Kritik

„The Boys in the Band” auf Netflix: Ein schwules Kammerspiel mit Dialogfeuerwerk (Kritik)


Die Inszenierung eines komplexen Theaterstoffes über eine turbulente Geburtstagsfeier unter schwulen Freunden hätte leicht schiefgehen können. Doch „Hollywood“-Schöpfer Ryan Murphy weiß, was er tut: es wird elegant, anspruchsvoll und empathisch.

Die aufrichtigere Version einer Familienfeier

Am stärksten hadert Michael, der Gastgeber des Abends, mit seiner Identität. Jim Parson übernahm die Rolle bereits im Broadway-Revival 2018 und erklärte danach, elektrisiert von dieser Erfahrung, seinen Ausstieg aus „Big Bang Theory“, um sich neuen Projekten zuzuwenden. Diesen Enthusiasmus für die Rolle ist ihm auch im Film anzumerken. Den chronisch mit seinem Aussehen Unzufriedenen und an der Zerrissenheit zwischen seiner Sexualität und der Angst vor dem strafenden Gott des Katholizismus Leidenden, verleiht er die notwendige Tiefe. Die begehrenden Blicke, die er Donald (Matt Bomer), dem ersten Gast, zuwirft, und der Zynismus, mit dem er ihn für seine Schönheit abstraft, finden beide Platz in seiner nuancierten Darbietung.

Der erste geistreiche, ebenso liebevolle wie stichelnde Dialog zwischen ihnen setzt den Ton für den Abend. Donald zieht Michael für seine Kaufsucht auf, Michael piesackt ihn für seinen wenig glamourösen Job als Reinigungskraft. Und so hat jeder der noch folgenden Gäste sein Päckchen zu tragen: Larry (Andrew Rannells) wünscht sich eine offene Beziehung und befindet sich im Dauerstreit mit Freund Hank (Tuc Watkins), der bis vor wenigen Jahren noch verheiratet war, seine Homosexualität leugnend. Bernard (Michael Benjamin Washington) erfährt als Schwarzer Schwule mehrfache Diskriminierung, und muss selbst im queeren Umfeld rassistische Äußerungen über sich ergehen lassen. Emory (Robin de Jesús) wiederum eckt mit seiner aufgedrehten, flamboyanten Art besonders häufig bei Heterosexuellen an.

Ihr Zusammentreffen ist die aufrichtigere Version einer klassischen Familienfeier. Man liebt sich, man feiert, hat aber auch keinerlei Angst davor, den schönen Schein zu trüben und gnadenlos ehrlich zu sein – manchmal aus der eigenen Verletztheit heraus sogar bewusst verletzend. Gerade als die Party Fahrt aufnimmt, platzt ein alter College-Freund Michaels herein. Alan (Brian Hutchison) stört sich an der „unmännlichen“ Art Emorys, was bald für einen ersten turbulenten Tiefpunkt des Abends sorgt. Als Geburtstagskind Herold (Zachary Quinto) eintrifft, ist die Feierei bereits aus dem Ruder gelaufen. Doch da ist erst die Hälfte des rund zweistündigen Films erreicht und der Vorrat an höchst eloquenten Spitzfindigkeiten nicht einmal annähernd aufgebraucht – und nicht einmal annähernd der Großteil der Verletzungen freigelegt.

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Komplexe Charaktere, anspruchsvolle Dialoge

Es ist der Feinfühligkeit des gesamten Teams und der Schauspielkunst des Casts zu verdanken, dass der Film nicht zu einer starren Aneinanderreihung von schwulen Stereotypen verkommt. Das Drehbuch, an dem Matt Crowley ebenfalls beteiligt war, spielt mit den Klischees der Oberflächlichkeit in der schwulen Community und der gesteigerten Angst vor dem Altern, aber auch der überdurchschnittlichen Zahl an Sexpartnern – belässt es aber nicht dabei.

Die Figuren sind facettenreich genug, um nicht auf diese starren Attribute reduziert zu bleiben. Damit ist „The Boys in the Band“ auch keine bloße schwule Problem-Schau, wie es früheren Fassungen nachgesagt wurde. Dafür sind auch die Beziehungen zwischen den Charakteren zu sichtbar komplex, die anspruchsvollen Dialoge zu sehr von Verständnis und mitschwingender Warmherzigkeit durchtränkt.

Dass der Film nicht mit der intensiven Feier endet, sondern die Figuren noch einige Momente verfolgt, unterstreicht, dass der Abend ein exzeptioneller Ausbruch war. Ein notwendiger, vor dem Hintergrund konstanter Anspannung, der verinnerlichten Homophobie einer ablehnenden Gesellschaft. Im Ergebnis ist Netflix eine ebenso kluge wie empathische Verfilmung des Klassikers gelungen, die durchweg zu unterhalten weiß.

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Der Film „The Boys in the Band“ ist ab dem 30. September im Netflix-Abo verfügbar.

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