Süttdorf Open Air


Festival für Frühaufsteher: neun Uhr Einlaß, Beginn elf Uhr. Wer könnte es der geplagten Reporterin krumm nehmen, daß sie sich das Münsteraner Heavy-Metal-Quintett MAD MAX, die mit Material ihrer LP Stormchild zum Wecken aufspielten, schenkte. Die Briten-Band The Name ebenso wie der Festival-Eröffner im Management der Majokri-Veranstalter, servierte danach ein dünnes Rock-Süppchen mit New Wave-Einlage. Anerkennunugsbeifall.

Winfried Trenkler, Conferencier des Live-Ereignisses auf dem Bolzplatz der Emsland-Gemeinde, kündigte gegen halbzwei stolz an, daß „Schüttorf ans Musikgeschehen der Welt angeschlossen sei.“ Der Radio- Diskjockey meinte damit Working Week und er meinte richtig. Das Kern-Trio, namentlich Julie Roberts (voc), Larry Stabbins (sax) und Simon Booth (g), wurde – wie auch schon für die Studioaufnahmen um hochprofessionelle Mitspieler an den Posten Piano, Baß, Perkussion, Schlagzeug, Posaune und Trompete erweitert. Daß die Briten mehr als ihr Handwerk verstehen, bewies der Set der nächsten Stunde: Präzises Ensemblespiel mit organisch eingelassenen Improvisationen, hochgeschwinde Formationsflüge des Bläser-Terzetts, gekonnter Wechsel zwischen instrumentaler und vokaler Darbietung.

Frau Roberts, weiße wallende Seide um die üppigen Resonanzformen, bewegte die Gemüter der rund 10.000 Festivalbesucher nicht nur mit „Venceremos“ und den anderen WW-Highlights, sondern sorgte vor allem mit einer grandiosen Herzblut-Fassung von „Sweet Nothing“ für euphorischen Szenenapplaus.

Ähnliches war nur dem quirligen Bassisten beschieden, der in genialischer Ausgelassenheit verzerrte HM-Riffs und warme, jazzfarbene Tonkaskaden zu einem abwechslungsreichen und spannenden Solo-Exkurs ausbaute. Brillant auch die Beiträge des käsgesichtigen Buben am Piano, der sich, ebenso wie alle anderen, in Lateinamerika ebenso gut auskennt wie in den USA der Bop- und Cool-Ära, der hämmerte und perlen ließ, der streichelte und unterlegte, daß es die wahre Pracht war.

Einziger Kritikpunkt: Neo-Jazz dieser perfekten Art gehört nicht auf ein Festival und verträgt kein Tageslicht. Was in verräucherten Nightclubs zuhause ist, sollte man, wenn möglich, nicht unter den müden, blau-grau gestreiften Augusthimmel verpflanzen.

Überhaupt – das Schüttorf-Festival, inzwischen im sechsten Jahr, hat in fast jeder Beziehung bessere Tage gesehen. Anfänglich zwar eher ein Provinzereignis auf dem flachen Land, entwickelte sich Schüttorf mit Headlinern wie Frank Zappa, Simple Minds und Rod Stewart, mit Acts wie Stray Cats, Depeche Mode, The Cure und BAP zu einem attraktiven Rock-Jamboree in dem sonst ziemlich langweiligen Rheine/Münster-Gebiet. Der festzustellende Zuschauerschwund es sollen, so berichtet man, schon 30.000 zu dem Wiesengelände gepilgert sein darf wohl zurückgeführt werden auf das disharmonische, wenig stimmige Programm, die schlechte Kalkulation und arme Organisation.

Das Festivalgelände selbst, nah am Herz des Kleirtstädtchens gelegen, war nett ausstaffiert mit allerlei Futter- und Getränkebuden. Während der übliche Rock-Speiseplan meistens mit lauwarmen Würstchen und Pappbecher-Bier auskommt, konnte das hungrige Maul diesmal mit Mini-Pizza, Erbseneintopf, Fleischspießchen und süßem Allerlei gestopft werden. Fürs leibliche Wohl

der Fans, die als Eintrittspreis DM 35,- berappen mußten, war also gesorgt.

Für den nächsten musikalischen Gang war Wolf Maahn mit seinen Deserteuren zuständig. Der Wahlkölner und seine siebenköpfige Formation präsentierten ein grundsolides Songmenü, das mit allen Höhepunkten der Irgendwo In Deutschland und Bisse Und Küsse-Alben gespickt war. Ob „Hobby-Freund“, „Nicaragua“, „Rosen im Asphalt“, ob Blues, Reggae, Rock – die Maahn-Band ließ, ums mit ihren eigenen Worten zu sagen, „kräftigst raus“. Vom Publikum gewünscht, von den Verantwortlichen gescholten, überzogen die Fahnenflüchtigen die vorgegebene Spielzeit um mehr als 40 Minuten. Der Fahrplan der Schüttorfer geriet auch durch die langen Umbaupausen total aus den Fugen.

Als Killing Joke ihre rauhe, erzdynamische, sägende Donnerwetter-Musik aufs händestreckende Publikum niederprasseln ließen, hätte eigentlich Talk Talk auf der Bühne stehen sollen. Aber frag nicht nach Sonnenschein – die Engländer, berühmt und beliebt durch Hits wie „Such A Shame“, saßen – welch eine Schande – im Hotel Mövenpick und warteten auf ihr Startsignal. Das kam nicht. Die offizielle Erklärung der mittlerweile nervösen Veranstalter: Der Vorhang müsse auf Anweisung der Schüttorfer Obrigkeit um 11:15, spätestens um halbzwölf, fallen. Ansonsten wäre’s mit Festivals in Zukunft Asche.

Aus diesem kühlen Grunde, so der um eine saubere Erklärung bemühte Gastgeber Trenkler, werde man auf eine Band – sprich: Talk Talk – verzichten müssen. Die Antwort des zahlenden Publikums war, obwohl ziemlich unartikuliert, mehr als verständlich: laute Buhrufe. Im Backstage-Bereich wurden hinter vorgehaltener Hand wilde Spekulationen laut. Man witterte Verrat, Verrat am Festivalkunden.

Zu Recht, denn Talk Talk, zur Zeit im Studio, unterbrechen die Arbeit wohl nicht, um in Münster an Salzstangen zu knabbern. Die Wahrheit muß also heißen: Das vertraglich vereinbarte Geld normalerweise werden 50% der Gage im voraus und die restlichen 50% am Tage des Auftrittes bezahlt – war nicht verfügbar oder wurde aus anderen Gründen nicht gezahlt. Die alte Regel wurde aber auch diesmal befolgt: the show must go on…

Nächster Programmpunkt: Herbert Grönemeyer! Grönemeyer, der sich hinter der Bühne fitjoggte, war der Abräumer des Tages und spielte voll über die Rampe. Sein einleitendes Versprechen, den Ausfall von Talk Talk irgendwie wettzumachen, erfüllte er in vollem Umfange. Die Begleitband – zwei Gitarren, Baß, Keyboards, Schlagzeug – strotzte vor Spiellaune. Herbert himself ließ die Stimmbandmuskeln spielen, intonierte die Songs des Bochum-Bestsellers mit diesem heiseren, Mark und Bein durchdringenden Organ und zieh all jene Lügen, die behaupten, Deutschland hätte keine Performer und Publikumslieblinge.

Nach Grönemeyers Parforce-Ritt leerte sich das Gelände merklich. Die überlange Umbaupause zu dem eh nicht mehr angesagten Kid Creole & The Coconut galt vielen als Zapfenstreich. August Darnell, Coati Mundi und die Coconuts inszenierten dann die übliche Hochglanz-Show aus Salsa, Funk, Pop, Ausfallschritt und lateinamerikanischem Karneval. Optik, Bühnendesign, Routine, Stargehabe – alles stimmte, nur die Schüttorf-Besucher wollten keine Kokosnüsse. Einzig älteres Material wie,“Stool Pigeon“ ließ den begehrten Funken überspringen. Ein Feuerwurde nicht daraus. Kid tanzte bis nach Mitternacht; von der Auflage, das Programm bis spätestens halbzwölf abzuwickeln, sprach niemand mehr.