Kritik

„The Last Dance“ auf Netflix: Wie Michael Jordan die Chicago Bulls zum besten Basketballteam der Welt machte


Michael Jordan gilt bis heute als der beste, vollständigste und legendärste Basketballspieler, den die Sportwelt jemals sah. Eine neue, spektakuläre Doku erzählt in zehn Folgen von seinem rasanten Aufstieg, der auch den Chicago Bulls und der Profiliga NBA zu so nie dagewesenem Weltruhm verhalf.

„His Airness“ Michael Jordan wäre wohl auch ohne die Chicago Bulls der legendärste Basketballer aller Zeiten geworden. Die Bulls ohne ihn aber gewiss nicht DAS dominierende NBA-Team der Neunziger – mit sechs gewonnenen Meisterschaften in sieben Jahren. Davon erzählt die nun bei Netflix gestartete ESPN-Doku „The Last Dance“. Sie ist ein Quell der Freude, Nostalgie und Fun Facts für Menschen, die die Profiliga damals schon verfolgten. Und ein Stück Sportgeschichte für alle anderen.

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19. Juni 1984 in New York. Beim 37. Draft, also dem Event, bei dem die NBA-Profiteams die talentiertesten Newcomer der Reihe nach für ihren Kader verpflichten, versammeln sich diverse Namen, die bald Legenden werden würden: Auf Platz 1 wählen die Houston Rockets den nigerianischen Center Hakeem Olajuwon aus. Die Portland Trailblazers „picken“ Sam Bowie auf Platz 2. Auf Platz 3 entscheiden sich die Chicago Bulls für Michael Jordan, der schon in seinem Collegeteam in North Carolina als kommender Superstar galt. Es folgten Namen wie John Stockton, Charles Barkley, Alvin Robertson und Otis Thorpe. Die Klasse von ’84 gilt als der vielleicht stärkste Rookie-Jahrgang in der Geschichte der NBA. Einige von ihnen werden 1992 als „Dream Team“ die Sommer-Olympiade in Barcelona dominieren. Sam Bowie nicht: An ihn erinnert sich niemand wegen seines Spiels, sondern weil er derjenige war, der zwischen Olajuwon und Jordan gedraftet wurde.

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Dass der damals 21-jährige Michael Jordan ein Ausnahmeathlet ist und die Liga bald wie kein anderer dominieren würde, ahnte nicht nur der Trainerstab bei ersten Testspielen nach seiner Verpflichtung. Schon in seiner zweiten Saison verletzte er sich derart am Fuß, dass die restlichen Spielzeit für ihn auf der Kippe stand. Die Ärzte attestierten ihm eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit, dass eine Wiederverletzung seine Karriere beenden könnte, wenn er zu früh weiterspielen würde. Teambesitzer Jerry Reinsdorf fragte Jordan: „Wenn Du Kopfschmerzen hast und ein Doktor die zehn Tabletten gäbe, von denen einer aber tödlich sein könnte, würdest du sie nehmen?“ Jordan, so will es die in der Doku erzählte Legende, soll geantwortet haben: „Kommt darauf an wie stark die verdammten Kopfschmerzen sind.“ Eine Anekdote, die neben Jordans Talent auch von seinem unbedingten Willen berichtet.

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Der einflussreichste Schwarze der Neunziger

Die zehnteilige Doku „The Last Dance“, deren ersten zwei Folgen nun auf Netflix im Stream zu sehen sind und jeden Montag eine weitere Episode folgt, erzählt nicht nur vom Aufstieg Michael Jordans zum Superstar, zur Werbeikone und zum „neben Oprah Winfrey einflussreichsten Schwarzen der Neunziger“, sondern auch von seinen Mitspielern. Von Scottie Pippen, dem wohl besten zweiten Mann aller Zeiten, 1987 von den Seattle Supersonics gedraftet und auf der Stelle – er selbst erfuhr von einem Journalisten davon – nach Chicago getauscht. Von Dennis Rodman, dem Paradiesvogel, dem Enfant Terrible mit den bunten Haaren, Tattoos und Piercings, diesem Reboundmonster mit Spitznamen The Worm, der großer Pearl-Jam-Fan und zeitweise Madonnas Lover war.

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Es gibt diese aufschlussreiche Behind-The-Scenes-Dokumentation, weil die Chicago Bulls sich in ihrem letzten großen Jahr, der Saison 1997-1998, von einem Kamerateam begleiten ließen, die Bilder unter Verschluss hielten und Filmemacher Jason Hehir („OJ Simpson: Made In America“) nun endlich für ESPN die Verwertungsrechte daran erhielt. Er hat das Archivmaterial nicht nur ausgewertet, sondern etliche neue Interviews geführt und O-Töne gesammelt. Neben dem heute 57-jährigen und irgendwie undurchschaubar wirkenden Michael Jordan selbst, Scottie Pippen und weiteren ehemaligen Mitspielern kommen unter anderem Barack Obama, Bill Clinton, Magic Johnson, Larry Bird, Isiah Thomas, Patrick Ewing, Charles Barkley und der Anfang 2020 verstorbene ehemalige NBA-Commissioner David Stern zu Wort. Jeder Satz von ihnen belegt die Größe und Strahlkraft Jordans, der vielleicht beste Kommentar kommt aber vom damaligen Point Guard der Bulls Steve Kerr. Warum sie so gut seien, wurde er vor laufender Kamera gefragt. Kerr überlegt kurz, will wohl etwas Diplomatisches über sein Team sagen und entscheidet sich dann lachend um: „Weil wir Michael haben, darum!“

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Trotz des Vorbilds, das Jordan auf dem Platz und abseits davon stets war, steht er hier nicht ausschließlich als der Sympathieträger da, als der er für alle Welt galt: Auch er übt sich im Trash Talk, schnauzt seine Kollegen an und ist sich der Wichtigkeit seines Spiels für den Rest des Teams bewusst. In den weiteren Folgen soll es um den Aufbau der Marke Jordan als NBA-Botschafter und Werbeträger gehen, um seinen Nike-Deal, um sein Karriereende, seine Baseball-Versuche und seine geschäftlichen Unternehmungen, zum Beispiel als Teambesitzer der Charlotte Hornets. Und darum, wie er seine Produktlinien mutmaßlich wichtiger als seinen gesellschaftlichen Einfluss bewertete – oder schlichtweg keinen haben wollte. Als der schwarze Kandidat Harvey Gantt in Jordans Heimat-Bundesstaat North Carolina Senator werden wollte, sagte Jordan dem Demokraten seine Unterstützung ab. „Republikaner kaufen auch Sneaker“, soll er gesagt haben.

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Michael Jordan spielte jedes Spiel, als ob es sein letztes wäre

„The Last Dance“ ist neben der Veranschaulichung und Einordnung der Ära Jordans aber auch ein Lehrstück darüber, was für Wirtschaftsunternehmen amerikanische Profisport-Franchises sind: Rein spielerisch hätten die Chicago Bulls rund um Jordan, Pippen und Rodman sicher noch ein oder zwei Jahre die Liga dominieren können. General Manager Jerry Krause und sein Team aber sahen ihre Firma nach sechs Titeln und nicht jünger werdenden Key Playern bereit für einen Neustart. Scottie Pippen wurde nach Streitigkeiten nach Houston getradet, MJ trat zum zweiten Mal zurück, Rodman wechselte zu den Los Angeles Lakers. Trainerlegende Phil Jackson sah all das kommen und rief „The Last Dance“, der letzte Tanz, als Motto für die letzte Saison dieses unglaublichen Teams aus.

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An Jordan Erbe rüttelt „The Last Dance“ freilich trotzdem kein Stück, es zementiert es vielmehr. An einer Stelle der ersten zwei Folgen wird die Quintessenz seines Erfolgs und seiner Beliebtheit wie folgt auf den Punkt gebracht: „Die Fans kamen zu den Spielen, weil sie Michael Jordan sehen wollten. Sie bekamen ihn zu sehen, aber niemals musste einer sagen, es wäre nicht Jordans Tag gewesen und er hätte nur zwölf Punkte gemacht. ‚That never happened‘: Michael Jordan spielte jedes Spiel, als ob es sein letztes wäre.“ Wer sich zum Beispiel an Spiel 5 der Finalserie 1997 erinnert, in dem Jordan mit Fieber antrat, 38  Punkte, sieben Rebounds, fünf Assists, drei Steals, einen Block und den entscheidenden Drei-Punkte-Wurf hinlegte und das als „Flu Game“ in die Geschichte einging, wird dem mit glänzenden Augen zustimmen.

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„The Last Dance“, 10 Folgen, seit 20. April 2020 auf Netflix im Stream verfügbar

Focus On Sport Focus on Sport via Getty Images