The 1975 live in Berlin: Wohnzimmerkonzert der besonderen Art
Fiebertraum oder Theaterstück? Wir waren bei der The-1975-Show in der Mercedes-Benz Arena dabei.
Mit Indie-Bands ist es immer so eine Sache. Es gibt sie in brav, wie die Wombats, es gibt sie in exzessiv, wie die Libertines und es gibt The 1975, deren Musik so unbeschwert daherkommt, dass man sie fast als zu seicht abtun könnte, aber die gesellschaftskritischen Texte die Zuhörenden eines Besseren belehren – ganz abgesehen von den Eskapaden des Frontmanns Matty Healy. Mit ihrer aktuellen Tour wollen er und seine Gruppe nochmal beweisen, dass sie nicht umsonst seit elf Jahren in der ersten Mannschaft spielen. Der ungebrochene Erfolg der Indie-Sensation aus Manchester führte dazu, dass das Konzert am 12. März von der Verti Music Hall in die Mercedes-Benz Arena (gleich gegenüber, aber trotzdem eine ganz andere Liga) verlegt wurde. In ihrer englischen Heimatstadt campten die Fans gar schon Tage vor den Konzerten, um die besten Plätze vor der Bühne zu ergattern. So dramatisch geht es in Berlin nicht zu – im Gegenteil, ein Gros der Sitzplätze bleibt an diesem Abend leer. Ob sich das Umsiedeln gelohnt hat? Zumindest bei den Fans kam die Nachricht über die neue Location nur bedingt gut an.
Mittendrin statt nur dabei
Beim Eintreffen in der Halle werden die Zuschauer:innen von einer schwarz verhangenen Bühne begrüßt, per Spotlight wird das Bandlogo eingeblendet. Das Set hat die Gruppe in drei Akte gegliedert – „Being Funny In A Foreign Language“, „Matty‘s Nightmare“ und „Still… At Their Very Best“, der Name der Tour. Der Vorhang fällt und gibt den Blick frei auf das Innere eines Hauses, die Wände weiß gestrichen, das Objekt voll eingerichtet, mit Bücherregal, Sitzecke, Bar, Ledersofa, Vintage-Möbeln und funktionsfähigem Deckenventilator. Eine kleine Treppe führt in den unsichtbaren ersten Stock. Ein Traum aus einem Hipster-„Schöner Wohnen“-Magazin.
Nach und nach tut sich etwas, denn The 1975 kommen einzeln auf die Bühne, also de facto nach Hause, schalten das Licht an, richten sich ein. Healy macht sich erstmal einen Drink und setzt sich rauchend ans Klavier. Feierabend, sollte man meinen, dabei geht es ja jetzt erst richtig los. Die Band gesellt sich zu ihm und wird, wie in einem Sitcom Vorspann, auf der Leinwand namentlich eingeblendet. Über der Eingangstür hängt eine Uhr, die in Echtzeit mitläuft. Es ist kurz nach halb neun, das Wohnzimmerkonzert beginnt.
Being funny in a foreign language
Nach dem zweiten Song, „Looking For Somebody To Love“ schaltet Healy den alten Röhren-TV an, der nur schlechte Nachrichten verkündet. Ironischerweise stimmt die Gruppe im Anschluss „Happiness“ an und auf den insgesamt acht Fernsehapparaten spiegelt sich die Videoübertragung des Bühnengeschehens wider. Das animiert Matty Healy offensichtlich dazu, seinen Drink schneller zu leeren, denn bereits bei „A Change Of Heart“ schnappt sich der Sänger sein Glas vom Couchtisch und mixt sich einen neuen.
Konnte man nach den Auftritten in UK noch lesen, dass er weniger „tipsy“ unterwegs sei, tut er in Berlin alles dafür, den nüchternen Zustand zu vermeiden, denn wir sind gerade mal bei einer halben Stunde Spielzeit. Nur wenige Minuten späte tauscht er das Glas dann gegen einen Flachmann. Inhalt ungewiss. Alles nur Show? Das weiß nur er.
Matty‘s Nightmare
Bei der Instrumental-Nummer „28“ betreten plötzlich Menschen in weißen Kitteln die Bühne und fangen an, das Interieur zu verändern: die Teppiche werden weggeräumt, Möbel gerückt, während die Band unbeeindruckt weiterspielt. Wie von Zauberhand schaltet sich der TV wieder an und während Newsschnipsel – auch über The 1975 – laufen, spielt Healy eine ganz starke Akustikversion von „Be My Mistake“. Das anrührende Moment wird jäh unterbrochen, denn die Fernsehapparate – mittlerweile alle übereinandergestapelt – werden immer lauter, nahezu ohrenbetäubend und der Sänger kriecht in einen hinein, verschwindet völlig, Rauch steigt auf – wir sind in Matty‘s Alptraum gefangen.
Das Showelement besteht des Weiteren noch aus dem Song „Jesus Christ 2005 God Bless America“ (gesungen von Polly Money), welcher den Konflikt zwischen sexueller Identität und Glauben thematisiert. Dass sich die Band offen für die Belange der LGBTQ+-Bewegung einsetzt, ist kein Geheimnis: Mit einem gleichgeschlechtlichen Bühnenkuss auf einem Konzert in Malaysia 2023 wollte Matty Healy ein Zeichen für die LGBTQ+-Community setzen. Es folgte der sofortige Abbruch des ganzen Festivals und ein überregionaler Skandal. Der Popularität der Gruppe tat dies jedoch keinen Abbruch.
Healy, der für seine provokanten Auftritte bekannt ist, hält sich an diesem Abend mit Zweideutigkeiten vornehm zurück. Nur am Merch wird der ein oder andere Fan noch schmunzeln, beim Anblick der Baseball-Cap mit dem unmissverständlichen Slogan „Make The 1975 political again“. Für dieses Statement nimmt die Band übrigens 45 Euro.
Still… At their very best
Für den dritten Akt hat sich Healy in Hemd und Krawatte geschmissen und ab jetzt heißt es nur noch Hits, Hits, Hits! „Still… at their very best“ eben. Berlin darf sich unter anderem über „TOOTIMETOOTIMETOOTIME“, „Heart Out“ und „The Sound“ freuen. Schmerzlich vermisst wird die Durchbruchssingle „Chocolate“. Außer einer kurzen, generischen Ansage bleibt die Interaktion mit dem Publikum nonverbal.
Healy winkt immer wieder in die Menge, hält das Mikrofon in Richtung Fans und schlendert über die Bühne. Er greift tief in die Rockstar-Trickkiste, post eindrucksvoll für die Crowd und lässt sich mit erhobenen Armen feiern. Dieser Akt ist auch mit Abstand der lebhafteste, was vom Publikum äußerst begrüßt wird. The 1975 beherrschen nicht nur die leisen, sondern auch die lauten Töne und sind zurecht gern gesehene Gäste auf Festivals (außer in Malaysia).
Nach knapp zwei Stunden endet die Matty-Healy-Show, das Licht erlischt und auf den Leinwänden läuft der Abspann. War es ein Film, ein Fiebertraum oder ein Theaterstück, das The 1975 heute Abend präsentiert haben? Auf jeden Fall ein Wohnzimmerkonzert der besonderen Art.