ME-Heldin

Simply The Best: Unsere ME-Heldin Tina Turner

Wie gut kann Selbstermächtigung klingen? Tina Turner empowerte diverse Generationen. Unsere ME-Heldenstory.

Wilder als sie sang keine den Soul. Aber es trug auch keine engere Fesseln. Erst in den 80er-Jahren gelang Tina Turner der Befreiungsschlag — der Start einer Karriere, die sie an die Weltspitze führen sollte.

„We never, ever do nothin’ nice and easy“. Diese Worte sagt Tina Turner im Intro der 1971 erschienenen Single „Proud Mary“. Gemünzt war der spontan während eines der ersten Auftritte mit dem neuen Song entstandene Satz auf dessen musikalische Interpretation. Denn im Unterschied zu den Originalinterpreten, der Rockband Creedence Clearwater Revival, inszenierten Tina Turner, ihr Mann und ihre Band den Rockklassiker nicht als gemächlichen Midtempo-Schwofer. Sie schlichen sich in den Song hinein, fast zögerlich. Dann, nach dreieinhalb Minuten, ließen sie ihn unvermittelt kippen, übersetzten ihn in einen wilden, harten Revue-Boogie, der gleichzeitig als Schaufenster für Tina Turners Ausnahmestimme diente. Was für ein Hit! Was für eine Energie! In den USA etablierte „Proud Mary“ Ike & Tina Turner endgültig als Superstars.

„We never, ever do nothin’ nice and easy“. Diese Worte lassen sich aber auch als Leitsatz für eine Ausnahmekarriere begreifen, die über sechs Dekaden andauerte. Streng genommen sind es zwei Karrieren. Die zweite ist eine, die all die Menschen, die in den 80er-Jahren musikalisch sozialisiert wurden, mit Tina Turner in Verbindung bringen, aber dazu später mehr. Die erste hingegen ist von einem tiefen, beinahe 20 Jahre andauernden Schmerz geprägt.

Am 1. Juli 1976 ist ein Auftritt von Ike und Tina in Dallas, Texas geplant. Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel passiert es: Ike, so berichtet Tina Turner in ihrer 2018 erschienenen Autobiografie „My Love Story“, hatte fünf Tage lang durchgängig Kokain genommen, nicht geschlafen und war entsprechend gereizt. Wegen einer Nichtigkeit flippt er noch im Wagen aus, schlägt auf seine Frau ein. Die keilt erstmals zurück, die beiden prügeln sich die gesamte Fahrt über. Als Tina Turner aussteigt, ist ihr weißer Yves-Saint-Laurent-Anzug blutverschmiert. Sie beschließt, dass es an der Zeit ist, zu gehen. Im Hotel macht sie zunächst gute Miene zum bösen Spiel, wie so oft zuvor, denn eines muss man verstehen: Sie flieht nicht wegen dieses einen Vorfalls. Sie flieht wegen einer mehr als zehn Jahre andauernden Geschichte von Gewalt und Unterdrückung. Als Ike sich schlafen gelegt hat, packt sie eilig ein paar Sachen und verlässt das Hotel durch einen Lieferanteneingang. Sie läuft ein paar Blocks, klettert eine Böschung hinunter und überquert die stark befahrene Interstate 30, um zum Ramada Inn gegenüber zu gelangen. „Ich bin Tina Turner“, sagt sie dem Hotelmanager, „und ich habe Probleme.“

Tina Turner wird am 26. November 1939 als Anna Mae Bullock in Brownsville, Tennessee geboren. Ihre ersten Lebensjahre verbringt sie im nahen Nutbush, einem Kaff, siebzig Kilometer hinter Memphis gelegen, wo ihr Vater Landarbeiter beaufsichtigt. Ihre Kindheit verläuft weder einfach noch beständig. Während des Zweiten Weltkriegs ziehen ihre Eltern nach Knoxville und trennen die kleine Anna Mae und ihre Schwestern voneinander. Sie wird von ihren strengen Großeltern aufgezogen, bevor sie nach dem Krieg wieder mit ihrer Familie zusammenkommt. Doch ihr Zuhause fühlt sich nie wie ein Zuhause an – ihre Mutter flüchtet 1950 abrupt aus einer unglücklichen Ehe, ihr Vater folgt zwei Jahre später. Bullock und ihre Schwestern werden wieder in die Obhut ihrer anderen Großmutter entlassen. Später sagt sie, dass sie sich in ihrer Kindheit eigentlich immer unerwünscht gefühlt habe. Nach dem Tod ihrer Großmutter zieht sie nach St. Louis zu ihrer Mutter. 1958 macht sie ihren High-School-Abschluss und arbeitet im Krankenhaus.

Anna Mae weiß, dass sie singen kann, bestreitet bald mit ihrer Schwester erste Auftritte und lernt schließlich in einem Nachtclub Ike Turner kennen. Der acht Jahre ältere Mann ist bereits eine relevante Figur in der US-amerikanischen Musikindustrie. Mit dem wilden „Rocket 88“ hat er einen Song geschrieben, der oft als erste Rock’n’Roll-Nummer überhaupt gilt, zudem war er maßgeblich an der Entdeckung von Howlin’ Wolf und B.B. King beteiligt. Sie wird zum festen Bestandteil seines Ensembles und lernt unter seiner strengen Anleitung, wie man singt und seine Stimme kontrolliert. Als 1960 die eigentlich eingeplante Sängerin einer Aufnahmesession absagt, übernimmt Bullock die Leadstimme bei „A Fool In Love“. Das Konzept Ike & Tina Turner ist geboren.

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Turner ist zunächst eine Vaterfigur für Anna Mae. „Wenn ich ihm nicht gedient hätte, würde ich heute vermutlich noch Baumwolle in Mississippi pflücken“, sagt sie später einmal in einem Interview. Und doch heiraten die beiden 1962. Warum Ike das wollte, ist bis heute unklar, mit Liebe im herkömmlichen Sinne hat es nichts zu tun. Direkt nach der Trauung im mexikanischen Tijuana schleppt er seine Frau in ein Bordell.

Was folgt, sind Jahre der Unterwerfung. Und es sind Jahre der harten Arbeit. Auf bis zu 300 Konzerte schleift Ike Turner seine Ikettes, dazu kommen zahllose Studioaufnahmen, die Diskografie vor allem der mittleren Jahre ist kaum zu überblicken. Nicht nur seiner Frau gegenüber führt er dabei ein drakonisches Regiment. Wer sich auf der Bühne verspielt, wird bestraft. Wer den Meister selbst anspricht, muss ebenfalls mit Sanktionen rechnen, es gilt bei Problemen innerhalb der Band einen strengen Dienstweg einzuhalten. Es sind mehrere Formen der Diskriminierung, denen Turner in dieser Zeit ausgesetzt ist. Zunächst einmal ist es die gewalttätige Misogynie: Ike Turner schlägt wegen Nichtigkeiten zu, brennt ihr mit Zigaretten Wunden in die Haut. Er zwingt sie auf die Bühne, während sie krank und während sie schwanger ist, nicht einmal ein Selbstmordversuch ändert sein Verhalten ihr gegenüber. Dass er sie am laufenden Band betrügt, erscheint da nur noch wie eine Randnotiz. Dazu kommt seine absolute finanzielle Kontrolle; obwohl Tinas Stimme das Alleinstellungsmerkmal des gesamten Projekts Ike & Tina Turner ist, bekommt sie kaum etwas vom Geld zu sehen. Schließlich findet all das in den USA der 60er-Jahre statt: Gerade in den Südstaaten ist Tina Turner also am Anfang ihrer Karriere offenem und später unterschwelligem Rassismus ausgesetzt.

Wie schafft man sich unter solchen Voraussetzungen Freiräume? Tina Turner emanzipierte sie sich, während sie Fesseln trug: Es ist im Nachhinein schwer zu sagen, welche Schritte dabei die wichtigsten waren. Vielleicht war es die Arbeit mit Phil Spector an „River Deep – Mountain High“ (1966), die Ike Turner kaum recht gewesen sein dürfte. Nicht nur, weil er dafür die Leine seiner Ehefrau ein ganzes Stück lockern musste. Auch zeigte Spector mit seinem Gespür für einen klassisch anmutenden, aber gleichzeitig innovativen Sound Ike Turner erstmals, dass seine Vorstellung davon, wie Musik zu klingen habe, veraltet war. Für Tina Turner bedeutete dieses Team-up aber etwas anderes. Phil Spector war ein Weißer. Zwar verschmähten die Soul- und Blues-Sender „River Deep – Mountain High“. Doch in England erreichte der Song Platz drei der Singlecharts. Es war Tinas Hit, veröffentlicht wurde er trotzdem unter dem Namen Ike & Tina Turner. Ike nahm an den Sessions aber nicht einmal teil, 20 000 Dollar soll er dafür bekommen haben, dass er sich von Spectors Anwesen fernhielt.

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Vielleicht war „Nutbush City Limits“ auch der große Funke der Selbstermächtigung, ein Song, der 1973 eindrucksvoll zeigte, was für eine brillante Texterin sie war und das Standing des Duos in Europa festigte. Vor allem aber kamen erstmals Tantiemen auf ihrem eigenen Konto an. Eine Rolle spielte sicher auch ihre Rolle der „Acid Queen“ in Ken Russells The-Who-Oper „Tommy“: Für die Aufnahmen reiste sie nach London.

Als sie gute zwei Jahre später an der Rezeption des Ramada Inn in Dallas steht, hat sie 36 Cent in der Tasche. Am 27. Juli reicht sie die Scheidung ein. Was folgt, ist ein Rosenkrieg, der knappe zwei Jahre andauert. Weil Tina Turner aus einer bereits gebuchten Tour ausgestiegen ist, sind die Regressforderungen hoch. Sie tut also in den späten 70er-Jahren das, was sie am besten kann: Sie singt, zum Teil zweimal am Abend; die Bühnen werden dabei eher kleiner als größer. Nebenher putzt sie zeitweise. Irgendwie kommt sie über die Runden, wissend, dass sie aus der Scheidung zwar nur eine Sache mitnehmen konnte, aber dass diese die wertvollste ist: ihr Name. Sie ist Tina­ Turner. Die Ironie daran: Ike gab ihr diesen Namen.

Zwei Alben folgen, retrospektiv hinterlassen ROUGH (1978) und LOVE EXPLOSION (1979) wenig Eindruck. Kommerziell sind beide ebenfalls eine Enttäuschung, erreichen nicht einmal mehr die US-amerikanischen Top 100. Die großen Säle würde Tina Turner nicht mehr füllen, konstatiert die „Zeit“ 1979 anlässlich einer Deutschlandtour, aber auch: „Tina Turner ist eine Schwerarbeiterin mit einem Boxerherzen und einer Läuferlunge.“

Dass die „Zeit“ sich grandios irrte, lag vor allem an einem Mann: Der Australier Roger Davies hatte gerade erst Olivia Newton-John zu einem neuen Image verholfen. Tina Turners Musik beeindruckt ihn zunächst kaum. Erst der Besuch bei einem ihrer Konzerte legte den Schalter um.

„Tina steckte damals in einem Teufelskreis. Sie war nicht angesagt, und weil sie nicht angesagt war, zeigte auch keine Plattenfirma Interesse“, sagte er 1987 dem Musikexpress. In der Tat konnte Turner in den USA gute zehn Jahre kein Album in den Charts platzieren. Der letzte Hit, an den man sich erinnern konnte, lag noch länger zurück – richtig, es war „Nutbush City Limits“. Eines erkennt Davies instinktiv: Das Tingeln durch die Clubs, die Residencies im damals wenig angesagten Las Vegas – all das mag kurzfristig Geld in die Kassen spülen. Es wird dem Talent Tina Turners aber keinesfalls gerecht. Er lässt sie also in Los Angeles und New York auftreten, versucht, die Entscheider:innen der großen Labels in die Clubs zu bekommen. Im New Yorker Ritz gibt er dem Veranstalter sogar 10 000 Dollar, um aus dem Konzert eine richtige Party zu machen. Dazu finden immer wieder Freunde von früher warme Worte, etwa Mick Jagger, Rod Stewart und David Bowie. Es funktioniert, Capitol Records beißt 1983 an, wenngleich zunächst nur für eine Single. Was die Vorstellungen vom passenden Sound angeht, ist man sich nicht einig. Wie wäre es mit Aufnahmen in Los Angeles, fragen die Big Shots des Labels. Bloß nicht, sagt der Manager. Er setzt sich durch, auch weil A&R John Carter ihm freie Hand gibt. Der ist zudem Fan dieser beiden wunderlichen Typen in London: Unter dem Pseudonym B.E.F. hatten die britischen Synthie-Popper Heaven 17 gemeinsam mit Tina Turner doch gerade erst für einen Sampler diesen Temptations-Song aufgenommen, „Ball Of Confusion“!

„Also fuhren wir nach England und baten sie, Material vorzuschlagen, das in ihren Augen zu Tina passen könnte. Wir wollten unseren Ohren nicht trauen, als sie uns eine Kollektion angestaubter R’n’B-Kamellen vorspielten – genau das, was Tina ein für alle Mal hinter sich lassen wollte“, erzählt Roger Davis. Turner soll sich noch über etwas anderes gewundert haben: Nirgendwo war eine Band zu sehen.

Einer der Songs spricht jedoch mit ihr: „Let’s Stay Together“. Turner nimmt den alten Al-Green-Schwofer gleich an Ort und Stelle auf. Das Tempo ziehen sie und B.E.F. dabei Stück an, geben dem Song eine dezente, aber durchaus erkennbare Dance-Note mit kalter Percussion und wogenden Synthie-Flächen. Der Lohn der Mühe: Top Ten in Großbritannien, immerhin Top 30 in den USA.

Ike Turner lässt angesichts dieses Erfolgs anfragen, ob Tina nicht noch einmal mit ihm auf Tour gehen würde. Wieso nicht mit den ebenfalls getrennten Sonny & Cher? Diesen reichlich bizarren Vorschlag schlägt sie aus.

Zeit hätte sie ohnehin keine gehabt, denn das bis dahin so zögerliche Label hat es plötzlich eilig. Capitol möchte ein Album. Sie geben Tina Turner weniger als einen Monat, denn eine bereits gebuchte Europa-Tournee im Frühjahr ’84 kann so kurzfristig nicht mehr abgesagt werden. „Also setzte ich mich in London ans Telefon und rief Gott und die Welt an. Über Ed Bicknell, den Dire-Straits-Manager, kam ich an Songs von Mark Knopfler; mein alter Freund Terry Britten schickte einige Songs; Rupert Hine, den ich immer bewundert habe“, erinnert sich Roger Davies. Darüber hinaus auf PRIVATE DANCER zu hören: David Bowies „1984“, Ann Peebles’ „I Can’t Stand The Rain“ und „Help!“ von den Beatles.

Was sich fast schon unangenehm zusammengeschustert liest, war ein in seiner Klangarchitektur völlig stringentes Album und ein Comeback wie aus dem Bilderbuch. Fünffachplatin in den USA, Dreifachplatin in Großbritannien – zwölf Millionen Einheiten wurden bis heute weltweit verkauft. Auch bei den Grammys räumte Tina Turner ab. Und über die Single-Auskopplungen haben wir da noch gar nicht geredet und auch nicht darüber, dass sie damals 45 Jahre alt ist.

Tina Turner bezeichnete das Album manchmal als ihr Debüt. In der Tat hat es mit ihren früheren Alben wenig gemein. Es ist zunächst einmal ein britisches Album, das Personaltableau deutet es bereits an. Trotz der Wurzeln, trotz der Stimme lässt es sich zudem nicht als Soul-Platte greifen. Vielmehr bewegt es sich irgendwo in jenem weiten Feld zwischen Pop-Materialschlacht und Stadionrock, in dem in einem ähnlichen Zeitraum auch Genesis, Rod Stewart oder die Dire Straits unterwegs sind. In den Folgejahren wird sie diese Art sehr großer Musik weiter umarmen. An BREAK EVERY RULE (1986) sind Bryan Adams, Steve Winwood, Phil Collins, Branford Marsalis und Mark Knopfler beteiligt. FOREIGN AFFAIR ist drei Jahre später zwar in den USA kein sonderlich großer Erfolg, macht Turner aber dafür in Europa noch einmal größer, was vor allem an der Single-Auskopplung „The Best“ liegt. Der Song wird zu einem kulturellen Marker der Zeit, ist unter anderem in Werbespots für „Pepsi“ zu sehen. Der Getränkehersteller ist wiede­rum Sponsor ihrer Abschiedstour: Vielleicht die prominenteste Verschränkung von Pop und Produkt, von Kultur und Warenwelt in den frühen 90er-Jahren.

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Bis zur Jahrtausendwende blieb Turner omnipräsent, die Musik wurde indes generischer. Kein Vorwurf: Derlei aufgeblähte Konfektionsware war schlichtweg einer der Sounds der Zeit. 1999 beendete sie, von einigen Singles und Remixen abgesehen, ihre Karriere als Recording Artist. Ihre letzten Jahre verbrachte sie zurückgezogen in ihrer neuen Heimat – die Staatsbürgerschaft der Schweiz hatte sie bereits 2013 angenommen. Neben der Autobiografie erschien ein weiteres Buch, es heißt „Happiness Becomes You“. Turner war seit den 70er-Jahren praktizierende Buddhistin. Der Glaube, so betonte sie, sei ihr immer eine Stütze gewesen, vor allem in den finsteren Zeiten an der Seite von Ike. 2023 starb Tina Turner im Alter von 83 Jahren. Nein, she never did nothin’ nice and easy.