Television


Im Frühsommer kam die amerikanische New Wave-Band Television zum ersten Mal nach England. Sie fiel in ein gemachtes Bett:Die Presse hatte sie vorab monatelang gepriesen, ihr Debutalbum stand u diesem Zeitpunkt bereits in den Hitlisten und die Musik hatte die Leute überzeugt. Auf diese Weise gelang den amerikanern ein Senkrechtstart, wie er im Buche steht: Aus der überschaubaren heimischen New Yorker Club-Szene stiegen sie nahtlos um in die großen britischen Hallen und füllten gleich zweimal das 2000 zuhörer fassende Hammersmith Odeonin London. Ein gar nicht mal so neuer Slogan machte die Runde: "Watch TV!"

Am 5. Februar dieses Jahres erschein der britische „New Musical Express“ mit einem Titelbild, das eine gänzlich unbekannte, vierköpfige Band zeigte. Dazu servierten die Londoner Rock-Journalisten die Schlagzeile „Vinyl masterwork for spring schedules everywhere“ — was sinngemäß heißt „Im Frühjahr kommt überall die Wahnsinnsplatte auf den Markt“. Die Band, deren Debutalbut hier mit prophetischem Eifer angekündigt wurde, war Television, und sie wurde in Großbritanien in den folgenden Wochen zum Tagesgespräch: Kaum jemals zuvor hat eine neu« Rockgruppe in der englischen Musikpresse dermaßen viele Vorschußlorbeeren kassiert. Die Schreibtischtäter in den Redaktionen hatten allerdings Glück: Television hielt am Ende, was sie versprochen hatten] die Leute kauften immer mehr Platten und brachten die Gruppe als Dauerbrenner in die Charts. Kein zweiter Fall Springsteäp also, kein gigantischer Reklameballon, der plötzlich platzte. Im Gegenteil: Fieber in den Straßen von Punk-City, als Tetevision zum erstenmal nach London kam.

Da die New Wave-Platten grundsätzlich nicht im britischen Rundfunk gespielt werden, hat sich das Kommunikationssystem rar allem der Londoner Musikszene drastisch verändert. Die drei großen wöchentlich erscheinenden Musikzeitschriften „New Musical Express“, „Sounds“ und „Melody Maker“ haben an Gewicht gewonnen, ebenso bestimmte Plattenläden, die sich — wie „Virgin“ — auf New Wave-Produkte und ‚ auf Reggae spezialisiert haben und ganze Schaufenster mit den Sex Pistols oder Tom Petty zukleistern. An allen Enden der Stadt tauchen seit einiger Zeit immer neue Punk-Magazine auf, die von Fans in Handarbeit erstellt und zusammengeleimt werden. Wer wissen will, was läuft, erhält den besten Überblick allerdings in den New Wave-Konzerten, in denen Discjockeys vor Beginn und in den Umbaupausen ein akustisches Programm abspulen, das mit dem BBC-Alltag absolut nichts mehr gemein hat. Hier plötzlich hört man das ganze breite Spektrum der neuen Rockmusik, werden „God Save The Queen“ von den Sex Pistols, „Jamming“ von Bob Marley, Songs der Ramones, der Clash und der Modern Lovers hintereinanderweg gespielt, Punk-Bands aus der britischen Provinz vorgestellt und Konzerttermine durchgesagt. Oder auch abgesagt, weil die Liste der Veranstalter, die New Wave-Musik boykottieren, noch immer länger wird. Die Sex Pistols konnten trotz ihres Nr. 1-Hits schon seit Ewigkeiten kein richtiges Konzert mehr gejpen. Gruppen wie Television graben es da leichter, weil sie ^Amerikaner sind und die Engländer ihnen wohl nicht soviel ^Greueltaten zutrauen wie den ^einheimischen Punks, die tagtäglich die Spalten der Londpnjjr. l’Boulevardpresse füllen. ‚*.ßiiä§ §S Television begann dieflS8iipp s:durch Großbritanien in GlasgfpSp Sind zog dann durch die Provinz“ lauf die britische Hauptstadt zu. p3)ie Leute waren gespannt, die ^-Karten für das erste Konzert llim Hammersmith Odeon schnell ^vergriffen; kurzfristig wurde ein ^weiterer Auftritt angesetzt. Im s Vorprogramm spielte Blondie, 5 ebenfalls eine New Yorker Band, über die der ME im nächsten Heft berichten wird. Beide Bands :wirkten nervös; die plötzlichen E Zuschauermassen müssen schließjflich erst einmal verkraftet werden. Aber die Atmosphäre in 5;^gflalle war erregend, wie n^ gfi» diesem Sommer überhauptä g London an jeder Straßene^^ kriechen kann, daß eine neue Art von Rockmusik in der Luft hängt — vorausgesetzt, man schnüffelt nicht ausgerechnet in der Carnaby Street.

Das großartige Debutalbum von Television wurde im April im Musik Express ausführlich besprochen. Tom Verlaine (Gitarre, Gesang), Richard Lloyd (Gitarre), Fred Smith (Bafe) und Billy Ficca (Drums) hätten ihre LP auch „Life in New York City“ nennen können, denn Bilder eines Wolkenkratzergebirges, in dessen Straßenschluchten Menschen zu überleben versuchen, tauchen automatisch auf, wenn man ihre Musik hört. Unterschwellig steckt im Sound der Band der Schrei nach Geborgenheit, nach Wärme, doch auf den ersten Blick ist sie ganz das Produkt ihrer Umwelt: Fast regungslos stehen die beiden jungen Gitarristen vorne auf der Bühne, in eiskaltes bläuliches Licht getaucht. Irgendwie gewinnt man den Eindruck, das Gebiet um die Verstärker und Lautsprecherburgen könnte radioaktiv verseucht sein.

Als ich Television live sah, kannte ich die Platte in- und auswendig, wußte genau, auf welche Songs, welcheSoli,welche Breaks meine Psyche am stärksten ansprach. Also wartete ich auf den Kitzel an jenen besagten Stellen und verstand zunächst nicht, wieso er ausblieb. Television war ganz anders auf der Bühne, spielte zwar die Songs der Platte (und zusätzlich noch ein paar Rockklassiker wie „Knocking On Heavens Door“ von Dylan und „Satisfaction“ von den Stones), aber die tiefsten Eindrücke flössen aus anderen Quellen. Da schwang vor allem Energie durch den Raum, mit unglaublicher Stärke. Schon beim ersten Stück hatte ich das Gefühl, an eine Stromleitung zu fassen. Verlaine, Lloyd, Smith und Ficca wirkten wie eingefrorene Figuren, die irgendjemand gerade aus dem Kühlschrank geholt hatte. Aber jedermann im Hammersmith Odeon spürte, wie sehr dieses Gefühl trog‘, die klirrende Eisschicht, das wußten wir, würde bersten, zerschlagen von unbändiger Spontaneität und Energie, wie man sie bei Musikern selten erlebt. Die Explosion kam dann im dritten oder vierten Stück. Tom Verlaine, dem man nachsagt, er habe lange Zeit zwölf Stunden täglich Gitarre geübt, spielte immer ruckartiger und unkontrollierter, und nur der wirklich hervorragende, ein wenig, vom Jazz geprägte Drumm^i Billy Ficca schaffte es, derf Sound noch halbwegs zusammenzuhalten. Dann, ganz abrupt und ohne Ankündigung, setzte Verlaine zu einem Solo an und flog davon. Die Intensität, die er mit seiner langen Gitarrenpassage ausstrahlte, war ungeheuer und kaum auszuhalten. Für mich wjjjf es das beste Gitarrensolo, das ich nach dem Tode von Jimmy Hendrix gehört habe.

Das Konzert lief von diesem Zeitpunkt an; die fehlende Bühnenroutine, die man Television anmerkte, und die anhaltende Nervosität machten da nicht mehr viel aus. Am Ende hastete ich zur U-Bahn und war froh, daß ich den Auftritt hinter mir hatte. Es kostet Nerven, die Botschaft aus dem New Yorker Untergrund zu lesen.

Im Anschluß an die England-Tournee kam Television noch zu zwei Konzerten nach Deutschland. Das erste lief im „Downtown“ in München und war eine Katastrophe: Die Gruppe spielte dermaßen laut, daß kein Mensch mitbekam, was eigentlich auf der Bühne gemacht wurde. Der zweite Auftritt in der Hamburger Markthalle zu mitternächtlicher Stunde fiel aus, weil sich der Veranstalter querlegte. 800 Leute standen vor verschlossenen Türen. Die Plattenfirma WEA, die Television vertreibt, war fürchterlich sauer und teilte öffentlich mit, sie werde nie wieder mit dem Management der Markthalle zusammenarbeiten. Tom Verlaine und Co. aber sitzen nun wieder in New York City. Und leben in einer chaotischen Stadt, die vielleicht doch nicht stirbt.

Hermann Haring