„The Gumbo is cooking again“


Vor fünf Jahren zerstörte der Hurrikan Katrina Häuser und Hoffnungen von New Orleans. Doch der Musik konnte der Sturm ebenso wenig anhaben wie den Gumbo-Töpfen, in denen die Südstaaten-Variante der Fischsuppe köchelt. Im Jahr fünf nach der Katastrophe brodelt auf den Straßen des French Quarter der Jazz der Zukunft. Ein Bericht aus einer Stadt, die sich nie aufgegeben hat.

Phil Frazier schaut nicht so aus wie ein Mensch, der den Großteil seines Lebens mit einem 20 Kilo schweren Instrument auf den Schultern verbracht hat: Fast wirkt es, als ob der kleine Mann in den Turnschuhen und der halblangen Jeans angesichts der Wucht seiner eigenen Bassläufe über die Bühne schwankt. Der zerbeulte Schalltrichter seiner Tuba – sie stammt aus einer Post-Katrina-Spendenaktion für die Musiker aus New Orleans – beschreibt wilde Kreise, während sich die physische Anstrengung auf seiner Stirn abzeichnet: Boom ba ba boom bop! Hauptsache der Druck stimmt! Denn eine Brassband wird von der Rhythmussektion getrieben und die Rhythmussektion wiederum lastet auf den Schultern des Mannes mit dem größten Instrument: Phil Frazier. Seine dunkel vibrierenden Funkläufe unterfüttern das riffende Crescendo der Saxofone und Posaunen, befeuern eine plötzlich explodierende Trompete, halten den Rhythmus, wenn alle anderen in einer wilden Schlacht über- und nebeneinander herblasen. Dann fallen plötzlich alle in den selben Beat: „Do watcha wanna/ Dance on the corner …!“ Ein dissonanter Chant aus einem Dutzend Männerkehlen. Während eine junge Dame im hautengen Strass-Kleid ihr Tamburin über dem Kopf schlägt, sich nach vorne beugt und suggestiv ihren Hintern kreisen lässt. „Rebirth is New Orleans/ New Orleans is Rebirth“, rapt der MC Chuck Perkins im „House Of Blues“ in New Orleans ins Mikro. Keine Übertreibung: Füllt doch heute die Rebirth Brass Band den Platz aus, den bis zu den 90er-Jahren die Neville Brothers innehatten. Als Fahnenträger der örtlichen schwarzen Traditionen – so können Fraziers Jungs sonntags auf einer Parade durch die Sozialblocks marschieren, am Montag auf einer Bar-Eröffnung spielen, Dienstags ihren wöchentlichen Gig im Glasshouse geben und den Rest der Woche überraschend bei der einen oder anderen Party auftauchen …

„Man kann Häuser und Wohnblocks zerstören“, hatte Phil Frazier vor einer tausendköpfigen, meist weißen Zuschauermenge verkündet. „Aber man kann die Musik in uns nicht auslöschen“. Nach ihm fegen die Soulveteranin Irma Thomas, R’n’B-Sänger John Boutté und Mardi-Gras-Indians verschiedener örtlicher Tribes über die Bühne, rufen sie allesamt die Toten und die Überlebenden an, die hier zusammengekommen sind, um fünf Jahre nach Katrina die musikalische Wiedergeburt ihrer Stadt zu feiern. Brad Pitt lässt eine Grußbotschaft von der Bühne verlesen – die Einnahmen sollen seiner Wiederaufbau-Initiative im zerstörten Lower 9th Ward zugute kommen. Und auch der neugewählte weiße Bürgermeister Mitch Landrieu verpasst die Chance nicht, ein besseres, von Mord und Totschlag erlöstes New Orleans zu propagieren. Es ist von reparierten Deichen die Rede, von abgerissenen und renovierten Sozialwohnungsblocks, von der Säuberung der korrupten Polizei und von Millionen, die die Stadt in ihre Fremdenverkehrsindustrie pumpt. Am Ende aber wissen alle, das all diese Bemühungen nichts wert wären, würden nicht die jungen Musiker aus den schwarzen Vierteln, Typen wie Phil Frazier oder Trombone Shorty, Shamarr Allen und Kid Chocolate Brown, unaufhörlich neues Jazz-Blut in die Adern der Stadt pumpen und mit Enthusiasmus das Erbe von Louis Armstrong in die Gegenwart führen. „Wir haben hier in den letzten Jahren mehr junge Brassbands entstehen und mehr junge Talente ihren Weg gehen sehen als je zuvor“, sagt Phil Frazier. „The gumbo is cooking again.“ Die Szene ist lebhaft wie nie zuvor, es kocht auf den Straßen des French Quarters, und Frazier meint damit nicht nur die Gumbo-Töpfe, in denen die mythenumrankte New-Orleans-Variation der Fischsuppe im Jahr fünf nach Katrina wieder munter vor sich hinbrodelt.

Wie so viele Musiker der Stadt hatte Fraziers Rebirth Brass Band nie aufgehört zu spielen. Nur Wochen nach Katrina versammelten sich die über ganz Nordamerika verstreuten Musiker in Houston, wo sie für eine zu Tränen gerührte Flüchtlingsgemeinde „that ole N’awlins feel“ wiedererweckten. Und während noch eine nächtliche Ausgangssperre über New Orleans hing, nahm die Truppe ihre wöchentlichen Gigs im Katastrophengebiet wieder auf. Vor 27 Jahren hatte er mit seinem Basstrommel spielenden Bruder Keith und Trompeter Kermit Ruffins die Band aus der Taufe gehoben. Damals wickelten fast nur noch ältere Herren die Jazz-Funerals ab. Doch die jungen Spieler der Rebirth Brass Band brachten die Energie des Hip-Hop mit dem losen Spiel des Jazz zusammen, klauten bei Funk- und Reggaenummern und spielten jahrelang für ein paar Touristen-Dollars auf den Bürgersteigen des French Quarters. Heute sind sie selbst schon Veteranen. Und mit dafür verantwortlich, dass Ghetto-Typen mit goldverblendeten Zähnen jede Zeile von Louis Armstrong zitieren können, Jelly Roll Morton genauso populär ist wie Lil‘ Wayne und in New Orleans keine Demo, keine Bar-Eröffnung und keine Releaseparty eines Bounce-Rappers ohne einen Haufen wilder Bläser über die Bühne geht: „Feel Like Funkin‘ It Up!“ Die Hymne der Rebirth Brass Band inspirierte Dutzende Nachwuchsbands wie die Soul Rebels, die New Birth, die Lil Rascals oder die Hot 8 Brassband. „In einer Brassband zu sein“, erklärt Phil Frazier backstage im „House Of Blues“, während ihm der Schweiß unter dem Baseballkäppi hervorrinnt, „das ist für die Jugendlichen aus den Projects oft die einzige Alternative zu einer Karriere im Drogenhandel“. Eine Lebensversicherung allerdings ist die Musikerkarriere noch lange nicht: Die Rebirth Brass Band habe im Laufe der Jahre mehrere Mitglieder durch Schießereien verloren, andere wanderten ins Gefängnis. In der lange als „murder capital“ Amerikas geltenden Stadt gehöre es für die Musiker fast schon zum Alltag, auf Beerdigungen für gleichaltrige und jüngere Mordopfer zu spielen. „Wir leben vom Sterben der Anderen“, so hatte es ein Brassbandspieler einmal formuliert. Als Gangsta-Rap-Legende Soulja Slim vor acht Jahren vor dem Haus seines Schwiegervaters Phil Frazier niedergeschossen wurde, begleiteten sie ihn zusammen mit Tausenden Hip-Hop-Fans zum Grab, das Portrait des Verstorbenen auf der Brust. In New Orleans sieht man kaum eine Parade ohne diese tragbaren Grabsteine: T-Shirts mit einem aufgedruckten jungen Gesicht und zwei Daten, die euphemistisch als „Sunrise“ und „Sundown“ titeln.

„Ich habe mal einen Abend lang versucht“, sagt Chuck Perkins, „alle die Freunde und Bekannten aufzuschreiben, die eines gewaltsamen Todes gestorben bin. Bei Nummer 80 habe ich die Liste weggelegt.“ Der glatzköpfige Rapper, dessen Spoken-Poetry-Vorträge meist unangekündigt stattfinden und der mal Jazzmusiker, mal eine Truppe Mardi-Gras-Indians in vollem Federkostüm oder auch einen Bounce-Rapper mit auf die Bühne bringt, sitzt an der Bar des „Candlelight Diner“. Der Name trügt: Die Einrichtung besteht aus einem Dutzend Plastiktischen und Stühlen, einer langen Theke und ein paar Ketten mit bunten Glühbirnen, die den niedrigen Raum notdürftig beleuchten. Von den mobilen Barbecueständen vor der Tür weht ab und zu der Geruch brutzelnder Spare Ribs herein. Dienstagabend spielt die Treme Brass Band im letzten noch funktionierenden Live-Lokal des Treme-Viertels. Es gibt weder Bühne noch Beleuchtung. Doch wenn die Musiker sich mit ihren Instrumenten in das Eck zwischen Jukebox und Bar drängen und das Eröffnungsriff von „I Got A Big Fat Woman“ anblasen, dann zieht es die Menge aus der schwülen Nachtluft nach drinnen, und einige Frauen fangen an zu tanzen, während ein alter Mann rhythmisch sein Handtuch über den Kopf schwenkt. „Das Viertel wurde doppelt und dreifach getroffen“, erzählt Chuck Perkins und deutet auf die Grasfläche neben der Eingangstür auf der ein handgemaltes Schild „Tuba Fats‘ Place“ deklariert. „Zuerst starb 2004 Tuba Fats, der legendäre Tubaspieler, von dem fast alle der Jugendlichen hier auf die ein oder andere Weise Straßenunterricht erhielten – er war gerade mal 54 Jahre alt. Dann ließ Katrina Dutzende der alten Holzhäuser hier zusammenklappen. Und schließlich wurde auch noch Father Ledoux, der alte schwarze Pater, der die Jazzmusiker sonntags in die Kirche holte und den Widerstand im Viertel gegen die Immobilienhaie inspirierte, zwangsversetzt.“

Tatsächlich besteht New Orleans‘ Treme-Bezirk nur aus ein paar Dutzend Querstraßen: Sie verbinden den Congo Square, wo bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Sklaven tanzten und die Rhythmen des Jazz geboren wurden, mit den Reihen weißgekalkter Grabhäuser des historischen Cemetery Number One und St. Augustine, der ältesten schwarzen Kirche Amerikas. Von hier stammen die meisten Jazzmusiker der Stadt, hier enden die meisten Brass-Band-Paraden in der einen oder anderen improvisierten Nachbarschafts-bar. Dennoch finden nur wenig Touristen hierher – eilt doch dem Treme-Viertel ein Jahrhundert nach dem Abriss der Rotlicht-Kaschemmen von Storyville immer noch der Ruf eines gefährlichen Pflasters voraus.

Heute abend allerdings brummt der Laden: Troy Andrews alias Trombone Shorty ist zurück in der Stadt! Ehrensache, dass er im weißblau-gestreiften Camaro in der alten Nachbarschaft vorfährt. Hi-Fives für die Musikerkollegen, Küsschen für die Damen – und ein Ohr für den alten Mann, der den jungen Popstar zur Seite nimmt: „Hey, my man Shorty, erinnerst du dich, wie ich dich beschützt habe, als dich noch niemand kannte? Ohne Towntaker wärst du nirgendwo …“. Troy Andrews reicht dem alten Mann schließlich genug Kleingeld für ein paar Bier. Towntaker, erklärt er, habe aufgepasst, dass die Drogendealer ihre Geschäfte nicht vor dem Jungen abwickeln. Damals, als Shorty wie die anderen Kinder im Viertel begann, auf der Straße zu musizieren: „Mein Freund trommelte auf einem Bierkasten, und ich hielt einen Fahrradreifen als Fantasie-Tuba vor mich während ich den Basslauf des letzten Hits der Rebirth Brass Band prustete.“ Später sollte ein Onkel Trombone Shorty eine verbeulte Posaune geben, so dass er die alten Melodien mit frischen Funk-Riffs unterfüttern konnte. Ob bei Second-Line-Paraden, auf Jazz-Funerals oder Club-Gigs in den ständig wechselnden Eckbars. Trombone Shorty war immer mit von der Partie. „Da hatte meine Tante ihren Club“, sagt er und zeigt auf eine vermodernde Holzhütte „Eintritt ab 21 Jahren – ich war das einzige Kind dort. Manchmal haben sie mich sogar nachts aus dem Bett geholt: Shorty, wir brauchen deine Posaune“. Der 24-Jährige lacht sein lautes Jungs-Lachen. Andrews ist nicht nur der jüngste Shooting Star aus New Orleans. Er gehört zu einer jungen Szene von Musikern, die heimische Traditionen in neuen unerhörten Fusionen aufkochen, und sowohl der Disneyfizierung ihrer Stadt wie der konservativen Vorgänger-Generation um Wynton Marsalis kräftig den Marsch blasen. Ihre Botschaft ist klar: New Orleans hat den Schock von Katrina als Weckruf verstanden, seine Musik jedenfalls blüht wie lange nicht mehr.

Kermit Ruffins, Christian Scott, Irvin Mayfield oder auch Shamarr Allen oder Trombone Shorty: Die jungen Jazzgrößen der Stadt sind nicht nur allesamt einst mit den Brassbands um den Block gezogen – sie teilen deren musikaliches Credo: Die unbändige Lust am Mischen, Verkochen, Nachwürzen und Noch-mehr-hinein-Schmeißen. So verlötet Trombone Shorty auf seinem aktuellen Album Backatown den Funk der Meters mit dem Soul-Rock seines langjährigen Arbeitgebers Lenny Kravitz, legt Metal-Gitarren über Brassband-Riffs: „Das Hip-Hop-Drumset entstand doch aus unserem Backbeat, genauso wie der Rock’n’Roll“, erklärt Shorty in seinem schleppenden New-Orleans-Drawl, „wir brauchen diese Energien!“ Letztendlich sieht er sich auch hier in der Nachfolge seines Vorbilds Satchmo: „Viele Menschen sehen Armstrong als einen traditionellen Jazzmusiker. Aber in seiner Zeit war er nicht traditionell, er spielte vorher nie gehörte Popmusik, stellte so etwas wie den ersten Rockstar dar: Er reiste um die Welt, verkaufte Arenen aus“. Ganz ähnlich hat Trombone Shorty in den letzten sechs Jahren gelebt. Als Katrina wütete, tourte er gerade mit Lenny Kravitz rund um den Globus. Heute ist er – neben Kermit Ruffins – eines der musikalischen Aushängeschilder der gerade in die zweite Staffel gehenden populären Fernsehserie „Treme“. „Hey, wir können nicht anfangen. Trombone Shorty fehlt“, ruft einer der Band-Protagonisten in der ersten Folge. Wenn Millionen Amerikaner jede Woche am Bildschirm eine Ahnung davon bekommen, was ein Musikerleben in Treme ausmacht, dann ist Shorty in dieses Leben hinein gewachsen: Sein Großvater Jessie Hill war ein lokaler Rock’n’Roll-Held, Nachbarschaftslegenden wie Tuba Fats und Kermit Ruffins unterrichteten ihn, seine älteren Brüder James und Glen Andrews nahmen ihn schon als Kind mit auf Tournee. Ein Geflecht aus Familienbeziehungen und Straßenlehrern, durch das in New Orleans Wissen an nachwachsende Generationen weitergereicht wird. So lernte Troys Großvater von der Banjolegende Danny Barker, der wiederum schon mit Louis Armstrong zusammenspielte … „Hier gibt jeder etwas an jeden weiter“, erklärt Trombone Shorty. „Mit meinen Freunden höre ich Bounce-Hip-Hop, meine Brüder spielen traditionellen Jazz und dann triffst du im Club um die Ecke zufällig einen Rockmusiker, der dich zu sich auf die Bühne holt. Nicht weil du seine Musik spielst, sondern weil du für ihn einfach der Posaunist bist.“

Chuck Perkins hat den Wagen vorgefahren: „Wir müssen noch ein paar Musiker treffen“ – schließlich spielen zur selben Zeit wie die Treme im „Candlelight Diner“ auch noch die Hot 8 Brass Band im „Howlin‘ Wolf„, ist eine Blues Session in Ernie K-Does „Mother In Law Lounge“ angekündigt, treten in den Clubs der Frenchmen Street ein Dutzend befreundete Jazzmusiker auf. „In New Orleans tauschen wir mit der Musik die Geschichten aus. Ich sammle sie und mache Gedichte daraus …“ Klar, dass Perkins regelmäßig ins „Musicians‘ Village“ im verwüsteten 9th Ward fährt, wo mit Spendengeldern Häuser für die verdienten aber mittellosen Musiker der Stadt erbaut wurden. Dort wartet Smokey Johnson, der Schlagzeuger von unter anderem Fats Domino und Professor Longhair, im Abendlicht auf seiner Holzveranda. Er sitzt im Rollstuhl, eines seiner Beine ist wegen Diabetes amputiert. Dass er dennoch trommeln kann, zeigte er zuletzt auf dem Dr.-John-Album N’awlins, Dis, Dat and Duddah. „Die jungen Rapper können noch was lernen, wenn ich mein Tamburin schwinge“. Johnson lacht. Und erzählt, wie die New-Orleans-Musiker schon immer vagabundiernden Goldgräbern glichen. „Anfang der 60er-Jahre bin ich mit ein paar Kumpels nach Detroit hochgefahren. Berry Gordy, der Motown-Chef, meinte, er bräuchte einen Schlagzeuger wie mich, und ich sollte ein paar der Musiker von hier unten mitbringen. Doch als wir ankamen, hatte Cosimo Matassa (der Studio-Boss aus New Orleans) davon Wind gekriegt. Er drohte mit einer Klage. Und wir mussten unverrichteter Dinge zurück.“ Was wohl aus dem Motown-Sound geworden wäre, hätte er die Swingtime aus New Orleans gehabt?

„We’ll work today/ If you play tonight/ That makes us all right/ The sounds of your horns/ Gives us strength to fight …“, rapt Chuck Perkins auf den Stufen vor der „Bullet’s Sportsbar“, während drinnen Trompeter Kermit Ruffins mit ein paar Mitmusikern einen Tanzabend moderiert. An der Tür ein Schild: „Keine weißen T-Shirts“ – es geht um die Dresscodes der lokalen Gangs. Aus der Jukebox schmettern alte Michael-Jackson- und Kool-&-The-Gang-Hits, ein paar massige schwarze Frauen in Abendkleidern wippen fingerschnippend mit, ziehen sich die Männer von den Tischen – und hören auch dann nicht zu tanzen auf, als Kermit Ruffins seinen Joint weglegt und in eine alte Rock’n’Roll-Nummer von Jessie Hill einfällt: „I Got Mine“. Louis Armstrong und die Isley Brothers, Jelly Roll Morton und Juvenile, wenn Kermit Ruffins in dieser tiefen und bisweilen um einen halben Ton danebenliegenden Baritonstimme ans Mikro tritt, dann ist das alles nur Musik. „Typen wie Kermit“, sagt Perkins, „stehen dafür, dass unsere Stadt nicht nur Drogen, Gewalt und Armut hervorbringt. Sondern eine sinnliche Erfahrung, die du nirgends sonst in Amerika findest!“ Als er noch im Treme-Viertel wohnte, schmiss Ruffins alle paar Wochen ein großes Barbecue mit Live-Musik – kostenlos und für alle. Sehr authentisch erwidert er einem Journalisten, der ihn in der Fernsehserie „Treme“ fragt, ob er wirklich die Bierflaschen und Barbecues der Nachbarschaftsschuppen einer Welttournee vorziehe: „Yeah, that’ll work for me“.

Shamarr Allen hat es immerhin schon in den besten Jazzclub der Stadt geschafft: Der bullige Typ mit Rasta-Löckchen und einem „My Trumpet Is My Weapon“-T-Shirt tritt einmal die Woche in Irvin Mayfields „Jazz Playhouse“ in der Bourbonstreet auf. Es scheint ihm Spaß zu machen, das überwiegend weiße, ältere Publikum zu verunsichern: Auf eine rockende Version von „St. James Infirmary“ folgen ein paar Takte Bossa Nova oder ein Country-Stück, das er als Bandmitglied von Willie Nelson lernte. „Wir New-Orleans-Musiker haben das daheim immer so gespielt“, erklärt Allen. „Aber lange fehlte uns das Selbstbewusstsein, nach außen für diese Mischung einzustehen“. Allen, wie Irvin Mayfield und Trombone Shorty ein Abgänger der örtlichen NOCCA-Musikakademie, ist das beste Beispiel dafür, wie fließend in New Orleans die Grenzen zwischen Hochkultur und Volksmusik sind. Der Trompeter spielte lange mit der Rebirth Brass Band und der Hot 8. Nachdem der Drummer der Hot 8 – wie so viele Musiker vor ihm – einer Drogendealer-Schießerei zum Opfer fiel, fing er an, kostenlosen Musikunterricht für Jugendliche anzubieten: „Silence Is Violence“ heißt die Initiative. Und dass viele Kids aus New Orleans sich nichts sehnlicher wünschen, als in einer Brassband mitzuspielen, liegt auch an Vorbildern wie Shamarr Allen. Er fährt – sonst Vorrecht der örtlichen Drogendealer – dicke Autos mit verchromten Felgen und dunkel getönten Fenstern, und lässt sich nicht den Mund verbieten. In einem seiner Songs erklärt er, dass „die Cops mich anhalten und schikanieren können, aber niemals dazu bringen werden, Frisur, Kleidung oder Auto auszuwechseln“. Mit seinem nächsten Album will Allen auch musikalisch provozieren. Er wird es komplett mit dem örtlichen Bounce-Star Mannie Fresh, ansonsten der musikalische Ziehvater von Lil Wayne und der gesamen Cash Money Posse, aufnehmen. Jazz, sagt Allen, sei hier immer funktional ausgerichtet. „Er wurde bei Beerdigungen kreiert, als die Musiker Kirchensongs zu Second-Line-Tänzen abwandelten. Sie machten Musik für das Biertrinken in der Bar, andere Musik für den Gottesdienst und wieder andere für eine Ausflug mit dem Partydampfer“. In diesem Sinne teile selbst die örtliche Hip-Hop-Variante Bounce ein Stück Jazz-Philosphie: „Ein paar Schüler haben sie erfunden – nicht weil sie reich und berühmt sein wollten, sondern weil sie neue Beats für eine Tanzveranstaltung bastelten“.

Lokaltermin mit Fifth Ward Weebee und Mike Measley in der „Bullet’s-Sportsbar“ in Midtown: Sie sind gegenwärtig die größten Talente einer Stadt, in der Rap inzwischen selbst in den Jazzclubs angekommen ist. Während Weebee, ein agiler untersetzter Rhetoriker, erklärt, wie er Lil‘ Wayne dazu brachte, auf seinem letzten Hit mitzuwirken, und demonstriert, wie er selbst über schmutzige Unterhosen reimen kann, gibt sich der große, tätowierte Rapperkollege eher wortkarg: „Bounce ist Partymusik, Wohlfühlmusik, Soulmusik“, wirft Measley in langsamem Drawl dazwischen, als ob er Weebees Wortschwall auf den Punkt bringen wolle. „Wenn der Tag etwa mies gelaufen ist, du die ganze Kohle für die Miete aufgebraucht und nur noch ein paar Dollars in der Tasche hast – dann bist du in der Stimmung, um in den Club zu gehen, und diesen Beat aufzunehmen, dich von ihm davontragen zu lassen. Das ist es, was Bounce für die Nachbarschaft leistet.“

Zwar befeuerten die Beats dieser Hip-Hop-Spielart schon Hits von internationalen Superstars wie Lil Wayne und Beyoncé, letztlich bleibt Bounce aber stark in lokalen Traditionen verwurzelt. So entstammen manche Ruf- und Antwortgesänge den traditionellen Chants der Black Indians, scheppern Brassbands im Rahmen von Bounce-Parties, gastieren einige der aktuellen Bounce-Stars auf dem letzten Album der lokalen weißen Funkhelden Galactic neben ehrwürdigen Soullegenden wie Allen Toussaint und Irma Thomas. Generell gilt 1991 als Geburtsjahr der bis vor kurzem endemischen Musikgattung Bounce: Damals veröffentlichte MC T. Tucker den Song „Where Dey At“, ein Chant, der über einem rohen, abgespeckten Beat einzig und allein auf maximale Tanz-Animation abzielte. Der „Triggaman“ genannte Rhythmus hat seitdem nicht nur Tausende nachfolgender Bounce-Songs unterfüttert. Er inspirierte auch die Entstehung anderer erfolgreicher Spielarten des Südstaaten-Rap wie etwa Crunk und Snap. Ebenfalls relativ schlicht – oder traditionsbewusst – gestalten sich die Raps: Die hektischen „chop and cut“-Beats lassen keinen Platz für längere Narrative. Also werden altbewährte Phrasen, Schlagwörter und gnadenlos eindeutige Beschreibungen von Sexualakten rekombiniert. Fifth Ward Weebees „Fuck Katrina“ aus dem Jahre 2005 war dabei die Ausnahme: „New Orleans is over, go get the bulldozer/ Fuck Katrina, the girl is a creeper/ She hanging with Rita, fucked over my people.“ Das waren vor fünf Jahren die Zeilen, die eine ganze Stadt mitbrüllte. Heute allerdings, erklärt Weebee ein wenig verbittert, hätte eine neue Mode den Bounce korrumpiert: „Alles was ich in den Clubs und aus dem Radio höre, sind die Sissy-Bounce-Acts. Bei ihnen geht es nur noch um den Beat – und das Schwulen-Geschreie“.

Tatsächlich haben die Sissy Rapper, in Frauenkleidern auftretende oder als Frauen posierende Schwule, heute einen Großteil der Club-Gigs in New Orleans übernommen. Etwa den Sonntagabend im „Duck Off“: Vor dem Eingang ein wackliges Metalltor. Nach dem Passieren dieses Waffendetektors heißt es, die Arme zu heben und sich von zwei schrankbreiten Typen abklopfen lassen: „Okay Sir“. Dann erst öffnet sich die Türe zum eigentlichen Club: Ein schwach beleuchteter langer Schlauch, aufgeputzte, junge Frauen in hautengen Tops, Leggins und strassbesetzten Medaillons stehen in Gruppen zusammen. Gelegentlich nehmen sie für ein paar Takte den erbarmungslos knatternden Bounce-Beat auf. Dann bewegen sie ihre Becken ruckartig hoch und runter. Auf allen Vieren. Und in einer Frequenz, die selbst die zerhackten Gesangsparts dieser lokalen Hip-Hop-Spielart mehrfach überholt. Doch das sind nur Aufwärmübungen. Alle warten hier auf den eigentlichen Star des Abends, den Rapper, pardon – die Rapperin, die die Tanzfläche in Wallung bringen soll: Sissy Nobby.

Kurz vor zwei Uhr nachts der erlösende Schrei: „Nooooubeee!“ Eine dickliche kleine Energiekugel im Leopardentop und mit bunter Plastikbrille tanzt herein. „Nooouubeee!“. Wenn Bounce-DJs routinemäßig die Melodien ihrer Songs zerhacken, dann imitiert Nobby diesen Sound mit stotternden Raps. „Do it baby, stick it! Like a sis – sis-sis-sissy!“ Nobby ist biologisch gesehen zwar ein Mann. Doch lässt er sich gerne als „she“ anreden. Wenn Sissy oder Schwuchtel woanders auch ein Schimpfwort sein mag – in New Orleans hat der Begriff nichts Abwertendes an sich, ziert er vielmehr die Stars der örtlichen Bounce-Szene: Sissy Jay, Sissy Gold oder die Gruppe Sissies With Attitude. Auch Katey Red, Big Freedia und Vockah Redu kündigen sich gerne als „Sissies“ oder „Punks“ an. Jedenfalls bringt Sissy Nobby eine Ausgelassenheit auf die Bühne, die dem in Macho-Stanzen erstarrten Hip-Hop allzuoft abgeht. Ein halbes Dutzend Mädchen – es bleibt unklar, ob sie Teil der Show sind oder bloß begeisterte Fans – reihen sich rund um Nobby, strecken ihm ihre vibrierenden Hinterteile entgegen und führen den hypersexualisierten Signatur-Tanz des Bounce auf: „Pop and Wobble“. Die Tanzfläche füllt sich mit jungen Frauen, die es ihnen nach tun. Sie sind in der klaren Mehrheit, während die Männer kaum wegen der schwulen Sex-Raps gekommen sind – sondern um den Frauen beim Tanzen zuzuschauen. „Shake it for the 6th ward, work it for the 7th ward!“, kiekst Nobby ins Mikro. Die Angesprochenen johlen zurück. Selbst im Rahmen der Stadtaufwertung kürzlich planierte Sozialsiedlungen werden rituell ausgerufen. Jenseits aller sexuellen Identitäten geht es um einen gemeinsamen örtlichen Bezug – über alle Genregrenzen hinaus: „Die Menschen in New Orleans gehen nicht in den Club, um über Texte nachzudenken“, erklärt Sissy Nobby anschließend, „sie wollen die Energie spüren. Und sich vergewissern, dass sie immer noch am Leben sind!“Dass der Geist von New Orleans tatsächlich unverwüstlich ist, zeigt am nächsten Tag die Parade der „Black Men Of Labor“, mit der jeden September die „parade season“, die Jahreszeit der Umzüge, beginnt. Drei Dutzend Männer in gestärkten weißen Anzügen, mit Fliegen und Strohhüten, tanzen girlandenschwenkend durch die schlaglochübersäten Straßen des Treme-Viertels. Hinter ihnen das gewaltige Gebläse der Rebirth Brass Band. Tubaspieler Phil Frazier sieht man die Anstrengung an – er ist mit seiner Combo bereits mehrere Stunden lang über den brennenden Asphalt marschiert, die schwüle Luft droht ihm den Atem zu nehmen. Und doch drückt er einen gewaltigen Basslauf nach dem anderen aus seinem Rohr: Adaptierte Dancefloor- und Jazz-Standards, zu dem das vielhundertköpfige und zunehmend betrunkene Gefolge (in New Orleans nennt man es „Second Line“) ausgelassen springt, vorwärts schiebt, auf Autodächern trommelt oder einen dieser eindeutig-zweideutigen Tänze inszeniert, bei der die einen auf allen Vieren kriechen, während die anderen breitbeinig und mit eindeutigen Beckenbewegungen über sie hinwegsteigen. Angesichts eines solchen Umzugs nur still zu stehen heißt, sich gegen den Feiergeist zu stellen – in New Orleans ein kapitales Verbrechen, wie jeder Einheimische bestätigen kann. Näher kann man kaum dran sein an den Ursprüngen des Jazz: Die Musik mag sich geändert haben, aber ihr folgen dieselben jungen Männer aus der schwarzen Unterschicht, die denselben Slang sprechen, die durch dieselben Straßen ziehen und dieselbe Lebenslust im Angesichts des allgegenwärtigen Unterganges versprühen wie Generationen von New Orleanians vor ihnen. Viele von ihnen können Musik besser spüren als lesen. Keine Frage, hier braucht man keine Museen. Der Jazz erfindet sich aus dieser speziellen Mischung von Unerschrockenheit, Assimiliation und Schlendrian immer wieder aufs Neue. Wie hat es doch Trombone Shorty formuliert? „In New Orleans kannst du nichts voneinander trennen. Alles vermischt sich, bis du nicht mehr weißt, was es einmal gewesen ist, sondern alles Teil eines einzigen funky Gumbo geworden ist.“