Spin Doctors
Spätzünder gibt es oft, doch nur wenige Rock- Bands zündeten so spät wie das „Krypto- nite" in den Taschen der Spin Doctors. Erst mit jahrelanger Och- sentour kreuz und quer durch die USA über- zeugten die vier Jung- Hippiesaus New York die Rock-Welt. Und ME/Sounds-Mitarbei- ter Jeff Giles, der im Tourbus mitreiste.
Plesenspaß für die ganze Familie ist garantiert an diesem klaren, windigen Tag in Orlando, Florida. Um den silbernen Tour-Bus der Spin Doctors. gerade auf dem Parkplatz von Disney World eingefahren, stehen aschgraue Gestalten, die in die Sonne blinzeln, als hätte man sie das erste Mal an die Erdoberfläche geschickt. Sänger Chris Barron, normalerweise die Personifikation des schrägen Neo-Hippie-Charmes der Spin Doctors. erinnert heute an eines dieser Physikexperimente, bei denen so lange Luft aus einer Dose abgesaugt wird, bis sie schließlich implodiert. Er wirkt verhärmt, untergewichtig, und zupft nervös an seinem Bart. Auf dem Weg zum Kassenhäuschen sagt er: „Ich hab keine Lust, mit fünfzig und total ruinierter Stimme noch unterwegs zu sein. Ich will Kinder haben und Gemüse anbauen. Ich will an meiner Töpferscheibe sitzen. „
Die Spin Doctors, offiziell in New York zuhause. werden dieses Jahr zehn Monate auf Tour sein, ebenso wie letztes Jahr und das Jahr zuvor. Schlagzeuger Aaron Comess hat seine Wohnung schon längst aufgegeben, und Barrons Freundin Monica fragte sich nicht nur einmal: „Wird es das wirklich wen sein? Werden wir irgendwann etwas Zeil fiireinander haben, oder soll ich dich besser gleich zum Teufel schicken?“
Um die Antwort vorwegzunehmen:
Monica hat Chris nicht zum Teufel geschickt, und wert war es das Ganze auch.
Das Debütalbum der Spin Doctors — eine unwiderstehliche Ladung spaßorientierten Hausmacher-Rocks, betitelt POCKET FÜLL OF KRYPTO-NITE —kam im Sommer 1991 auf den Markt und wurde von 60.000 treuen Doctors-Fans gekauft. Danach geriet es zunächst wieder in Vergessenheit. Nicht zuletzt deshalb, weil die Plattenfirma der Band. Epie/Associated, zu sehr damit beschäftigt war. Pearl Jam in die Charts zu hieven. Die Wende kam. als ein Radiosender in Vermont „Little Miss Can’t Be Wrong“. eines der schärferen, „moderneren“ Stücke des Doctor-Albums. zu seinem persönlichen Favoriten machte und dabei soweit ging, Epic in mehreren Briefen auf das Hit-Potential der Band hinzuweisen.
Im April „92 tauchten die Spin Doctors plötzlich wieder auf wie Phönix aus der Asche. „Little Miss“ dudelte auf allen Frequenzen, das dazugehörige Video gehörte zu den fünf meistgewünschten MTV-Clips. Mittlerweile ist das Album in Amerika weit über ¿
eine Million mal über den Ladentisch gegangen, hat mit HOMEBELLY GROOVE ein Live-Geschwisterchen bekommen und die Geschichte der Spin Doctors zu einer der erstaunlichsten — und am härtesten erkämpften — „success stories“ der letzten Jahre gemacht.
Kein Wunder also, daß die Band ab und zu einen freien Tag nötig hat. Nicht einen dieser Reisetage, an denen man Joints kreisen läßt und alte Boxvideos anschaut, während der Bus von Punkt A nach Punkt B tuckert, sondern ein richtiger freier Tag: acht Stunden Hot Dogs und Disneyland. Doch die Dame am Kassenhäuschen hat schlechte Nachrichten: Space Mountain, eine der Attraktionen in Orlando, ist für den Rest der Saison geschlossen. Die Nachricht trägt nicht gerade dazu bei, die allgemeine Stimmungslage zu verbessern.
Barron lehnt an einer Betonsäule und starrt trübselig auf die Achterbahn. Die Frage nach seinem Befinden hat heftiges Bartziehen zur Folge: „Die letzten zwei Tage war ich ganz schön kaputt. Manchmal geht es mir gar nicht gut, ich laß’einfach zuviel an mich ran. Letzte Woche hatten wir acht 15-Stunden-Tage am Stück. Ein paarmal waren wir sogar 24 Stunden auf den Beinen. Selbst wenn du im Bus einschläfst, bist du beim nächsten Schlagloch wieder wach. So ein Lebenstil laugt dich aus. Ich bin mal mit einem Freund zu einem chinesischen Arzt gegangen, der unser Alter geschätzt hat. Bei meinem Freund lag er richtig. Mich hat er auf 29 geschätzt, dabei war ich damals gerade erst 23. „
Die Spin Doctors beschließen, den Raumschiffen im Epcot Center einen Besuch abzustatten. Barron schüttelt den Kopf. „Ich muß mir unbedingt ein richtiges Micky-Maus-Shirt besorgen.“
Sekunden spater ist er in der Menge verschwunden. Gitarrist Eric Schenkman wickelt an einem Münztelefon irgendwelche dringenden Geschäfte mit Epic Records ab. Jedes seiner höflichen, aber intensiven Gespräche endet mit dem surrealen Refrain.
„Nein, ihr könnt mich nicht zurückrufen, ich bin in Disneyland!“. Mit wenigen Ausnahmen haben die Verantwortlichen bei Epic erst vor kurzen aufgehört, die Spin Doctors als reine Tour-Sklaven zu sehen. Für das Cover der ersten, mittlerweile nicht mehr erhältlichen EP verwendete Epic ein Foto, auf dem sechs Personen zu sehen sind — die vier Spin Doctors plus zwei Roadies. Angesichts der zunächst äußerst reservierten Reaktionen auf POCKET FÜLL OF KRYPTONITE war dieses Desinteresse vielleicht sogar verständlich. Bei Epic entschied man jedenfalls, die Band sei noch nicht reif für den ganz großen Erfolg und steckte ihnen etwas Geld zu, um ihre endlose Tournee kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten anzuleiern.
„Die meiste Zeit haben wir Epic gar nicht gesagt, wie hart die ganze Sache eigentlich war“, erinnert sich Barron. „Am Telefon klangen wir immer ganz fröhlich: ,Wir sind mit dem Laster unterwegs. Probleme? Nö, überhaupt nicht.‘ Wir logen ihnen was vor, weil wir eine dieser abgebrühten Bands sein wollten.“
Auch Richard Gnfhths. Präsident von Epic/Associated und langjähriger Fan der Band, äußert sich mittlerweile erstaunlich offen zu dieser Phase: „In der Firma gab es nur ganz wenige, die an die Band glaubten. Noch weniger angesagt als die Spin Doctors konnte man eigentlich überhaupt nicht mehr sein. Sie hatten nichts zu tun mit dieser ganzen Seattle-Bewegung, und wir konzentrierten uns damals sehr auf Pearl Jam. Ich entschied mich deshalb ganz bewußt dafür, sie in der Firma nicht mit Gewalt durchzudrücken. Sie sollten ganz langsam, ganz natürlich aufgebaut werden. Es gab Zeiten, da hätten mich schon 50.000 Platten ziemlich glücklich gemacht. Jetzt glaube ich, wir schaffen 2 Millionen.“
Natürlich fährt Epic nun heute ganz andere Promo-Geschütze auf, obwohl einige Mitarbeiter meinen, das Image der Band sei verbesserungswürdig. „Es gab ein paar Beschwerden“, erinnert sich Franky LaRocka, der die Spin Doctors 1990 unter Vertrag nahm, „Sie haben keine Tattoos! Sie haben keine grünen Haare!‘ Als die Band bei Saturday Night Live auftrat, hieß es: „Zieht denen doch mal was Ordentliches an. Die sehen ja aus wie Penner.'“
Schenkman zumindest — in Greenpeace-T-Shirt, zerrissenen Jeans und mit Kopftuch — ist jeder Zoll ein echter Spin Doctor. Endlich vom Telefon zurück, faßt er den Inhalt seiner Telefondebatten mit Epic in einem Satz zusammen: „Jetzt, wo der Umsatz stimmt, will unsere Firma auf einmal mitreden. “ Wenn man nach dem geht, was er danach, sichtlich entspannter, bei einem Drink im Epcot Center sagt, liegt die Betonung wohl auf wollen: „Was ich an den Spin Doctors am meisten liebe ist, daß wir, egal wie viele Platten wir verkaufen, immer noch so radikale Sachen machen wie 30 Minuten einfach rumzujammen. Sicher, das ist pure Sturheil, und vielleicht versaut es uns den Rest unseres Lebens, aber wir tun’s halt einfach.“
Acht Stunden spater sitzen die Spin Doctors wieder im Bus. Comess trägt einen gelben Pinocchio-Hut mit ei- ¿
ner roten Feder und Barron das heiß ersehnte Micky-Maus-Shirt, das er die nächsten vier Tage nicht mehr ausziehen wird. Nachdem das obligatorische Boxvideo eingelegt ist und Marihuana-Schwaden über die Sitze wabern (zwei Bandmitglieder rühren das Zeug nicht an, die anderen beiden machen das durch vermehrten Konsum wieder wett), werden die wichtigsten biographischen Daten ausgepackt.
Chris Barron. 24, wurde in Australien geboren und war, nach eigener Einschätzung, ein „merkwürdiges, ausgeklinktes Künstler-Kind“, das vorzugsweise Bob Marley und Buddy Holly hörte. In der Schule freundete er sich mit John Popper an, mit dem er, nach einem Jahr Töpferkurs am College, nach New York ging, um Musiker zu werden. „Wir philosophierten eine Menge“, erinnert sich Popper, „und wir einigten uns darauf, daß man, um ein richtiger Rock ’n‘ Roiler zu werden, ein Samurai sein muß — unschlagbar auf irgendeinem Gebiet. Ich war ein Samurai an der Mundharmonika. Chris war ein Samurai mit der Feder. Er schrieb diese wahnsinnigen Texte, die voller liierarischer Anspielungen steckten. „
Eric Schenkman, 29. wuchs in Toronto auf. Sein Vater war Cellist. seine Mutter gab Flötenstunden. Mit zehn Jahren hatte er bereits eine Beatles- und eine Zappa-Phase hinter sich. Mit 21 und guten, nichtmusikalischen Absichten in New York angekommen, traf er „diesen Punk-Rocker namens Tommy, der einen Gitarristen brauchte, und ich sagte, ,Nein, nein, nein, ja!'“
Aaron Comess verbrachte seine Kindheit in Dallas. Zunächst „großer Kiss-Fan'“. wandte er sich als Teenager dem Jazz zu und ging später auf die gleiche Schule, auf der auch Edie Brikkell und der Trompeter Roy Hargrove ihre musikalische Grundausbildung erhielten. Mit dem Abschlußzeugnis in der Tasche spielte er zunächst „in Jazzbands und Bluesgruppen, Gigs bei Hochzeiten, wo alle Smoking trugen.“
1989 spielten John Popper, Enc Schenkman und Chris Barron zusammen in einer Band namens Trucking Company. Ais Popper seine Aufmerksamkeit endgültig der Band Blues Traveler zuwandte, taten sich Schenkman und Barron mit Comess zusammen und gründeten die Spin Doctors. Das erste Konzert fand in einem Studentenheim der Columbia University statt: “ Um halb zehn Uhr morgens kamen wir zu Erics Haus zurück“, lacht Barron. „Wir trugen seinen Verstärker zu seiner Wohnung hoch — er wohnt im fünften Stock! Wir schafften es gerade bis zum Treppenabsatz, und Eric meinte: ,Seht ihr, so ist das. Wollt ihr das wirklich ?'“
Bassist Mark White. der ein paar Monate später dazustieß. ist der schwierigste Kunde in der Band, auch wenn er allzu enthusiastische Fans mit dem Satz in die Realität zurückzuholen pflegt: „Ich hab früher bei McDonald’s gearbeitet, also regt euch wieder ab, vwdammt nochmal!“Vfhiieist3,in New York geboren und bevor er bei den Spin Doctors vorspielte, hatte er drei Jahre in einer Poststelle gearbeitet, aber schon mit Anfang 20 Erfahrungen in verschiedenen New Yorker Bands gesammelt. „Die Spin Doctors hatten die richtige Einstellung“, erklärt er seinen Abschied von der Frankiermaschine. „Schon bei der ersten Probe dachte ich, .Diese Jungs sehen vielleicht ein bißchen abgehoben aus, über sie wissen ganz genau, was sie tun. ‚“
Chris Barron hat aufgehört, an seinem Bart zu zupfen. Gestern abend haben die Spin Doctors in Jacksonville, Florida gespielt, und es gab sogar ein paar Stunden Schlaf, während der Bus auf dem Highway in Richtung Atlanta donnerte. Jetzt ist es sechs Uhr abends, und wir nehmen einen Happen zu uns, bevor das Konzert beginnt. Barron sieht besser aus als in Orlando. Er schlingt sein Essen herunter und hüpft hin und her wie ein Kastenteufelchen. Ein Interview mit Barron ist eine ziemlich ungewöhnliche Angelegenheit. „Ich bin halt ein bißchen bekloppt“, sagt er. „Ich trinke Limo mit Koffein drin und schreibe spinnerte Texte. Wenn bei mir ’ne Schraube locker wäre und ich in der Klapsmühle säße, wäre ich einer von diesen harmlosen Typen mit den Schmetterlingsnetzen. Es ist schon komisch — du kommst groß raus und auf einmal finden dich die Leute interessant.“
Barron begibt sich gern auf philosophische Ausflüge, die des öfteren ins Niemandsland führen. Er erzählt dir. daß schöne Dinge zu schaffen sein wichtigstes Ziel ist. Er redet davon, daß er eigentlich am liebsten nach Hause fahren würde, um sein Buch über keltische Runen zu lesen, Gedichte zu schreiben und zu töpfern. Barron läßt sich gern treiben, und zwar so ausgiebig, daß er ganz einfach vergißt, um welche Frage es geht oder in welcher Stadt er sich gerade befindet. Irgendwann sagt er: „Ich möchte Dinge, die man nicht festhalten kann. Ich möchte irgendwie eine gute Zeil haben und mit Leuten reden und etwas über die One lernen, aus denen sie kommen. “ Etwas später hält er einen fünfminutigen Vortrag über die Zusammenhänge zwischen Rock. Shakespeare. Tschaikowsky und den Spin Doctors.
Als unterbelichteter Rock n‘ Roller möchte Barron nicht eingestuft werden, aber er scheint offensichtlich am Leadsänger-Syndrom zu leiden, das sich in nagenden Selbstzweifeln und in einem verzweifelten Bedürfnis nach Privatsphäre äußert. Auf dem Weg zum Restaurant wurde er von Autogrammjägern umringt, was ihm eindeutig unangenehm war. Einem Fan. der ihm unaufhörlich auf die Schulter klopfte, sagte er: „1%? willst du, ich bin nur ein blöder, arschgesichliger Typ wie jeder andere auch, Mann!“