlament – allerdings das Parteibuch. Der Grund ist ein Zerwürfnis mit Parteigründer Martin Sonneborn und dessen Festhalten an Witzen, die je nach Perspektive mit rassistischen Klischees spielen oder jene plump reproduzieren. Hier die Erklärung von Semsrott.

Semsrott vs. Sonneborn, das ist vor allem auch Boomer vs. Millenial. Jeder bedient sich in dem aktuellen Schaukampf den Mitteln seiner Generation. Der Depri-Kabarettist Semsrott verkörpert digitale Empathie und will nicht länger mit Kontaktschuld belegt werden für fragwürdige Sonneborn-Gags. Gags, die mitunter auf Blackfacing setzen oder darauf, dass „der Chinese“ das „R“ nicht sprechen könne. Satire-Urgestein Sonneborn dagegen hat als stolzer Boomer noch sehr präsent in Erinnerung, dass man ja wohl über alle Witze machen dürfe – speziell wenn man doch mal Chefredakteur der „Titanic“ gewesen ist!

Da der Fight vornehmlich in den Woke-Kulissen von Twitter ausgetragen wird, hat Semsrott – trotz der berüchtigten Sonneborn-Fanboys – die Nase vorn. Hier wird man mit dem Ausspielen der Karte „Ich bin ein alter, weißer Mann, ich darf das!“ direkt ins Abseits geleitet.

Das hebelt Sonneborn allerdings aus. Denn er selbst folgt auf Twitter niemandem und sieht dementsprechend bloß seine eigenen Einlassungen, was ihm wie immer das Gefühl vermittelt, am Ende doch recht gehabt zu haben.

Semsrott vs. Sonneborn, Millenial vs. Boomer. Choose your fighter!

DAS KLEINSTE INTERVIEW DER WOCHE: ALEX SCHWERS

Alex Schwers kennt man vermutlich auch, wenn man denkt, man kennt ihn nicht. Er trommelt bei diversen Kult-Bands mit Punk-Hintergrund, Slime, Die Mimmi’s, Chefdenker, Hass, Eisenpimmel zum Beispiel und ist der Veranstalter des „Ruhrpott Rodeos“, dem größten hiesigen Punk-Festival.

Vor einem Jahr hatte ich mit ihm ein Interview aufgezeichnet, wo wir uns über die Frage stritten: Warum wird so wenig dagegen getan, dass Festivalbühnen so gar nicht divers sind und stattdessen von über 90 Prozent Männern blockiert werden?

Ich habe verbockt, diesen Austausch öffentlich zu machen, bevor meine Festplatte crashte. Dafür muss ich um Entschuldigung bitten. Ich hoffe aber, Alex, es gibt noch mal Gelegenheit, mit dir darüber zu sprechen. Allerdings nicht hier im kleinsten Interview der Woche, dafür ist das Thema viel zu groß. Hier und Jetzt erfahren wir von den Solo-Ambitionen des großgewachsenen Multi-Talents mit Abba-Shirt. Als Swag Boy Alex veröffentlich Schwers diese Woche ein unterhaltsames Album voller Ideen und Selbstverwirklichungen: „Hubschrauber und Dinosaurier“.

Alex, Dein eigener Musik-Output muss sicher zeitlich oft zurückstehen bei Deinen sonstigen Aktivitäten – hat diese Platte daher von der Seuche profitiert?

ALEX SCHWERS: Es ist jetzt nicht so, dass ich mir 2020 vor lauter Langeweile überlegt habe, mal ’ne Soloplatte zu machen. Letztendlich hat mich das schon lange beschäftigt und ich bin bei Weitem nicht bei Punkt null gestartet, aber ohne Corona wäre sie höchstwahrscheinlich jetzt wirklich noch nicht fertig.

Du spielst in einer Vielzahl unterschiedlicher Bands, was kannst Du aber erst mit Swag Boy Alex musikalisch verwirklichen?

ALEX SCHWERS: Der Name klingt nach HipHop, die Musik klingt eher wie Classic-Rock mit Texten, als wenn Peter Maffay ein Deutschpunkalbum gemacht hätte. Auf der Platte kann man Tapping-Solos (ich sage bewusst Solos, weil Soli nur was fürs Musiker-Fachblatt sind) hören, ein Streichorchester, die berühmte klassische Pianistin Vika … man hört das Zirpen der Grillen in Andalusien gepaart mit dem Rauschen der ungeerdeten Gitarre von Knochenfabriks Claus Luer. Man hört die Gitarristen von fuckin‘ Udo Dirkschneider und Slime und den Schlagzeuger der Ärzte als lieben Gott. Es gibt also kaum etwas, was ich mir auf dieser Platte nicht verwirklicht habe… Okay, es fehlt vielleicht ein Gitarrensolo von Jimmy Page.

Du betreibst auch das große Punkrock-Festival Ruhrpott-Rodeo. Letztes Jahr musstet Ihr wie alle aussetzen, wie zuversichtlich oder besorgt schaust Du auf diesen Sommer nun?

ALEX SCHWERS: Meine Prognose: Festivals finden statt. Die Line-Ups, die im Moment angekündigt sind, werden noch ein paar mal ordentlich durchgerüttelt, am Ende werden jedenfalls Menschen auf Wiesen vor Bühnen stehen – aber andererseits: Was weiß ich schon…?

TRACK DER WOCHE: MICHAELA MEISE

Michaela Meise / Foto: Roland Owsnitzki

Auf Michaela Meise bin ich vor vielen Jahren aufmerksam geworden durch das faszinierende Schifferklavier-Stück mit Dirk von Lowtzow „Preis dem Todesüberwinder“. Die gleichnamige Platte höre ich immer wieder unter Staunen.

Diese Woche erscheint ein neues Stück von ihr beim Label Martin Hossbach, bald auch eine Single davon – wieder mit diesem Schifferklavier-Trademark. Bei dem Text handelt es sich um die Übersetzung einer türkischen Totenklage. Der Song nimmt konkret auf die rassistischen Morde von Hanau letztes Jahr Bezug. Ein völlig beschwertes Kleinod ergibt sich daraus, das aber nicht nur anrührt, sondern auch tapfer aus sich selbst heraus zu strahlen vermag. Ab jetzt ist „Cemalim“ (Label Martin Hossbach) als 7inch vorbestellbar und ab dem 22.01. auch als Download zu haben.
Auf Soundcloud könnt ihr den Song bereits jetzt anhören!

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VIDEOS DER WOCHE: PASCOW

Pascow, die entfesselte Gimbweiler Boy-Band mit Punk-Hintergrund, versieht die Ankündigung ihrer neuen Tourdaten diesen Herbst mit dem Vermerk „Versuch Nr.3“. Pandemie halt. Wie viel Hustle, Frust und handfeste Probleme hinter diesen paar Buchstaben für allzu viele Booker und Bands dieser Tage stehen, man kann es nur erahnen.

Vorab erscheint bei Pascow mit „Marie“ und „Kriegerin“ nun der Abschluss ihrer außergewöhnlichen Clip-Reihe, die Songs des Albums „Jade“ immer über eine kleine Punkerin (dargestellt von Gwentsche Kollewijn), lost on the road, erzählen. Ein aufwändiges Projekt in toller Ästhetik. Derart viel Realismus, Resignation, Romantik, Raus-in-die-Welt … von solch wertigen Attributen sehen unzählige Punk-Acts auch in jahrzehntelanger fleißiger Existenz ja meist nur die Rücklichter.

MEME DER WOCHE

GUILTY OR PLEASURE (90s Edition): HÉROES DEL SILENCIO

Die Sache ist ganz einfach: Ein verhaltensauffälliger Act aus dem Kanon der 90er wird noch mal abgecheckt. Geil or fail? Urteilt selbst!

Folge 22: Héroes Del Silencio 

HERKUNFT: Saragossa, Spanien
GENRE: Alternative Rock
DISKOGRAPHIE:
Vier Studio-Alben
ERFOLGE: In Spanien ist Héroes Del Silencio ein Siebenfach-Platin-Act, aber auch in Deutschland und der Schweiz hat es für das Album „Senderos de traición“ für diese Auszeichnung gereicht.
TRIVIA: Das Video zu „Entre Dos Tierras“ ist mit seinen Szenen häuslicher Gewalt für so einen Konsens-Hit mehr als verstörend. Harmloser dagegen diese Info: Das Stück stellt noch heute den Einlaufsong des Zweitligisten Holstein Kiel dar.

PRO
90er-Popmusik in den von MTV geprägten Charts, die nicht aus England oder den USA stammte – und sogar in der eigenen Landessprache auftritt? Allein das ist doch schon mal eine Wohltat. Der Sound dazu klingt amtlich, aber Stimmung und Story sind eben mal eine andere. What’s not to like? Saluda a todos mis amigos de Espana, möchte ich da doch nur sagen.

CONTRA
Prätentiöser Penis-Rock mit Hang zum Gitarren-Gejammere war schon immer ein internationales Problem gewesen. Dass sich alle Jubeljahre auch mal Dudes aus anderen Welten wie die Héroes Del Silencio im Geschehen verirrten, stellte dabei Anfang der Neunziger nur einen kuriosen Beifang, aber keinen wirklich Impuls dar.

Dr. Grey, ich habe alle ungewöhnlichen Krankheiten auf einmal – Paulas Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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