Ein Besuch bei The National: Tut uns leid, Michael Stipe!
Für ihre Fans klingt es nach einer offensichtlichen Frage, für die Band könnte sie kaum egaler sein: Warum sind The National eigentlich keine Weltstars? Weil sie sich nicht für Popsongs interessieren. Sie arbeiten lieber daran, ihre Musik für sich selbst interessant zu halten. So auch auf ihrer neuen, hervorragenden Platte. Ein Besuch bei der Albumpremiere im Haus der ehemaligen Bassistin von Hole. Weit draußen vor New York. Dort, wo die Sterne leuchten.
„The National sind eine nachdenkliche Band, zum Glück“, ergänzt Bryce Dessner: „Wir machen uns keine Illusionen darüber, dass wir die beste Band der Welt sind. Allein, um eine gute Band zu sein, müssen wir hart arbeiten, einfach auch im handwerklichen Sinn.“ Möglicherweise lässt sich aus dieser Aussage etwas über den weiteren Karrierepfad ableiten: Die Dessners befinden sich auf musikalischer Walz durch die halbe Welt, immer auf der Durchreise, ständig am Werken, Verfeinern und Dazulernen – bis diese Gesellen irgendwann ihr großes Meisterwerk abliefern. Ihre große musikalische Neugier verbindet die Brüder mit der Experimentierfreude von Leuten wie Justin Vernon, Radioheads Jonny Greenwood oder auch Damon Albarn. All diese Künstler probieren und laborieren, spielen mit anderen Künstlern und hören vor allem sehr genau zu. Sie messen sich mit anderen Musikern, ohne im Wettbewerb mit ihnen zu stehen.
„Warum schreibt ihr nicht einfach mal einen Popsong?“
Und dann steht eines Tages Michael Stipe da und stellt den New Yorker Kollegen diese Frage: „Warum schreibt ihr nicht einfach mal einen Popsong?“ Eine simple, sehr gute Frage. „,Wir wissen nicht, wie das geht.‘ Das habe ich ihm an dem Abend gesagt“, erzählt Matt Berninger, Sänger, Texter und bekanntestes Gesicht von The National. Das zweite Interview mit der anderen Hälfte der Band: Berninger und die Brüder Bryan (Schlagzeug) und Scott (Bass) Devendorf.
Was für ein Kontrast: auf der einen Seite die wohlgewählten Worte über Musik, Songwriting, Kunst, Experiment, das Bauen an der Zukunft dieser Band. Hier nun ein Stimmengewirr aus unterbrochenen Sätzen und Einschüben. Dem Nebenmann einen Spruch drücken und bloß keinen Joke auslassen. Haben die drei vielleicht doch Wodka in ihren Wassergläsern?
„Ein Popsong? Was bedeutet das? Ein catchy beat, ein ganz besonderer Sound? … ‚Losing My Religion‘ war ein Popsong, oder?“, sagt Berninger. „Aber würde so ein Stück heute immer noch ganz oben in den Charts landen? Ich weiß nicht, was Popsongs sind. Natürlich verstehe ich die Frage, aber wir wissen nicht, was das für Songs sein sollen. Das hatte weder Priorität, noch war das je unsere Ambition.“
„Du musst nicht über die Regierung oder Politik schreiben, aber ich will etwas über dich erfahren, in dem ein Funke Wahrheit steckt!“ – Matt Berninger
Wie schwierig ist es tatsächlich, einen Popsong zu schreiben? Prince wusste es, aber der ist tot. So auch Bowie. Die Pet Shop Boys, die leben noch! Und Michael Stipe, der konnte das auch, wenn er wollte. „Losing My Religion“ ließ für seine Band damals den Knoten außerhalb der USA platzen. Auch The National sind mit jedem Album ein Stück berühmter geworden, Europa hatte sie dabei schon früh im Visier. Und „The System Only Dreams In Total Darkness“, die erste Single vom neuen Album, wird im Radio gespielt wie keiner ihrer Songs zuvor. Vielleicht sind auf der Platte ein paar Stücke, die dieses gewisse ,je ne sais quoi‘ haben. Aber sind das Popsongs … ?
Michael Stipe hatte gut Reden. Heute jettet er durch die Welt mit Weihnachtsmannbart und Glatze, kümmert sich um Liebhaberprojekte und bekommt pünktlich seine Tantiemenschecks für die R.E.M.-Singles, die heute noch im Radio laufen. Allerdings zahlte er auch einen Preis dafür: „Ich ging durch eine Phase“, sagte Stipe einmal in einem Interview, „in der ich es nicht mehr ausstehen konnte, irgendetwas von mir zu hören oder über mich zu lesen“.
Wie geht man mit Ruhm um?
Wie man mit Ruhm umgeht, ist wohl eine Charakterfrage. Aber wie man es auch dreht: Irgendwann leidet jede Band und ihre Musik darunter. Die Dessners sind auf jeden Fall gewarnt: „Ab einem gewissen Punkt müssen wir uns fragen, ob wir das Schiff in die falsche Richtung lenken“, sagt Bryce. „Irgendwann wird das Erlebnis für unsere Fans nicht besser, je größer die Hallen werden. Schauen wir auf die Künstler, die wir lieben, und ihre Karrieren, zeigt sich, dass man sich in erster Linie um die Fans kümmern muss, die man hat, und nicht um die, die man vielleicht dazugewinnt, wenn man diese oder jene Art von Song schreibt.“
Zwei Gedanken: Vielleicht ist es einfach auch lächerlich für ein paar Mittvierziger, Popsongs zu schreiben. Und vielleicht ist es in den USA momentan auch nicht die Zeit, das oberflächliche Genre Pop zu bedienen …
Matt Berninger: Wir sind zu 100 Prozent nicht einverstanden mit dieser Regierung. Allerdings reflektiert unsere Platte diesen Protest nur ausschnittsweise. Aber für mich ist auch jedes Liebeslied politisch. Romantik und Ehe sind politisch. Alles ist politisch, Kunst ist politisch. Man muss nicht über die Regierung schreiben, um einen politischen Song zu schreiben.
Bryan Devendorf: Man muss da genau unterscheiden – was ist ein politischer Song und was ist ein Protestsong? Ich glaube nicht, dass wir Protestsongs schreiben …
Berninger: Ich weiß nicht, wie man sich Künstler nennen kann, ohne da irgendwie doch drauf rumzukauen.
Den Luxus, nicht politisch zu sein, kann man sich in den USA eigentlich gar nicht mehr leisten, oder?
Berninger: Und doch versuchen gewisse Bands, das Thema verzweifelt zu umgehen. Wie kann man in einer Welt leben, in der es schon vor Jahren jemanden wie Nina Simone gab, Künstler, die den Anfang gemacht haben, und andere versuchen sich herauszureden mit einem Satz wie „Wir wollen Politik und Kunst nicht vermischen“!? Ja, und was macht ihr denn stattdessen? Und warum sollte mich das bitte interessieren?! Du musst nicht über die Regierung oder Politik schreiben, aber ich will etwas über dich erfahren, in dem ein Funke Wahrheit steckt!