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Ein Besuch bei The National: Tut uns leid, Michael Stipe!


Für ihre Fans klingt es nach einer offensichtlichen Frage, für die Band könnte sie kaum egaler sein: Warum sind The National eigentlich keine Weltstars? Weil sie sich nicht für Popsongs interessieren. Sie arbeiten lieber daran, ihre Musik für sich selbst interessant zu halten. So auch auf ihrer neuen, hervorragenden Platte. Ein Besuch bei der Albumpremiere im Haus der ehemaligen Bassistin von Hole. Weit draußen vor New York. Dort, wo die Sterne leuchten.

Mittagessen ist das Beste!

Als am Anfang des Gesprächs eher zufällig das Wort Washington fällt, kommen ­Berninger und die Devendorf-Brüder von dem Thema nicht mehr los. Irgendwann drängt die Zeit, die Band muss zum Soundcheck. Die meisten La-di-da-Fragen müssen leider entfallen: Warum kennen Amerikaner keinen weißen Spargel? Ist George W. Bush ein guter Maler? Freuen sie sich auf die zweite Staffel von „Stranger Things“?

Eine letzte geht dann doch noch: Vermissen sie eigentlich manchmal den Büroalltag in Manhattan, wo sie früher gearbeitet haben, als es mit der Band noch nicht so gut lief? „Manche Dinge vermisse ich, die Regelmäßigkeit zum Beispiel“, sagt Berninger. „Mir fehlt das gemeinsame Mittagessen.“

Matt Berninger beim Panorama Festival in New York am 23.07.2016
Matt Berninger beim Panorama Festival in New York am 23.07.2016

„Mittagessen ist das Beste“, sagt der gertenschlanke Bryan Devendorf. „Ja, der ganze Teeküchenkram. Wir sind immer mit allen aus dem Büro trinken gegangen. Arbeit war für uns ein Spielplatz für Freundschaften“, erzählt Berninger. „Die Kunden vermisse ich nicht. Mastercard und die Pharmaindustrie. Ich musste mal vor dem Gründer einer Fitnesskette eine Präsentation zeigen. Eine Fitnesskette … in dem Augenblick wusste ich: ,Scheiß drauf, ich kündige!‘“

Beim Soundcheck dirigieren, natürlich, die Dessners die Band. In der Mitte der Haupthalle der „Basilica Hudson“ steht eine große Rundbühne für die Band. In drei der vier Ecken des Saals sind kleinere Bühnen aufgebaut, auf denen später am Abend einige der Künstler stehen werden, die auch auf dem neuen National-Album zu hören sind.

Unter ihnen – Buke & Gase, Nadia Sirota und SO Percussion heißen weitere Acts – bekannte Gesichter aus Deutschland: Mouse On Mars alias Andi Toma und Jan St. Werner. Die beiden Musiker lernten die Dessners im „Funkhaus“ kennen, wo sie ihr eigenes Studio haben. „Sie wurden mit einer Delegation bei uns durchgeführt. Wir wussten gar nicht, wer die sind“, sagt St. Werner. „Der eigentliche Kontakt lief dann über Justin Vernon. Der fand unsere Software geil, und über ihn hat sich das dann mit Aaron und Bryce verfestigt.“

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Auch hier ging es wieder um Austausch: Die vier Musiker besuchten sich gegenseitig in den Studios des jeweils anderen Duos und probierten miteinander herum. The National waren schon immer eine offene Band, die einen kollaborativen Ansatz verfolgt. Künstler wie Sharon Van Etten und Sufjan Stevens sind auf ihren Alben zu hören. Aber die Erlebnisse im Berliner „Funkhaus“ stehen für eine weitere Entwicklung im (ehemaligen) Indie-Rock: Wie in der elektronischen Musik wird mehr und mehr fragmentarisch gearbeitet. Die moderne Soft- und Hardware macht es möglich: Im Prinzip kann erst einmal jeder an Tönen, Geräuschen, Arrangement-Ideen mitarbeiten.

The National: Das kommende Album soll „richtig düster“ werden
Als sie das neue The-National-Album hören durften, dachten sie zuerst, dass sie es doch nicht aufs fertige Produkt geschafft haben, erzählt St. Werner: „Nach und nach haben wir dann Sachen von uns rausgehört: ,Das da ist ein Sound von mir, und Moment, das hier haben wir auch aufgenommen!‘ … und so weiter. Am Ende sind es eben doch fünf, sechs Stücke, auch die neue Single gehört dazu.“

Die Dessners hätten eben ein anderes Soundverständnis, meint Andi Toma. „Das ist das Gute daran“, sagt St. Werner, „dieses harte Musikindustrie-Copyright-Denken gibt es in dieser Form in der Szene nicht mehr. Da hält niemand dran fest, wie viel Prozent er dazugesteuert hat. Und wenn die Single ein Hit wird“, sagt er und lacht, „müssen die Anwälte da einfach noch einmal nachjustieren“.

Live können The National

Ein paar Stunden später hören die knapp 1000 Gäste in der „Basilica“ noch keinen offensichtlichen Hit heraus. Die Band spielt das komplette neue Album. Zu diesem Zeitpunkt dauert es noch sechs Wochen bis zu seiner Veröffentlichung. Bislang sind nur zwei Songs vorab erschienen. Berninger guckt immer wieder auf den Monitor zu seinen Füßen, auf die neuen Strophen, die er noch auswendig lernen muss.

Der Applaus ist nicht frenetisch, aber umso wärmer. Die Fans sind mitgewachsen mit der Band. Sie sind nicht mehr die jüngsten, aber text­sicher bei den Zugaben von den Vorgängeralben. Nach fast zwei Stunden heult Berninger noch einmal auf, ­„Terrible Love“ zum Finale, dann geht die Band von der Bühne und das Licht an.

Um kurz nach 23 Uhr strömen die Zuschauer aus der Halle. Im Backstagebereich ruft der Manager die geladenen Gäste zusammen: „Die Band freut sich, dass ihr alle hier seid und möchte noch ein bisschen mit euch feiern.“ In einer kleinen Scheune ist ein Buffet aufgebaut, Bier und Wein stehen bereit. Aber die Band selbst steht lieber draußen vor dem Gebäude, lacht, raucht, trinkt, und nimmt strahlend Glückwünsche entgegen. Auf das schwarze Nichts über ihnen hat jemand einen Hauch Puderzucker gestreut, der still über Hudson funkelt. Es müssen Tausende Sterne sein.

Die Stippvisite bei The National war unsere Titelgeschichte im September-Musikexpress 2017. Psst: Darin gibt es auch eine exklusive Live-EP von The National!

Kris Connor FilmMagic/ Getty