Talk Talk: Wie die Stille in den Pop kam
Mark Hollis schwärmte schon von Ornette Coleman und John Coltrane, als seine Band noch Synthiepop spielte. Doch als ihnen ihr Label freie Hand gab, klinkten sich Talk Talk tatsächlich aus. Sie lösten die Grenzen zwischen E- und U-Musik auf. Ihre Musik erhob sich über die Zeit. Und dann lösten sie sich selbst auf, in dieser Stille, zu der es Talk Talk immer hingezogen hatte. Ein „ME-Helden“-Text aus dem Musikexpress 05/2012, anlässlich Hollis' Tod nun online.
Unabhängig davon klang der frühe Hollis in Interviews aber bereits ganz wie der späte Hollis: „Songwriting hat wenig mit Inspiration zu tun. Der Schriftsteller Anthony Burgess hat einmal gesagt, dass er manchmal sechs Stunden schreibt – und am Ende Tausende Worte doch wieder wegwirft. Mit dem Songwriting ist es genauso. Aber das Zeug, das am Ende herauskommt, ist es wirklich wert. Ich möchte nicht, dass wir als Wegwerf-Gruppe wahrgenommen werden. Ich will Songs schreiben, die man auch in zehn Jahren noch hören kann.“
https://twitter.com/thethe/status/1100099581927477248?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1100099581927477248&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.musikexpress.de%2Fmark-hollis-talk-talk-ist-tot-1202475%2F
Hört man die Musik heute, ohne sie damals schon ins Herz geschlossen zu haben, klingt „The Party ’s Over“ allerdings hoffnungslos verstaubt, künstlich und kalt. Hollis Songwriting erstickte unter den Keyboardflächen. Umso absurder und blasierter klingt, was Hollis damals in Interviews von sich gibt. Er schwärmt von Ornette Coleman und John Coltrane, neben seiner eigenen Band lässt er aber wenigstens Echo & The Bunnymen oder U2 gelten. Immerhin weist die Covergestaltung bereits in eine interessante Richtung. Gestaltet wurde es von dem etablierten Grafiker James Marsh, der auch allen künftigen Alben seinen surrealistischen Pinselstrich aufdrücken wird.
Aus „künstlerischen Gründen“ trennt man sich für das zweite Album von Simon Brenner, und diese Gründe erscheinen triftig: „Wir wollen nicht als Synthie-Band wahrgenommen werden, weil wir keine sind“, so Hollis. Brenner wird ersetzt durch Tim Friese-Greene, der offiziell als Produzent firmiert und inoffiziell längst ein weiteres, wichtiges Talk-Talk-Mitglied geworden ist. Die Band nutzt den engen Spielraum, den ihnen die Plattenfirma lässt, strapaziert deren Geduld bis zum Äußersten – und veröffentlicht mit einem Jahr Verspätung 1984 IT’S MY LIFE. Mit diesem Album überraschen sie ihr Label und die Welt.
Keyboards und jede Menge anderer synthetischer Sounds sind noch da, aber die Beimischung handbedienter Instrumente gibt dem Sound eine besondere Dynamik. Es gibt behutsame Ausfallschritte in Richtung World Music und sogar Field Recording: Die Single „,Such A Shame“ beginnt mit einem Loop trompetender Elefanten.
Überhaupt, die Singles. Bis auf England und die USA schaffte es die Band in die Top Ten aller wichtigen Musikmärkte, und vor allem das Video zu „Such A Shame“ begeistert noch heute mit den manischen Grimassen des Mark Hollis, die das Posertum der Zeit ziemlich subversiv unterlaufen.
„Dum Dum Girl“ wird ein Hit, und mit der Single „It’s My Life“ ernten sie endlich, was sie zuvor im Vorprogramm von Elvis Costello gesät haben – der Song landet auf Platz 1 der US-Club-Charts (erstellt aus DJ-Playlists). Nur in England dümpelt die Band weiter durch die hinteren Chartsregionen.
Heute könnte man sagen: Mark Hollis war der erste Emo-Sänger
Was unter anderem auch an der wachsenden Spannung zwischen den Künstlern und der Presse in ihrem Heimatland liegen könnte. In Interviews gibt sich Hollis recht snobistisch. Über die Konkurrenz äußert er sich gar nicht mehr, sondern sagt beispielsweise dem „Melody Maker“ Sachen wie: „Bei „Tomorrow Started“ erinnert das Intro an Eric Satie, die Strophen sind eher an Pharoah Sanders angelehnt, und dann kommt da so ein Marvin-Gaye-Rhythmus rein. Das ist das Ergebnis dessen, was ich gerne höre: Pink Floyd, King Crimson, John Lee Hooker, The Standers. Und natürlich alles von Schostakowitsch und Prokofjew.“ Natürlich. Es gab nicht wenige Journalisten damals, die dieses Name-Dropping für herablassend und anmaßend gehalten haben.