So war das Roskilde 2023: Eine andere Festivalwelt ist möglich!
Wie ein Spagat zwischen großem Pop und einer sehr politischen Note funktionierte.
Seit 1971 findet im dänischen Roskilde eines der größten Non-Profit-Festivals Europas statt. Wie schon in den Jahren zuvor gelang auch diesmal ein Spagat zwischen großem Pop und einer sehr politischen Note, die sich mehr denn je in der Wahl der Headline Acts spiegelte.
Mitte der 90er und Anfang der Nullerjahre hörte man es noch öfter, dass deutsche Festivalfans nach Roskilde fuhren. Vor allem aus Norddeutschland war die Anreise schon damals recht unproblematisch, dank der guten und bei früher Buchung recht günstigen Fährenverbindungen. Der Grund für die Anreise lag auf der Hand: Das Roskilde, das 1971 seine Premiere feierte, hatte schon immer die ganz großen Nummern auf der Bühne. Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmte also – auch wenn es nie ein besonders günstiges Festival war. Aber: Wer das Roskilde Festival nur einmal besucht hat, lernte nebenbei immer auch etwas anderes: Dass man ein Festival in der größten Größenordnung, die Europa zu bieten hat, auch als politisches Event, oder besser gesagt als politisches Statement aufziehen kann.
Leider wurden diese Reisegruppen über die Jahre immer kleiner, was natürlich daran lag, dass in Deutschland zum Beispiel das Hurricane an den Start ging. Außerdem war das Roskilde selbst ein Opfer seines Erfolgs: Für viele dänische Abschlussklassen und Cliquen ist es inzwischen ein festes Sommer-Ritual. Wer hin will, muss also schnell sein beim Ticketkauf. Trotzdem: Man würde sich wünschen, dass der Roskilde-Spirit etwas mehr um sich greifen würde. Denn dieses Festival schafft es ganz selbstverständlich, ein wirklich diverses Line-up auf die Bühnen zu stellen, sein Publikum zu inspirieren und zu verstören – und bei all dem trotzdem noch eine einzigartige Party zu sein.
Während auf den Campingplätzen (die schon eine Woche vor Beginn der Haupt-Konzerttage öffnen) Spring Break Vibes vorherrschen, kann man mittags ebenso Talkrunden mit Luisa Neubauer auf einer der Hauptbühnen sehen oder nur die fetten Headliner schauen. Auch die Grundstimmung beim Roskilde ist eine andere: Das liegt vor allem daran, dass viele Arbeiten – wie das Kontrollieren der Einlassbändchen – von oft recht jungen Volunteers übernommen werden, die nach ihren Schichten noch ins Festival eintauchen können und dementsprechend gute Laune haben. Viele Essenstände wiederum werden von Vereinen oder Jugendorganisationen betrieben, die damit Geld in ihre Kassen wirtschaften und entsprechend motiviert sind.
Ein Festival, das hierzulande gar nicht möglich wäre
Man entschuldige die lange Einführung, aber wer noch beseelt vom Roskilde Vibe eine Nachlese schreibt, denkt einfach alle paar Sätze: Eine andere Festivalwelt ist möglich! Wobei es vielleicht unfair wäre, die großen Player des heimischen Marktes mit einem Festivalkonstrukt zu vergleichen, das hierzulande in der Form vermutlich gar nicht möglich wäre und das seine Roots einfach ausdrücklich in der politischen Jugendarbeit hat.
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Aber genug der Vorrede: Stellen wir uns der Herausforderung, diese vier Konzerttage irgendwie einzufangen und gestehen uns ein, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Wer das Roskilde besucht, kann nicht alle wichtigen Gigs zu sehen bekommen. Die FOMO sollte man bei 205 Acts also von vornherein zu Hause lassen. Dafür passiert einfach zu viel auf den sechs Musikbühnen und selbst wenn man sich im Vorfeld alle Favoriten speichert und einen Zeitplan ausarbeitet, passiert es immer wieder mal, dass man im Vorbeilaufen an einer Bühne hängenbleibt und vielleicht das Konzert des Jahres sieht.
Konzentrieren wir uns also zuerst auf die Headliner: Am Donnerstag gab sich Kendrick Lamar die Ehre und auch wenn er wie immer überirdisch rappte, spaltete sein Gig die Gemüter. Denn Kendrick rappte wirklich nur, begleitet von ein paar Tänzern, hielt sich mit Ansagen zurück und ließ vor allem seine Kunst wirken. Was natürlich wie immer knallte, bei der Festivalcrowd, die den ersten Abend vor der Hauptbühne feiern wollte, aber nicht so recht ankam.
Am Freitag gab es gleich zwei Highlights auf der Orange Stage: Zum einen landete Lil Nas X mit seiner bunten Tänzertruppe, Fantasietierchen und ultra-gayen Outfits auf der Bühne und lieferte eine außerirdisch bunte Performance. Nur leider überwiegend zum Playback – was nicht wundert, wenn man sah, wie er über die Bühne tanzte, aber trotzdem. Ein wenig mehr live wäre schon geil gewesen. Aber Gedanken dieser Art wurden nach ein paar Songs dann irgendwie auch fortgewischt, weil sein Gig einfach höllisch Spaß machte und am Ende Männlein und Weiblein in sein Outfit als Gay-Legionär mit Brust-Harnisch verliebt war.
Später in der Nacht und leider bei nervigem Dauerregen enterte dann Burna Boy die Bühne. Und hier fragte man sich dann doch kurz, ob man sich das auf einem deutschen Festival vorstellen könnte: Dass ein Weltstar aus Nigeria, der auch bei uns viel gehört wird, auf einem Pop- und Rock-Festival ganz selbstverständlich die Bühne bekommt, die er verdient. Wer den sehr ausgecheckt und kommerziell produzierten Afrobeat des Nigerianers kennt, war dann vielleicht doch überrascht, wie warm und organisch seine Live-Performance klingt: Mit gut einem Dutzend Musiker:innen auf der Bühne war seine Performance eines der Highlights des Wochenendes.
Blur oder Rosalía?
Am Freitag stand man in Sachen Headline-Acts vor der fiesen Frage: Blur auf der Orange Stage oder Rosalía im riesigen Zelt der Arena Stage? Für Damon Albarn ist das Roskilde immerhin eine Herzensangelegenheit. Der Head of Music des Festivals erzählte gar, dass Damon mal auf dem Campingplatz übernachtet habe. Auch die großen Shows mit dem Africa Express, die es einmal auf eine Spielzeit von über vier Stunden brachte, hat er in guter Erinnerung. Blur beginnen das Konzert selbstbewusst mit der neuen Single „St. Charles Square“, lassen wenig später „Beetlebum“ folgen, zeigen sich entspannt und tight – und trotzdem: Man spürt irgendwie, dass man eher bei Rosalía sein muss. Und so ist es auch: Um die Arena Stage sammeln sich tausende Menschen, die nicht mehr in das – an den Seiten offenen – Zelt passen. Was dann auf der Bühne passiert ist die perfekte Verbindung aus Live-Konzert und sekundengenauer Choreographie. Selbst die Wasserpause wird dabei inszeniert: Rosalía sitzt dabei auf einem Stuhl, ein Tänzer nähert sich mit weiten Schritten und gießt ihr bedächtig, wie einer Königin Wasser in den Mund. Wenige Sekunden später singt und wirbelt Rosalía schon wieder über die Bühne, in einem weiten Kleid, das unprätentiös und schick zugleich ist. Einen sehr schönen Moment gibt es, als sie am Klavier „Hentai“ spielen will, Blur aber gerade von der Hauptbühne rüberlärmen. Da gibt sie zu, dass das zwar stört, sie aber Blur liebe und sie gerne gesehen hätte.
Später am Abend gehörte die Orange Stage dann Christine And The Queens, der sich 2019 in einem Interview als genderqueer outete und im vergangen Jahr verkündete, dass er sich als Mann identifiziert. Sein Auftritt war im wahrsten Wortsinn eine One-Man-Show: Chris teilte die Bühne nur mit einem Dutzend Kostümen, die er bei jedem Song selbst von einer Kleiderstange nahm, und einer Reihe antik anmutender Statuen. Er spielte außerdem nur Songs seines aktuellen Albums – und er tat das über weite Strecken oberkörperfrei, die Brustwarzen mit fleischfarbenen Pflastern abgeklebt und stolzierte dabei über die Bühne mit einem Swag, der jenseits aller Geschlechter lag. Auch wenn man gerne frühere Songs von ihm gehört hätte, blieb es ein großes Statement. Das galt auch für das Finale auf der Orange Stage mit Lizzo, die mit ihrem Vibe, ihrer Queerflote, ihrer Stimme und ihre Tänzer:innen wholesome Vibes in die Welt sandte.
Die Festivalorganisator:innen sagten übrigens im Vorfeld, dass man bewusst auf „agenda setting headliners“ gesetzt hätte – ganz im Sinne des aktuellen Mottos: „Utopia“. Hier zeigte sich wieder die politische Note, denn das Festival, das im vergangenen Jahr seinen 50. Geburtstag nachfeierte, bekannte sich offiziell dazu, in die Zukunft zu schauen. Signe Lopdrup, CEO des Roskilde Festivals, sagte dazu: „In diesem Jahr haben wir uns besonders darauf konzentriert, sicherzustellen, dass das Roskilde Festival weiterhin die starke Plattform für Jugendkultur bleibt, die wir in den letzten 50 Jahren waren. Nicht nur um unserer selbst willen, sondern auch um der neuen Generationen willen. Wir leben in einer Zeit, die von schweren Krisen geprägt ist, und das betrifft auch die neuen Generationen. Bei der Entwicklung des diesjährigen Festivals wurde uns immer wieder gesagt, dass es jungen Menschen schwer fällt, sich eine positive Zukunft vorzustellen.“ Deshalb versuche man, mit den Talks und Performances eine Art konstruktiven Optimismus zu verbreiten. Here Ziele – die man diesem Festival aber glatt abkauft.
Rock-Pathos ist kein Männer-Ding
Schon meterweise Text geschrieben und trotzdem bisher nur die Headliner besprochen. Was bleibt noch zu sagen? Viel zu viel. Der Auftritt von Ethel Cain zum Beispiel war eine einzige Messe, der von Fever Ray ein herrlich irre Kostümparte, der von Rina Sawayama der perfekte Beweis, dass Rock-Pathos kein Männer-Ding ist. Auch die dänischen Acts überzeugten, allen voran Brimheim, die am Donnerstagabend auf der Avalon Stage mit gut eingesetztem Pathos und einem herrlichen Bühnenbild das Publikum verzauberte. Japanese Breakfast brachte enstpannte Vibes und erntete viel Liebe, 070 Shake hätte man lieber später in der Nacht als tagsüber gesehen, aber sie hatte offenkunding eine gute Zeit, während am Bühnenrand ihre aktuelle Freundin Lily-Rose Depp entspannt mit-vibete. Der Gewinner am Samstag war für viele dann Loyle Carner, der sichtlich gerührt war von der Begeisterung des Publikums und sich nur mit Mühe die Tränen der Rührung verkneifen konnte.
Ebenso spannend waren aber die Ausflüge in Länder und Musikrichtungen, die man noch nicht auf dem Schirm hatte und die auf dem Roskilde immer erstaunlich gut funktionieren. Der mitreißende Frafra-Gospel der Ghanaerin Florence Adooni zum Beispiel oder die iranisch-israelische Popmusik von Liraz, die Teile ihrer letzten Alben mit iranischen Musikerinnen aufnahm, die dafür ihre Freiheit riskierten.
Das Roskilde ist außerdem gut daran, spannendes Geschrei auf die Bühne zu bringen: Hier konnte man sich vorzüglich von Acts wie Ithaca, Chat Pile oder den Dänen Eyes anbrüllen lassen, was immer wieder eine befreiende Wirkung hat und hilft den Overkill der Einflüsse ein wenig abzubauen.
Man könnte noch stundenlang weiterschreiben – aber wer soll denn das alles lesen? Das Roskilde hat es jedenfalls schon wieder geschafft, seinen einzigartigen Spirit zu bewahren und auch wenn der deutsche Festivalmarkt in den letzten Jahrzehnten aufgeblüht ist, sollte man sich diese Erfahrung auch nur einmal im Leben geben. Sei es auch nur, um das zu merken, was der Artikel in der Headline verspricht: Eine andere Festivalwelt ist möglich.