Stanley Clarke


Bassisten waren im Jazz lange Zeit Stiefkinder des Publikums. Und in der Rockmusik sind sie es meist heute noch. Die Jazzbassisten haben sich in den letzten zwanzig Jahren mehr und mehr nach vorn gespielt, weil sie die abgegriffenen Begleitfloskeln etwa des „walking bass“ zugunsten einer beweglicheren rhythmischen Betonung aufgelockert oder ganz über Bord geworfen haben. Verstärkt wurden auch die melodischen Möglichkeiten der „Oma“, wie der Kontrabaß im Jazzer-Slang ironisch heißt, ausgenutzt. Spätestens seit den 50er Jahren, als sich Musiker wie Charlie Mingus, Ray Brown und Oscar Pettiford mit ihrem gleichermaßen melodischen wie rhythmisch und harmonisch durchsichtigen Spiel hervortaten, sind die modernen Jazzbassisten immer mehr zu gleichwertigen Partnern ihrer Kollegen geworden. Etliche Bassisten, Ron Carter und Jimmy Garrison etwa oder in Europa Eberhard Weber, haben es so geschafft, in die vorderste Reihe, die im Jazz bisher Bläsern, Pianisten, Gitarristen oder höchstens noch Schlagzeugern vorbehalten war, vorzudringen.

In der Rockmusik dagegen ist die Position des Bassisten meist noch ziemlich eingeschränkt. Nur wenige Musiker — Jack Bruce und Chuck Rainey (ein gefragter US-Studiomusiker) zum Beispiel — konnten aus der Anonymität der tiefen Töne heraustreten. Dennoch hat auch Bruce, der wohl erfolgreichste Rockbassist, längst nicht den in dieser Musik bei Gitarristen, Sängern oder Tasteninstrumentalisten häufigen Status einer „Superstars“. Das verhältnismäßig geringe Image des Bassisten in der Rockmusik ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, daß Stanley Clarke trotz seiner Verkaufserfolge kaum bekannt ist. Denn Stanley ist zwar von seiner musikalischen Grundlage her eindeutig im Jazz verwurzelt, seine Platten aber werden vorwiegend von einem eher rockorientierten Publikum konsumiert. Offensichtlich fühlt sich trotz der oft zitierten Aussöhnung von Jazz und Rock niemand so recht für ihn verantwortlich.

Der dunkelhäutige Stanley Clarke stammt aus „gutem Hause“. Am 30. Juni 1951 wurde er in Philadelphia geboren. Seine Mutter, eine Opernsängerin, ließ ihn schon früh Unterricht auf Violine, Cello und Kontrabaß nehmen. Auf der Highschool setzte er seine Studien fort und spielte nach Schulabschluß in lokalen Rockbands. Er stellte jedoch bald fest, daß ihn das zu sehr einengte, und lief über zum Jazz.

An der Philadelphia Musical Academy belegte er die Fächer Improvisation, Harmonielehre und Musiktheorie. 1971 zog der Zwanzigjährige nach New York und wurde prompt entdeckt. Horace Silver, Art Blakey und Stan Getz, Musiker, die schon immer ein waches Auge auf den Nachwuchs hatten und bei denen spätere Stars wie Wayne Shorter, Joe Henderson, Keith Jarrett und Gary Burton ihre erste große Chance bekamen, holten sich das blutjunge Talent in ihre Bands. Stan Getz, Art Blakey und der Freejazz-Saxophonist Pharoah Sanders (einer der wichtigsten Musiker, die nach dem Tode von John Coltrane dessen Musik lebendig hielten und weiterentwikkelten) zogen ihn zu Plattenaufnahmen heran.

Schon 1972 war Stanley Clarke einer der meistbeschäftigten Bassisten in New York. In diesem Jahr war er an Plattensitzungen des Bebop-Veteranen Dexter Gordon, des Pianisten Stanley Cowell, der aufsehenerregenden „Also sprach Zarathustra“-Produktion des Arrangeurs Eumir Deodato und an Aufnahmen der Saxophonisten Joe Farrell, Gato Barbieri, Joe Henderson und Buddy Terry beteiligt. In das Jahr 1972 fällt aber auch das für Stanley bisher folgenschwerste Ereignis seiner Karriere: Die Gründung der Gruppe „Return ToForever“ mit dem Pianisten Chick Corea, mit dem Clarke schon bei Stan Getz zusammengearbeitet hatte. Durch das im Februar in New York für die Münchner Firma ECM aufgenommene Album „Return To Forever“ wurde Stanley schlagartig einem breiten Publikum bekannt. Die Gruppe, zu der neben Corea und Clarke noch Joe Farrell (Sax und Flöte), die brasilianische Sängerin Flora Purim und deren Mann, der Schlagzeuger und Perkussionist Airto Moreira gehörten, wurde bald in einem Atemzug mit den schon zwei Jahre zuvor formierten Weather Report genannt.v In der Tat gibt es auf den ersten Blick verblüffende Ähnlichkeiten zwischen beiden Ensembles. Beide werden von einem intelligenten, raffinierten Keyboard-Mann angeführt, wobei der Wetteronkel Joe Zawinul der bissigere, Chick der romantischere ist. Beide hielten sich einen vitalen Saxophonisten, wobei Wayne Shorter bei Weather Report immer wieder Auslöser für verblüffende Stimmungswechsel ist, während Farrell eher die Anregungen seiner Kollegen auf die Spitze der Erregung trieb. In beiden Gruppe rührte zunächst Airto die Trommel. Und schließlich spielten hier wie dort zwei aussergewöhnliche junge Bassisten tragende Rollen: Bei Weather Report war es der 1947 geborene Tscheche Miroslav Vitous, wie Clarke ein Musiker, der keine technischen Schwierigkeiten auf der als umständlich verschrieenen Baßgeige zu kennen scheint.

Doch mehr als sein amerikanischer Gegenspieler streicht Vitous allzu oft seine Schnelligkeit und seine Fingerfertigkeit heraus, während Stanley Clarke – auch er kann sich nicht immer von dieser zur Schau gestellten Artistik freimachen — mehr Wert auf Eleganz, musikalische Logik und „seelenvolles“ Feeling legt.

Von Anfang an hatte Clarke bei Return To Forever großen Anteil am Konzept, weil Chick Corea viele seiner Kompositionen und Arrangements ins Repertoire aufnahm. Noch 1972 konnte Stanley so mit Chicks Hilfe seine erste Platte unter eigenem Namen einspielen.

Die zweite Clarke-Platte (1974), sie heißt schlicht „Stanley Clarke“, zeigte den Musiker von zwei sehr gegensätzlichen Seiten. Zum Teil geht es sehr rockig und oft auch etwas monoton zu. Stanley spielt hier vor allem Baßgitarre und bevorzugt dabei den im Dixieland beliebten „Slap Bass“-Effekt: Die Saiten werden so hart angerissen, daß sie beim Zurückschnellen knallend gegen das Griffbrett schnellen. Der rhythmisch schlagende Trick nützt sich allerdings schnell ab. Die zweite Seite bringt zunächst ein spanisch inspiriertes Konzert für AkustikBaß und Streicher, das Mike Gibbs arrangiert hat. Die Improvisationen sind logisch in den durchsichtigen Klangteppich eingewoben. Dann folgt die mehrsätzige „Life Suite“, bei der sich zu den Streichern noch Bläser, der Ex-Mahavishnu-Tastenmann Jan Hammer, Gitarrist Bill Connors und der Ex-Mües Davis-Trommler Tony Williams gesellen. Sie alle zusammen schaffen ein Klangspektrum mit sehr intensiven Farben, aus denen Stanleys volltönende Baßlinien hervortreten.

Stanley Clarkes drittes Album „Journey To Love“ ist für mich sein gelungenstes Werk. Hier hat er die Arrangements selbst verfaßt. „Journey To Love“ liefert den Beweis, daß „mehr Rock“ nicht gleich „weniger Geschmack“ bedeuten muß, wie man unter Jazzern manchmal lästert. Mit von der Partie ist auf dieser Platte der Rockgitarrist Jeff Beck, von dem ich noch nie ein so aufregendes Solo gehört habe wie in „Hello Jeff. Bei „Song To John“, dem 1967 verstorbenen Saxophonisten John Coltrane gewidmet, verwenden die drei Akteure (Clarke, Corea und der Gitarrist John McLaughlin) ausschließlich unverstärkte Instrumente. Das zugleich verspielte wie konzentrierte Treffen gehört zu den schönsten Kollektivimprovisationen, die in der letzten Zeit auf Platte erschienen sind. Im „Concerto For Jazz/Rock Orchestra“ schließlich werden mit sicherem Instinkt alle Möglichkeiten natürlicher und elektronischer Klangerzeuger durchgespielt. Stan spielt hier unter anderem seinen Piccolo-Baß über einen Synthesizer und setzt seine Stimme als Blasinstrument ein.

„School Days“, die bisher letzte Produktion, zeigt Stanley Clarke als seltsam launischen Musiker. Da gibt es brutal und seelenlos hingefetzte Nummern wie das Titelstück, bei denen der Virtuose sich darauf beschränkt, seine gnadenlose technische Meisterschaft zu beweisen; daneben stehen zärtlich intensive Stimmungsbilder wie „Quiet Afternoon“ mit einem sehr beweglichen Piccolo-Baßgitarren-Solo.

Was ist nun so Besonderes an diesem Bassisten, der seit Jahren bei Kritiker- und Leserumfragen einschlägiger Zeitschriften immer auf den vordersten Plätzen rangiert? Nun, zunächst ist es tatsächlich seine enorme Virtuosität, die es ihm ermöglicht, Kunststücke auf dem Baß zu vollbringen,die sonst auf diesem urigen Instrument uneihört sind. Stanley spielt den Baß über weite Strecken wie eine Art überdimensionale Gitarre mit einer flüssigen Mischung aus einzeln angeschlagenen Tönen und vollmundigen Akkorden. Er hat den sogenannten Flamenco-Baß-Stil, der schon vor Jahren von Scott Lafarro und Jimmy Garrison entwickelt wurde, bis in die letzten Nuancen ausgelotet. Auf fast jeder seiner Platten von „Return To Forever“ bis zum letzten Corea-Album „My Spanish Heart“ gibt es Passagen oder ganze Stücke, bei denen er seine Vorliebe für spanische Harmonien, Rhythmen und Melodien voll ausspielen kann.

Nicht zuletzt beherrscht Clarke aber auch die traditionellen Baß-Spielweisen des Jazz (etwa auf den Platten mit Dexter Gordon) so selbstverständlich und sicher, daß sie nie hohl klingen. Als Gitarrist auf dem Elektro-Baß verfügt er über eine durchaus eigenständige Attacke, doch geht ihm gerade mit diesem Instrument allzu oft der Gaul der Virtuosität durch. Das hat zur Folge, daß musikalische Zusammenhänge oft keine Zeit haben, sich behutsam zu entwickeln. Eine leere Oberflächlichkeit spiegelt dieses Dilemma wieder. Der umständliche Kontrabaß zwingt offensichtlich mehr zum Nachdenken. Vielleicht sollte sich Stanley Clarke tatsächlich ausschließlich der „Oma“ widmen, denn gerade eben hat ein junger Mann die Szene betreten, der sich auf die Baßgitarre spezialisiert hat und auf diesem Instrument wirklich umwerfend Neues zu zupfen weiß: Jaco Pastorius.

(Wer zum Teufel ist nun das schon wieder? – Die Redaktion, Abt. Rock.)