Steinige Ufer
Ich sass neben ihm, es war morgen, und er rauchte seine erste Zigarette. „Ich muss mich beeilen“, sagte er, stand aber nicht auf. „In einer Stunde muss ich auf dem Flugplatz sein!“ Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und fand, dass er zu stark war. Thomas war nervös, er legte seine Zigarette in den Aschenbecher, stand auf und suchte seine Autoschlüssel. Irgendetwas suchte er immer, er konnte sich nicht angewöhnen, alte Dinge auf einen festen Platz zu legen.
„Ich hoffe, dass Du Ben magst“, sagte er beiläufig und suchte unter der Couch. „Warum sollte ich ihn nicht mögen“, antwortete*ich, obwohl ich mir nicht sicher war Ich kannte Ben nicht, hatte nur viel von ihm gehört. Thomas besass eine ganze Reihe Fotos, auf denen er mit Ben zu sehen war. Sie waren Brüder. Zwillingsbrüder sogar, dabei konnte ich keinerlei Ähnlichkeit festeilen. Ausserdem wusste ich, dass Ben in Berlin studierte und dass er der Mittelpunkt der Familie war. Früher hatte Thomas sehr darunter gelitten. Das trug dazu bei, dass ich keinen allzu guten Eindruck von Ben hatte.
Thomas fand seinen Autoschlüssel und fuhr weg. Systematisch begann ich die Wohnung aufzuräumen, obwohl ich wusste, dass Thomas aufgeräumte Zimmer nicht mochte. Die Sonne schien ins Zimmer und ich öffnete die Fenster. Draussen war reges Leben, obwohl es erst kurz nach acht Uhr war. Kinder spielten, Autos hupten und eine Frau lachte. Alles war wie immer, und doch war In mir eine Spannung, die ich mir nicht erklären konnte.
DER ZWILLINGSBRUDER
Es klingelte und ich wusste nicht, ob ich im Morgenrock die Tür öffnen sollte. Es klingelte zum zweitenmal, diesmal ungeduldiger und energisch. Ich öffnete die Tür. Draussen stand ein Knabe, der mir bekannt vorkam. Und ganz plötzlich wusste ich, dass es Ben war. Ben, der Wunderjunge. Ben .. . Thomas Bruder. „Entschuldigen Sie“, sagte die Stimme. „Hab‘ ich mich in der Hausnummer geirrt, oder …“ Er beendete seinen Satz nicht. „Sie haben sich nicht geirrt“, sagte ich. „Kommen Sie herein!“
Zwei Stunden später kam Thomas zurück. Er war erschöpft und schwitzte, denn er hatte Ben überall gesucht. Ich hatte inzwischen Kaffee gekocht und versuchte, ein belangloses Gespräch in Gange zu bringen.
„Ich musste eine Maschine früher nehmen“, berichtete Ben. „Tut mir leid, dass Du mich gesucht hast!“ „Ach was“, sagte Thomas. „Ich freu‘ mich, dass Du endlich hier bist!“ Während sie sich unterhielten, Erinnerungen austauschten und lachten, lehnte ich mich zurück und beteiligte mich nicht an dem Gespräch. Ich stellte fest, dass sie äusserlfch sehr verschieden waren. Thomas hatte blonde Haare und graue Augen, Ben dagegen war dunkel. Er wirkte etwas älter als Thomas, er war ruhiger und ausgeglichener. Er gefiel mir.
VERBOTENE TRÄUME
Nach einer Woche wusste ich, dass ich Ben liebte. Und dieses Gefühl In mir war so stark, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte. Ben war mir in so vielem gleich, er hatte meine Interessen, liebte die gleichen Dinge wie ich. Mit ihm konnte ich stundenlang diskutieren, Thomas dagegen mochte keine langen Gespräche. Wir gingen jeden Abend aus, meist zu dritt, nie aber war ich mit Ben allein. Nachts lag ich neben Thomas, konnte nicht einschlafen und dachte über die ganze unerträgliche Situation nach. Manchmal nahm mich Thomas in seine Arme und flüsterte schlaftrunken „woran denkst Du Schatz?“ und ich antwortete jedesmal: „An nichts .. .“ Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass ihm niemals der Gedanke kam, ich könnte lügen. Und als ich dann seine gleichmässigen Atemzüge neben mir hörte, versuchte ich, einen Ausweg zu finden. Es gelang mir nicht. Als der Abschied immer näher rückte, wollten wir noch einmal an die See fahren. Das Wetter war herrlich, wir packten unsere Sachen. Plötzlich klingelte das Telefon.
Thomas nahm den Hörer und als das Gespräch beendet war, schimpfe er. „So ein Mist“, fluchte er. „Mein Kollege ist krank geworden und mein Chef will, dass ich sofort komme. ..!“ „So schlimm ist das nicht“, sagte Ben. „Dan bleiben wir hier“. „Kommt gar nicht in Frage“, widersprach Thomas. „Ihr fahrt ans Meer, das Wetter ist schön. Was wollt ihr mehr?“ Ich wollte ihm widersprechen, aber er verschloss mir mit seiner Hand den Mund.
Ich lag auf dem Bauch, es war warm und Ben lag neben mir. Er hatte Sand in der Hand und lies ihn auf meine Beine rieseln. So lagen wir schon einige Stunden nebeneinander. Wir sprachen nicht viel.
„Morgen bin ich wieder in Berlin“, sagte er bekümmert und ich rollte mich auf den Rücken und sah ihn aufmerksam an. „Musst Du eigentlich zurück“, sagte ich. „Du könntest doch noch etwas länger bleiben. Deine Semesterferien sind noch nicht zu ende…“ „Nein“, sagte er plötzlich wütend. „Ich fliege morgen. Es ist nicht gut, wenn ich noch länger bleibe“. Ich sagte nichts, weil ich keine Antwort wusste. Plötzlich setzte er sich und nahm meinen Kopf in seine Hände. „Merkst Du wirklich nicht, wieviel Du mir bedeutest? Wenn ich länger bleibe, dann ist das nicht gut. Nicht für Dich und schon gar nicht für Thomas“. Als ich sein Gesicht sah, wusste ich, dass er die Wahrheit sprach, er liebte mich genau so wie ich ihn. „Wir müssen es ihm sagen“, widersprach ich. Er schüttelte nur stumm den Kopf. „Nein, Thomas liebt dich und ich… ich würde ihm nie sein Mädchen wegnehmen. Wenn ich Dich unter anderen Umständen kennengelernt hätte, dann wäre alles anders gewesen. So aber…“ „So aber“, beendete ich seinen Satz,,, hat alles keinen Zweck“. Ich war plötzlich unheimlich traurig und ein Gefühl von Sinnlosigkeit kam in mir auf.
Schweigend packten wir unsere Sachen. Es war kühler geworden. „Dann bleibt mir also nichts mehr“, sagte ich. „Dich darf ich nicht lieben und Thomas liebe ich nicht mehr…“ „Du wirst ihn wieder mögen“, antwortete er ruhig.
Langsam gingen wir am Wasser entlang und entfernten uns immer mehr von den Strandkörben. Als wir allein waren setzten wir uns. Die Sonne war untergegangen und die Dunkelheit brach herein. Es war kalt und der Wind wehte uns den Sand ins Gesicht. Ben legte seinen Arm um mich und für einen kurzen Augenblick vergass ich alles. Was war geschehen? Ben sass neben mir und küsste mich. Es war dunkel und wir waren allein. Der Wind wehte und leise schlugen die Wellen gegen die steinigen Ufer.
ABSCHIED OHNE TRÄNEN
Ich sass neben ihm, es war morgen und er rauchte seine erste Zigarette.
„Jetzt sitzt Ben im Flugzeug“, sagte Thomas gedankenverloren. „Ich wollte ihn begleiten, aber er wollte allein gehen.
Verstehst Du das?“
Ich antwortete nicht, sondern nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Er fuhr fort: „Armer Ben, ich glaube, er hat sich in Dich verliebt …“
„Armer Thomas“, murmelte ich, ohne dass er meine Worte verstehen konnte, „ich bin in ihn verliebt!“
Er schien meine Traurigkeit bemerkt zu haben und stand auf. „Wollen wir ein Eis essen? Oder ins Kino gehen? Wir können aber auch ans Meer fahren, ich habe heute frei…“ „Nein. . . nicht ans Meer“, sagte ich. Er sah mich aufmerksam an. „Vielleicht sollte jch Dir wünschen, dass er zurückkommt. ‚ Ich sah aus dem Fenster. Der Himmel war blau und hoch oben, über den Wolken, schwebte lautlos ein Flugzeug. Ich sah ihm nach, bis Ich nur noch die Wolken sehen konnte. „Vielleicht“, flüsterte ich und schluckte die heraufsteigenden Tränen hinunter.