NY-Reportage

Konfliktzone Times Square: Superhelden machen Stress


Der Times Square in New York ist die meistbesuchte Touristenattraktion der Welt. Und eine Konfliktzone: Besucher  fühlen sich von Elmo, Batman und Micky Maus bedrängt. Die Polizei hat den Helden der Pop­kultur deswegen den Kampf erklärt. Für die kostümierten Darsteller macht das den Job noch härter. Eine Geschichte über pöbelnde Sesamstraßenbewohner, eine Gewerkschaft für Kuschelmonster und einen Platz, auf dem die Realität manchmal an ein Superhelden-Comic erinnert.

Die Anschuldigungen gegen das Krümelmonster wogen schwer. Weil es im Verdacht stand, am New Yorker Times Square einen Zweijährigen geschubst zu haben, musste es vor Gericht. Das Monster habe sie „Bitch“ genannt und ihren Sohn einen „Bastard“, so die Mutter des Kindes. Dann sei ihr Junge zu Boden gegangen. Es war nicht das erste Mal, dass einer der Kinderhelden am Times Square übergriffig wurde. Ein Journalist, der den Vorgängen auf den Grund gehen wollte und als Tarnung in ein Winnie-Puuh-Kostüm schlüpfte, wurde von Minni Maus vom Platz gescheucht: Es gäbe keinen Platz für Neulinge. Auch von einem Wachmann wurde der Journalist bedroht – wegen seiner angeblichen Verbindungen zum Krümelmonster: „Ich habe einen Keks für ihn. Den werde ich ihm in den Hintern schieben, wenn er sich noch mal an Kindern vergreift“, soll der Mann gesagt haben.

Seit Teile des Times Square für Autos gesperrt wurden, steigt die Zahl der Maskierten, die dort für Touristen posieren. Ein ganzes Kollektiv popkultureller Superhelden wartet darauf, von Passanten fotografiert zu werden. Natürlich gegen ein Trinkgeld. Manche Touristen wissen das nicht. Die meisten zahlen. Einige weigern sich. So, wie die Mutter des Zweijährigen, der laut Medienberichten seit seiner unheimlichen Begegnung mit dem Krümelmonster traumatisiert ist und für niemanden aus der „Sesamstraße“ mehr etwas übrig hat.

Times-Square-Ruvan-Wijesooriya-2-BatmanSeit 2012 verschärft sich die Situation an der meistbesuchten Touristenattraktion der Welt. Die Medien berichten von SpongeBobs, die Kinder im Klammergriff behalten, bis Mutti den Geldbeutel öffnet. Von Superhelden, die sich im Pulk auf Touristenfotos drängen und dann frech die Hand aufhalten. Und von Freiheitsstatuen, die Geizkrägen mehrere Blocks weit hinterherjagen. Schlagzeilen machten: ein antisemitischer Elmo; ein polizistenverprügelnder Spider-Man; ein busengrapschender Super Mario und ein rundum grapschender Woody, der Cowboy aus dem Film „Toy Story“. Vor die Wahl gestellt, lehnte dieser die Teilnahme an einem Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter ab und ging ins Gefängnis. 18 Kostümierte nahm die Polizei im vergangenen Jahr fest, meist wegen aggressiven Bettelns.

Der ganze Zirkus ließ aber nicht nur Kinder traumatisiert zurück und brachte Rechteinhaber wie Disney oder „Sesamstraße“ gegen die Darsteller auf. Er hatte auch politische Konsequenzen. Andy King, Mitglied im Gemeinderat der Stadt, stellte im Sommer vergangenen Jahres einen Gesetzesentwurf vor: demnach müsste sich jeder maskierte Kleinunternehmer am Times Square künftig einem Hintergrundcheck unterziehen, einen Ausweis bei sich tragen und für 175 Dollar eine Zwei-Jahres-Lizenz beantragen. Die dafür notwendigen Fingerabdrücke nehmen zu lassen, würde die Darsteller weitere 75 Dollar kosten. King hatte zuvor selbst schlechte Erfahrungen am Times Square gemacht. In seinem Fall war es Emily Erdbeer, die sich vor den Augen seiner Tochter den Kopf vom Hals riss und ihn wegen des erhaltenen Trinkgelds beschimpfte: „Wie verarbeitet eine Fünfjährige einen heruntergerissenen Kopf?“, fragte King während einer Anhörung vor dem Stadtrat. „Ich will sicherstellen, dass unsere Kinder und Familien ihre Unschuld behalten können.“

Erst Drogen, dann Disney

Was folgte, könnte ein Plot aus dem Marvel-Universum sein: Die X-, Bat-, Iron- und Spider-Men rauften sich mit den Hello Kittys, Micky Mäusen und SpongeBobs zusammen, um Gotham Citys Mächtige zu bekämpfen. Die Polizisten und Politiker, die mit aller Macht das in den vergangenen Jahrzehnten hart erarbeitete Image von New York als sauberer, sicherer und souveräner Metropole erhalten wollen. Denn das wirkt auf Touristen und Investoren anziehend. Um deren Wohlbefinden ginge es Andy King weit mehr als um die Unschuld der Kinder, so der Vorwurf der Darsteller. 2013, am Ende seiner zwölfjährigen Amtszeit, hatte der Bürgermeister Michael Bloomberg noch stolz verkündet, dass sich die Zahl der Touristen dank seiner Politik mehr als verdoppelt hätte. 3000 neue Hotelzimmer wurden 2013 geschaffen – mittlerweile sind es mehr als 111 000. Weitere 100 Hotels sind in Planung. Im vergangenen Jahr kamen mehr als 55 Millionen Besucher in die Stadt, die fast 59 Milliarden Dollar in die New Yorker Wirtschaft pumpten. Täglich flanieren mehr als 360 000 Menschen entlang des Times Square, 131 Millionen im Jahr.

Anfang der Neunzigerjahre wollten weder Touristen noch Einheimische dort spazieren gehen. Der Straßenabschnitt zwischen 42nd und 47th Street, wo Broadway und 7th Avenue aufeinandertreffen, bot Kriminalität, Drogen, Prostitution und Pornografie, aber kaum Erfreuliches. Die neue Familienfreundlichkeit ist das Resultat rigoroser Politik. New York wurde seit Mitte der Neunzigerjahre glattgebügelt, um die Stadt einem Massenpublikum zugänglich zu machen. Doch wer hätte gedacht, dass der Geist von New York versteckt unter der Micky-Maus-Maske zurückfindet?

Wir haben eingesehen, dass wir zusammenhalten müssen, wenn wir auf dem Times Square überleben wollen.

Unter den Kostümen stecken Menschen, die an den amerikanischen Traum glauben. Meist Immigranten, so wie Alberta Guerra. Sie ist 52 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von drei Kindern und Hello Kitty – ihr Kostüm hat die gebürtige Mexikanerin selbst angefertigt. „Nach mehreren Arbeitsunfällen in früheren Jobs stehe ich heute im Kostüm am Times Square, um meine Familie zu ernähren. Und jetzt will mir die Stadt sagen, dass ich kein Recht dazu habe?“ Guerra gehört zu den Veteranen unter den Cartoonfiguren. Angefangen hat sie vor acht Jahren, als Elmo aus der Sesamstraße. Mit dessen Beliebtheit stockte sie nach Feierabend den Lohn aus ihren zwei Fabrikjobs auf, sodass es zum Leben reichte. Damals war sie eine von wenigen, aber seit der Platz 2009 fast gänzlich zur Fußgängerzone umgebaut wurde, kamen Elmos und andere Kinderhelden in Scharen. Als 2013 eine Mutter nach einem Streit mit Spider-Man ihren Mann zu Hilfe holte – es ging um Beleidigungen, einen Angriff mit einem Schneeball seitens der Frau und einen Vergeltungsschlag des Spinnenmanns – ging dieser versehentlich auf den falschen Spider-Man los. Es sind einfach zu viele, manchmal mehr als 20. Mit ihnen und all den anderen Angehörigen der bunten Sippe muss Alberta Guerra um ihren Lebensunterhalt konkurrieren. Etwa 50 Dollar verdient sie in einer Zwölfstundenschicht, an guten Tagen 100, manchmal nur 30. Es sind nicht alle Tage gut.

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Gesucht: Elmo und Micky Maus

„Wir kommen bei jedem Wetter, wir kommen, um zu arbeiten und unsere Familien zu ernähren“, sagte Giovanna Melendez, 38, in ihrem Minni-Maus-Kostüm während einer Pressekonferenz im August 2014. Nach den antisemitischen Äußerungen eines Elmo-Darstellers schossen sich die Medien auf die Maskierten ein. Diese wurden zum Symbol für das Betteln in der Stadt. Für etwas, das New Yorker an New York nervt. Die Polizei startete Razzien, sprach willkürliche Verweise aus, verteilte Flugblätter und stellte Schilder auf, die Elmo und Micky in Fahndungsfoto-Optik zeigten. Quer über Mickys Gesicht prangte ein roter Balken mit dem Hinweis: „Fotos mit den kostümierten Figuren sind kostenlos. Trinkgeld ist optional.“ Dazu die Notrufnummer der Polizei.

„Wir verdienen Respekt. Stattdessen macht uns die Polizei zur Zielscheibe“, sagt Giovanna Melendez. Melendez stammt aus Peru. Fast alle Kostümierten kommen aus Lateinamerika und die wenigsten von ihnen sprechen Englisch. In der gewerkschaftsähnlichen Gruppe, die mehr als 100 von ihnen nun gegründet haben, finden sie eine gemeinsame Stimme, um sich gegen die Kriminalisierung zu wehren und ihre Rechte durchzusetzen. „New York City Artists United for a Smile“ haben sie sich genannt. „Nach all den negativen Medienberichten haben wir eingesehen, dass wir zusammenhalten müssen, wenn wir auf dem Platz überleben wollen“, sagt der 37-jährige Jorge Luis. Ein paar Kriegsbeile seien dafür begraben worden. Offenbar gibt es auf dem Platz einige rivalisierende Gruppen: die Plüschfiguren gegen die Action-Heros. Aufwendige Kostüme gegen Billigversionen. Die Darsteller mit künstlerischem Anspruch gegen die Banausen, die nur aufs Geld aus sind. Freiheitsstatuen gegen andere Freiheitsstatuen, und alle zusammen gegen die Neuankömmlinge.

Die Performer können ihr neues Gemeinschaftsgefühl brauchen: Die Stadt hat Erfahrung mit Aufräumaktionen auf dem Times Square. Nachdem die „New York Times“ im April 1904 dort ihr neues Verlagshaus eröffnete, entwickelte sich der Platz zu einer der begehrtesten Adressen der Stadt. Es kamen die Theater, die Stars und Legenden und auch die Showgirls, die reichen Männer und die Tanzlokale in den zweiten Etagen. Dann vermieste der Erste Weltkrieg die Geschäfte. Die Prohibition zog ab 1919 illegale Geschäftemacher an, und ab der Weltwirtschaftskrise tummelten sich am Times Square vor allem die, die aus dem Bild des Verfalls nicht herausstachen. Die Sechzigerjahre brachten Heroin, die Siebziger Gangs und den Totalbankrott der Stadt, die Achtziger AIDS und die Neunziger das Elend. Waffen waren so einfach zu bekommen wie Drogen, Taschendiebe waren noch die freundlichsten Gestalten und unter den Schritten knirschten die Crack-Behälter. 1994 wurde Rudy Giuliani ins Amt gewählt. Der neue Bürgermeister räumte auf. Er verwandelte das New York aus „Taxi Driver“ in eine Disneyfilm-Kulisse. Verfolgte die Zerbrochene-Fenster-Strategie: Wehret den kleinen Verstößen, denn sie ebnen das Feld für die große Kriminalität. Unterstützung bekam er unter anderem vom Börsenboom – es war die Zeit der Dotcom-Blase – und von der US-Regierung, die Geld für 7000 neue Polizisten bereitstellte.

Ruvan Wijesooriya
Ruvan Wijesooriya