Singles sterben schneller
Dem Vinyl geht´s an den Kragen. Mit der guten alten Single wird schon bald die erste Vinyl-Leiche zu beklagen sein.
In der DDR sprach man von „Bückware“, wenn begehrte Artikel nur mit einem Griff unter die Ladentheke zu bekommen waren. Das Phänomen der Mangelwirtschaft droht bald auch in die bunte Warenwelt des Westens Einzug zu halten: Der Plattenkäufer wird es zunehmend schwerer haben, seine Lieblings-Hits als Single zu erwerben — jedenfalls wenn sie schwarz ist.
Vinyl – ein PVC-Ableger – dominierte fast ein halbes Jahrhundert lang die Schallplattenproduktion. Mit der Einführung der CD 1985 bahnte sich die unaufhaltsame Ablösung des Urmaterials an. In Japan haben die Silberlinge bereits den schwarzen Scheiben den Todesstoß versetzt. Zusammen mit der Cassette machte die CD nach und nach die Vinyl-Produktion überflüssig: Im April stellte eines der größten britischen Preßwerke von Schwarz auf Silber um. In Australien schlössen schon vier Hersteller ihre Pforten. Und in Japan blieb gerade noch eine einzige Fabrik übrig. Die Musicland-Ladenkette in den USA beliefert ihre 990 Outiets nur noch mit CD’s. „Die Vinvl-Scheibe stirbt nicht — sie ist schon tot“, kommentiert Musicland-Boß Jack Eugster den Trend.
Im Ursprungsland der Single (RCA Victor brachte sie 1949 auf den Markt) verlor der Prototyp des Tonträgers rapide an Boden: Im Zeitraum zwischen 1980 und 1989 sank die Single-Produktion um satte 60 Prozent. Dort haben CD-Single und Cassetten-Single („Cassingle“) dem Klassiker längst den Rang abgelaufen.
Deutschland, der zweitwichtigste Tonträgermarkt der Welt, spielt eine Sonderrolle. Die Vereinigung katapultierte die Absatzzahlen in neue Rekordhöhen. Aber auch diese Bilanz hat einen blinden Fleck: Die Vinyl-Single verkaufte sich 4.5 Millionen mal weniger als im Vorjahr. Insgesamt wurde 1990 mit 11.5 Millionen Stück nur noch ein Drittel der Menge von 1985 abgesetzt.
Die CD-Single kann trotz beachtlicher Zuwächse (1990: 9.8 Mio. Stück) die Stelle der“.kleinen Schwarzen“ nicht einnehmen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß nur in etwa 30 Prozent der westdeutschen Haushalte ein CD-Player steht. Doch bis es zur unvermeidlichen Wachablösung kommt, wollen viele Plattenhändler nicht warten. Von der Industrie mit mindestens sieben Formaten beliefert, ist jeder Ladenbesitzer froh, wenn er wertvolle Regalnieter freimachen kann. Weniger Angebot führt zu weniger Nachfrage — dies wiederum läßt den Absatz sinken, die Attraktivität der Vinyl-Single trudelt ins Bodenlose.
Soweit, so schlecht. Nicht Verkaufszahlen oder laufende Meter sind Maßstäbe für die Existenzberechtigung der schwarzen Single. Der künstlerische Aspekt ist’s, der im Vordergrund stehen sollte. Nicht jeder Künstler hat — gerade am Beginn seiner Karriere — genug Repertoire, um guten Gewissens eine LP zu füllen. Die Single ermöglicht es ihm, mit seinem (vermeintlich) stärksten Song die wunderbare Welt des Music-Biz zu erobern. Udo Lange. Boß von Virgin Deutschland, formuliert es blumis:
„Die Single ist der Humus, auf dem Karrieren gedeihen, um Früchte zu trasen.“
Diese kreativen Ergüsse haben in Form einer 17-cm-Single beste Chancen, als ideales Promotion-Instrument den Weg in die Radio- und Gehörkanäle zu finden. Mit frischer Single-Ware werden die Charts gemacht und das Radioprogramm geprägt. Sie sind die Lokomotiven, die oft einen ganzen Trend hinter sich herziehen. A propos Trend: Schnell reagieren heißt das Motto bei Dance- und Independent-Labels. Daher brechen gerade sie eine Lanze für das technologisch scheinbar überholte Vinyl-Scheibchen. Mit ihm können kleine Label innerhalb von 48 Stunden ein neues Produkt auf den Markt bringen – und das zu einem Drittel der Herstellungskosten einer CD-Single. Nischen sind es denn auch, in denen sich die Vinyl-Single halten wird, bis das PVC ausgeht. Jazz, Blues. Rock V Roll, Dance und Indie sind Gattungen, in denen puristisch produziert, d.h.“.schwarz“ gepreßt wird. Auf dem deutschen Markt haben Schallplatten der herkömmlichen Art ohnehin eine Gnadenfrist erwirkt: In den neuen Bundesländern sind vor allem LPs gefragt. Auch die Vinyl-Single wird daher vorerst noch weiterleben — wenn auch nur in Reservaten.