Spanien für Dissidenten


Immer auf Achse: Als die drei Pioniere zum erstenmal Richtung Indien pilgerten, gab es den Begriff Weltmusik noch nicht. Und als die Kollegen gerade mal lernten, wie man Ethnobeat buchstabiert, pendelten die Dissidenten schon regelmäßig zwischen Casablanca, Berlin und Toronto hin und her. Ihr Hauptquartier richteten sie in der spanischen Metropole Madrid ein, wo sie sich nach der Fertigstellung des neuen Albums OUT OF THIS WORLD für ME/Sounds als stadtkundige Fremdenführer betätigten. Doch jetzt wollen die Rock-Nomaden in Berlin endlich ein wenig seßhaft werden.

Das Schlüsselwort für Madrid heißt movida“, erklärt Uve Müllrich. Diese movida („Bewegung“) erinnert an das Swinging London der 60er Jahre. Sie erfaßte auch die Dissidenten, die sowieso zwischen Marokko und Deutschland, zwischen Orient und Hightech-Welt, hin- und herpendelten, seitdem sie mit ihrem Album SAHARA ELEKTRJK nicht nur die Wanderdünen zwischen Hohem Atlas, Großem Erg und Tassili-Gebirge in rhythmische Schwingungen versetzt, sondern auch das Pop-Publikum in Italien und Spanien elektrifiziert hatten.

Die Dissidenten, von Haus aus immer in Bewegung, tauchten in Madrid elegant in la movida ein. „Da war einfach immer was los. Man hatte spezielle Clubs und Cafes, wo sich die jungen Musiker und Filmleute trafen. Und diese Szene liebt das Schlangeslehen. Denn die movida ist immer da, wo sich viele Leute vordem Eingang anstellen und geduldig darauf warten, eingelassen zu werden.“ So konzentriert sich die kulturelle Avantgarde auf einige Schlüssel-Positionen im nächtlichen Highlife der spanischen Hauptstadt.

Der ME/Sounds-Scout aber lernt auf seinem Städtetrip zunächst die Kehrseite der Bewegung kennen: die Verstopfung, den Stillstand. „No pasaran“ („sie werden nicht durchkommen“) – der alte revolutionäre Slogan aus dem spanischen Bürgerkrieg gewinnt jeden Tag neue Aktualität, wenn in Madrid der Verkehr zusammenbricht. „Hier herrscht auf den Straßen das totale Chaos“, stöhnen die Dissidenten. In der Tat: Nicht nur in der Rush-Hour sind die großen Avenidas mit den schattigen Allee-Bäumen hoffnungslos verstopft.

Aber auch nachts um zwei bewegt sich in der City noch alles. Wir befinden uns auf der Plaza de Espana, dem markantesten Platz der Innenstadt, von dem aus die Gran Via, Madrids Prunk- und Pracht-Boulevard, mitten hinein ins volle Leben führt. Im Neonlicht der Leuchtreklamen wuseln Nachtschwärmer in Rudeln durch die Gegend wie DDR-Besucher zur Hauptgeschäftszeit über den Ku-Damm. Fremdenführer Müllrich kennt sich bestens aus: „Hier ist die ganze Nacht lang was los. “ Er wohnt wie Keyboarder und Schlagzeuger Marion Klein an der Plaza de Espana. „Marion lebte die beiden vergangenen Jahre hauptsächlich hier in Madrid, während ich mehr unterwegs war, mich mal in Deutschland, mal in Spanien aufhielt. „Und Flötist Friedo Josch hielt derweil im deutschen Exil die Stellung.

Auf dem Weg zum Museo Chicote, dem traditionellen Künstlertreffpunkt, erläutern die Dissidenten, weshalb sie neben Toronto, Friedland und Berlin ausgerechnet die spanische Hauptstadt als Stützpunkt wählten. „Es lag aus verschiedenen Gründen nahe. Wir sind ja oft in Marokko bei unseren Freunden, und auf der Durchreise machten wir früher sowieso immer in Madrid Station. Diese im Mittelalter arabische Stadt ist wie ein Bindeglied zwischen dem Orient und Europa. Und Madrid hat kosmopolitisches Flair, aber gleichzeitig ein Klima, das eher an Marokko als an Mitteleuropa erinnert.“

Und Nelson Munoz, der Manager der Dissidenten, hat sein Büro in Madrid. „Er organisierte anfangs unsere Auftritte in Spanien und kümmert sich jetzt weltweit um die Bookings. Auch dafür ist Madrid ein gutes Pflaster. Denn immerhin haben wir hier das Zentrum der Spanisch sprechenden Welt. Sieh dich bloß mal um: Ob aus den Philippinen oder aus Lateinamerika hier triffst du Leute aus allen Nationen und bist trotzdem mitten in Europa. „

Wohl wahr: Spanien führt zur Zeit den Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft; Madrid schmückt sich mit dem Titel „Europäische Kulturhauptstadt 1990“, und 1992 steht zwöf Monate lang exzessiver Jubel und Trubel auf dem Programm: Dann nämlich feiert die Welt den 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas, die ja bekanntlich aufs Konto des einstigen hispanischen Weltreichs geht. Und zu allem Überfluß werden in zwei Jahren in Barcelona auch noch die Olympischen Spiele angepfiffen, von der WeltausStellung in Sevilla ganz zu schweigen. Bis dahin aber wird la movida zu den Trends von Gestern zählen – als griffiges Schlagwort für europäische Kulturtouristen und amerikanische Feuilleton-Reporter.

Denn schon herrscht in Madrid die post-movida; in den 90er Jahren wird ein anderer Wind wehen. Am hektischen Nightlife dieser Stadt ändert das freilich nichts. Die Madrilenos-Hipsters werden auch weiterhin auf ihre Siesta verzichten und mit fünf Stunden Schlaf pro Nacht auskommen, weil sie sonst zu viel versäumen würden. Der Regisseur Pedro Almodóvar wird auch weiterhin in seinen grellen Filmkomödien bemerkenswert häßliche, aber todschicke „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ verewigen, wie sie in den heißen Nächten von Madrid die angesagten Bars und Clubs bevölkern.

Und die Szene wird sich weiterhin in Lokalen wie „Viva Madrid“ treffen, wo man hingeht, um „tomar una copa“, um ein Gläschen zu trinken. „Da das Gläschen normalerweise riesig ist, wird das tomar una copa allerdings zur Bewährungsprobe“, meint Uve Müllrich und genehmigt sich im „Viva Madrid“ ein Schlückchen. „Ein Gin Tonic besteht hier nämlich in der Regel aus zwei Drittel Gin und einem Drittel Tonic.“

Da empfiehlt es sich, vorher einen Happen zu essen. Das wissen auch die Spanier, und deshalb gibt es überall in den kleinen Bars, die bisweilen an Pariser Bistros erinnern, die typischen Snacks, die tascas und tapas. An dieser Stelle geben die Dissidenten einen Tip für Feinschmecker: „Die besten Boccadillos mit Calamares, das sind Sandwiches mit Tintenfischringen, gibt es in einer Bar mit dem Namen La Bodia.“ Stimmt: Wir haben es ausprobiert.

Auch im Museo Chicote an der Gran Via stehen die Boccadillos, die Appetithäppchen, in der Vitrine. Dieses edle Etablissement mit den Drehtüren genießt aber auch wegen seiner Cocktails einen legendären Ruf. Hier schlürfen nicht nur Dissidenten im Exil ihren Tequila Sunrise, sondern ohne Konflikte gleich drei Generationen des Madrider Chic. Denn das Museo Chicote existiert seit den 40er Jahren, gilt als Treffpunkt der Boheme, die sich hier gerne zu tertulias, intellektuellen Stammtischrunden, zusammensetzt, und es zählte auch Ernest Hemingway zu seinen Stammgästen. Was der in Ehren ergraute Barkeeper, der seit mehr als 30 Jahren unerschütterlich und diskret seinen Dienst an der Menschheit versieht, bestätigt.

Tertulias finden wir am frühen Nachmittag auch im Cafe Gijon am Paseo de Recoletos, einer weiteren stüvollen Madrider Institution, die freilich nicht nur als Treffpunkt der Boheme, sondern auch als Kontaktadresse für die schwule Szene gilt. Hier steht den ganzen Tag in einem edlen Interieur mit holzgetäfelten Wänden und gedrechseltem Zierwerk üppiges Frühstück für Spätaufsteher wie Uve Müllrich, Marion Klein und Friedo Josch bereit.

Daran könnte man sich gewöhnen. Aber eine neue movida hat die Dissidenten erfaßt: Der Städtetrip mit ME/Sounds ist auch ihre Abschiedstour. Denn sie brechen ihre Zelte in Madrid ab. In den 90er Jahren soll Berlin, die seit dem 9. November 1989 nicht mehr geteilte Stadt, den Dissidenten als Basis für ihre weltweiten Aktivitäten dienen. Doch viel in Berlin aufhalten werden sich die Dissidenten in nächster Zukunft sicher nicht, nachdem das neue Album OUT OF THIS WORLD im WEA-Vertrieb erscheint und für 1990 eine Welttournee auf dem Programm steht. Auf eine Station freuen sich indes schon alle Drei: „Im Sommer treten wir sicher wieder bei einem großen Festival in Madrid auf. „

Das wird dann ohne Zweifel ein Heimspiel.