The Greatest: So gut war Billie Eilish live in Berlin

Hit us, Billie, one more time – gerne hard and soft. Billie Eilish beherrscht Pop, als hätte sie ihn erfunden.
„Abholen“ ist eines der überstrapaziertesten Verben unserer Zeit; ständig wird irgendjemand irgendwo abgeholt, von einer neuen Platte, von einem Seminar, von der Kita, gerne auch „richtig gut“. Die unangefochtene Meisterin des Richtig-Richtig-Richtig-Gut-Abholens ist Billie Eilish. Was sie mühelos bei einem Fan-Event im vergangenen Sommer nur ein paar Berliner Straßen weiter vor ein paar Dutzend Auserwählten schaffte, gelingt ihr auch vor 17.000 zum Großteil wie sie gekleideten Billie-Lookalikes in der mächtigen Uber Arena.

Sie lässt eine Community entstehen, vermittelt dem Publikum ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Das ergeht sich in für US-amerikanische Superstars üblichen Wiederholungen der Bekundung „I love you“. Doch Eilish glaubt man. Denn auch körperlich sucht sie die Nähe zu den Besucher:innen. Wäre Michael Jackson etwa um die wie eine eckige Acht aus einem „Minecraft“-Spiel geformte Bühne inmitten der Halle gespurtet, um möglichst viele Fans abzuklatschen? Dazu hat Eilish ja wirklich eine persönliche Connection zur Hauptstadt: 2019 hockte sie sich auf eine Mauer entlang Treppenstufen zur East Side Mall, somit in unmittelbarer Nähe zum noch erhaltenen Teilstück der Berliner Mauer, um sich vor einem riesigen Werbeplakat ihres Debütalbums fotografieren zu lassen. Seitdem zieren zahllose Grußbotschaften und Bekenntnisse wie „I am bi for Billie“ diese Mauer. Fünf Jahre später kehrte sie an den Ort des Geschehens zurück, diesmal vor ein Poster zu ihrem dritten Album, und weihte eine Plakette ein. Selten tat eine Mauer dieser Stadt so gut!
Nur wenige Meter davon entfernt belegt die erst 23-Jährige ihre historische Signifikanz mit einem Konzert, das einem den Atem raubt. In einem Gefecht aus Laserstrahlen erscheint sie unter frenetischem Jubel auf einem Podest, eröffnet die Show mit „Chihiro“, das mit seinem finalen Beat-Geballer im ersten Rave des Abends endet. Danach ihr Coming-out-Knaller „Lunch“, zu dem sie über die Bühne rennt, um schnellstmöglich Brücken in alle Richtungen des Publikums zu bauen.
Ihre Band – erstmals tourt Eilish ohne ihren Bruder und Songwriting-Partner Finneas – befindet sich in einer Art Orchestergraben, aus dem immer wieder Feuerfontänen aufsteigen. Der Welt-Hit „Bad Guy“ ist längst nicht mehr das musikalische Zentrum ihrer Show, wird ohne große Aufregung zur Hälfte der Setlist ausgespielt. Zu den Höhepunkten zählen die überwältigende Powerballade „The Greatest“, dramatisch wieder auf dem Podest dargeboten, und die Inszenierung ihres Gastbeitrags auf dem Remix des Charli-XCX-Bangers „Guess“. Zunächst läuft das Video auf einem gigantischen Bildschirm, stilecht wird die Arena dazu in BRAT-Grün getüncht – Eilish gibt in einem großartigen Moment der Ehrerweisung also das Zepter, das Mikro, weiter, bevor sie zu ihrem Part auf die Bühne schießt und die Halle in einen Techno-Tempel verwandelt.
Der irrste Moment aber ist, wenn sie die Menge um eine Minute des Schweigens bittet, um ihren eigenen Gesang für einen Harmonie-Loop aufzunehmen. Die sonst jede Zeile, jeden Basslauf mitbrüllenden Fans verstimmen tatsächlich. Ausnahmslos. Der Sturm, der sich entfacht, als sie ihre Stimmen wieder erheben dürfen, ist unbeschreiblich. Billie Eilish ist jetzt schon eine Jahrhundertfigur, der bedeutendste Popstar ihrer Generation.