Talk Talk: Wie die Stille in den Pop kam
Mark Hollis schwärmte schon von Ornette Coleman und John Coltrane, als seine Band noch Synthiepop spielte. Doch als ihnen ihr Label freie Hand gab, klinkten sich Talk Talk tatsächlich aus. Sie lösten die Grenzen zwischen E- und U-Musik auf. Ihre Musik erhob sich über die Zeit. Und dann lösten sie sich selbst auf, in dieser Stille, zu der es Talk Talk immer hingezogen hatte. Ein „ME-Helden“-Text aus dem Musikexpress 05/2012, anlässlich Hollis' Tod nun online.
Sanft atonal, vorbeitreibende Melodien, Hollis’ klagender Gesang wie ein weiteres Instrument, weitmaschige Klangwolken, destilliert aus stundenlangen Improvisationen in einem, wie es heißt, abgedunkelten und mit Räucherstäbchen eingedufteten Studio, überraschende Crescendi und eine umwerfende Dynamik machen SPIRIT OF EDEN zu einem Meisterwerk. Ein Album, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Gerade so, wie Hollis es vorschwebte, als er in einem Promo-Interview sagte: „Das Größte, was Musik erreichen kann, ist ihre Existenz außerhalb der Zeit, in der sie geschrieben wurde. Und der einzige Weg, das zu erreichen, besteht darin, den Sound so natürlich wie möglich zu gestalten.“
Tatsächlich könnte diese Musik 1965 aufgenommen worden sein oder 1973, 1998 oder auch 2012. Debussy ist da, der zeitgenössische estnische Komponist Arvo Pärt, Miles Davis, klar, aber auch Can und Philip Glass. Deshalb ragt dieses Album aus den 80er-Jahren heraus wie eine blühende Vulkaninsel mit schneebedeckten Bergen aus der Tiefsee. Und Hollis sprach: „Das ist es. Das ist es, was ich erreichen wollte.“
Auch der unwiderstehliche Magnetismus und die ungeheuere Wärme dieser Musik verblüffen bis heute. Die schwerelosen Klangwirbel und Engelschöre strahlen eine Menschlichkeit und Würde aus, wie es sie in der Unterhaltungsmusik eigentlich nicht geben dürfte. Hollis selbst erklärte das so: „Die Musiker, die wir uns ins Studio holen, müssen nicht technisch perfekt sein. Darum geht es nicht. Wir müssen mögen, was sie spielen, und wir müssen ihnen vertrauen können. Es geht um die Menschen, eigentlich, weniger um ihre Fähigkeiten.“
Die EMI freilich fiel aus allen Wolken. Eine Suite von 23 Minuten, die aus drei Titeln besteht? Oboen? Geigen? Luft, überall Luft? Und keine Single? Oder, wie das Musikmagazin „Q“ in seiner hymnischen Rezension schrieb: „Die vierte LP von Talk Talk gehört zu der Art von Platten, die Marketing-Leute in den Selbstmord treiben können.“ Verglichen wurde das Werk mit Van Morrisons ASTRA WEEKS oder Neil Youngs ON THE BEACH, aber selbst diese Meilensteine lässt es hinter sich. In einem Interview erklärte Hollis zu seiner Platte: „Es ist sicher eine Reaktion auf die Musik, die uns im Moment umgibt. Denn diese Musik ist zum größten Teil große Scheiße – radikal höchstens in einem modernen Kontext. Aber nicht radikal im Vergleich damit, was noch vor 20 Jahren möglich war.“
Aber wir schrieben nun einmal 1988, und die EMI gab sich alle Mühe, die Nerven zu behalten. Sie bat die Band, Teile des Albums neu aufzunehmen. Die Band lehnte ab. In ihrer Not veröffentlichte die Plattenfirma „I Believe In You“ in einer gekürzten Version als Single. Talk Talk wollten schließlich nur noch weg von ihrem Label. Man traf sich vor Gericht, das Gericht gab der EMI recht. Man ging in Berufung – und Talk Talk waren schließlich frei, um anderswo zu unterschreiben.
Polydor nahm die Band mit offenen Armen auf. Die Firma reaktivierte für Talk Talk sogar ihr Jazz-Label Verve. Eine Tournee zur Promotion von SPIRIT OF EDEN war nicht geplant. Wie auch? Hollis: „Dieses Album ist in weiten Teilen absolut spontan entstanden. Ich wüsste nicht, wie wir das auf der Bühne reproduzieren könnten …“ LAUGHING STOCK, das letzte Album von Talk Talk, erschien schließlich im September 1991, und war noch weiter in delikate Abstraktionen entrückt. Das letzte Stück, „Runeii“, ist blass und zärtlich an den Rand des Nichts getupft.
Entsprechend einsam stand das Album in der Musiklandschaft, zwischen Nirvanas NEVERMIND, U2s ACHTUNG BABY und Metallicas „schwarzem Album“. Es war, genau genommen, „Spirit Of Eden, Part II“. „Q“ nannte es „nicht eben lustige Party-Musik“, der „NME“ schlichtweg „schrecklich“. An seinem singulären Stellenwert ändert das nichts.
Hier verlieren sich die Spuren. Ein weiteres Album würde es nicht geben. Der „Sunday Times“ sagte Hollis ein paar Jahre später: „Es gab keine Trennung im strengen Sinne. Es hatte sich aber alles so weit aufgelockert, so sehr gelöst, dass es ganz natürlich schien, eigene Wege zu gehen. Wir hatten einen Endpunkt erreicht.“ Tim Friese-Greene machte unter dem Namen Heligoland weiter, Paul Webb und Drummer Lee Harris als O.rang – und Webb alleine als „Rustin’ Man“ zusammen mit Portishead-Sängerin Beth Gibbons, deren Album OUT OF SEASON ebenfalls die Kritiker entzückte.
Alle blieben der Stille verpflichtet, die Talk Talk in die Popwelt gelassen hatten. Ursprünglich war ein Nachfolger für LAUGHING STOCK geplant. Einen Arbeitstitel gab es auch schon: „THE MOUNTAINS OF THE MOON. Stattdessen lernte Hollis das Notenlesen und machte sich an sein Soloalbum. MARK HOLLIS erschien 1998 und war noch entrückter als seine Vorgänger, zumal Hollis von seiner Philosophie keinen Millimeter abwich. „Bevor du zwei Noten spielst“, sagte er, „lerne erst einmal, eine Note zu spielen – und spiele keine Note, bevor du nicht einen guten Grund dafür hast.“
Hollis spielte noch ein Stück mit dem Titel „Piano“ (unter dem Pseudonym John Cope, für das Album AV 1 von Phill Brown und Dave Allinson). Und für das Debüt des Duos Unkle, PSYENCE FICTION, komponierte er und spielte auf dem Stück „Chaos“, bat dann aber darum, seinen Namen vom Cover zu streichen. Dann half er 2001 noch Jan Garbareks Tochter Anja bei ihrem Album SMILING & WAVING. Das war’s. Vielleicht spielt er ja tatsächlich Golf, vielleicht arbeitet er aber auch an einem weiteren Meisterwerk. Wahrscheinlicher ist, dass er Musik nur noch im Auto hört, vor allem klassische. Vielleicht hört er ja manchmal auch dieses Kunstlied von Gustav Mahler nach einem Gedicht von Friedrich Rückert, erkennt sich selbst und lächelt – zufrieden:
Ich bin der Welt abhanden gekommen
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben
Sie hat so lange nichts von mir vernommen
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!
Es ist mir auch gar nichts daran gelegen
Ob sie mich für gestorben hält
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt
Ich bin gestorben dem Weltgetümmel
Und ruh’ in einem stillen Gebiet!
Ich leb’ allein in meinem Himmel
In meinem Lieben, in meinem Lied!
Mark Hollis starb im Februar 2019 mit 64 Jahren. Lest hier unseren Nachruf.
Dieser Text erschien erstmals in unserer Reihe „ME-Helden“ im Musikexpress 05/2012.