The Velvet Underground: Das kultivierte Chaos
New York 1965. Andy Warhol. William Burroughs. La Monte Young. Pop Art, Multi-Media, Experimental-Film. "The Naked Lunch", Junkies, Chelsea Hotel. Minimal-Musik, Sound-Exzesse, Performances. Wie nie zuvor brechen Musik, Malerei, Film, Literatur und Bildende Kunst aus ihren genormten Gettos heraus und bewegen sich aufeinander zu. In diesem chaotischen Koordinatensystem entsteht eine Gruppe, die von den meisten ihrer Zeitgenossen als schräge und verschroben abgetan wird. Heute, 20 Jahre später, kommen die musikalischen Extremisten zu ebenso unerwarteten wie späten Ehren: Fragt man junge Gruppen nach ihren Einflüssen, fällt kaum ein Name so häufig wie Velvet Underground. Harald InHülsen nahm die musikalische Zeitbombe unter die Lupe.
Lou Reed wird 1942 in Freeport (Long Island) als Sohn eines Steuerprüfers in wohlbehüteter Umgebung geboren und erzogen. Lou, der Gitarren und Rock’n’Roll über alles liebt, nimmt seine erste Platte mit 14 Jahren auf. als Mitglied der Highschool-Band The Shades: „So Blue“/“Leave Her For Me“. die beiden Songs, die auf dem „Time“-Label als Single erschienen, sind durchschnittliche Doo-Wop-Exkursionen – ideal für die Juke-Box an der Ecke.
Die Eltern jedoch haben andere Pläne mit ihrem Sohn: Sie wollen ihn zu einem Pianisten ausbilden, der sich der Klassik widmet, und nicht dem bösen Rock’n’Roll, den ihr Zögling da auf Singles sammelte. Als Lou sich mit 18 Jahren dann doch einer Rockband anschließt, schicken ihn die besorgten Eltern kurzerhand ms nächste Hospital, wo man versucht, ihn mit Elektroschocks ins normale Leben zurückzuholen. (Jahre später rächt er sich mit seinem emotional-engagierten Song „Kill Your Sons“.) 1960 beginnt Lou, der immer noch bei seinen Eltern wohnt, ein Studium der Schriftstellerei an der New Yorker Syracuse-Universität. Während sich bei ihm zu Hause Platten der Solitaires. Spaniels. Starlighters und Eldorados auf dem Teller drehen, besucht er Vorlesungen über T.S. Eliot, James Joyce, Rilke und Yeats.
Gehalten werden diese Vorlesungen von dem Poeten Delmore Schwanz, der für Reed zu einem geistigen Mentor wird. Er bewundert Schwartz so sehr, daß er ihm auf BLUE MASK (1982) ehrfürchtig einen Song widmet: „MY House“.
Nachdem Lou die Um verlassen hat. übernimmt er den Job eines Fließband-Songschreibers bei Pickwick Records. Diese New Yorker Plattenfirma hat sich in K-Tel-Art auf „quickies“ spezialisiert, d.h.. man vermarktet populäre Trends, von Hot Rod und Surf bis zum Mersey Beat. Reed: „Wir waren in einem Raum eingeschlossen und komponierten. Einer kam rein und sagte: „Schreib 10 California Songs, 10 Detroit Songs!“ Und dann gingen wir für zwei Stunden ins Studio und nahmen Material für drei oder vier Alben auf…“
Nachdem ein bekiffter Reed eine Kolumne über Straußenfedern (ostrich) liest, (die gerade in Mode kommen), beschließt er, einen neuen Tanz zu kreieren: „The Ostrich „, ein lustiges, kleines Stück mit einem typischen Beach Boys-Riff. Als sein Boß bei Pickwick dieses seltsame Werk hört, will er sofort eine Single auf den Markt werfen. Da es aber hinter dem Song keine Gruppe gibt, die „The Ostrich“ live spielen kann, begibt man sich auf die Suche nach Kandidaten.
AUFTRITT JOHN CALE: Cale wird 1940 in Wales/England geboren. Er wachst als Sohn eines Bergmanns in Swansea auf und studiert klassische Musik am Londoner Goldsmith College. Während im benachbarten Club die Rolling Stones ihren R&B gegen das Gemäuer pumpen, entdeckt Cale seine Vorliebe für elektronische Avantgarde (hier vor allem die US-Komponisten John Cage und La Monte Young).
1963 bekommt Cale ein Leonard Bernstein-Stipendium, das ihn nach Amerika bringt – an das Eastman Conservatonum in Massachusetts, wo er seinen ersten Auftritt hat: Cale führt ein Piano-Stück auf und zerschlägt dabei Tisch und Klavier mit einer Axt. Dieses Ereignis charakterisiert die Persönlichkeit eines ewig unruhigen Cale. der es bis heute nicht geschafft hat, sich so zu disziplinieren wie ein David Byrne.
Der manische Cale siedelt ins brodelnde New York über, wo er auf den Avantgarde-Komponisten La Monte Young trifft. Cale und Younq gründen mit elektrisch verstärkten Instrumenten – Stimme; Violine-Viola – die Formation The Dream Syndicate. (nach der sich später die gleichnamige Gruppe aus Los Angeles benennt). Das Dream Syndicate jedenfalls etabliert, lange bevor Brian Eno seine Ambient-(Raum)-Musik als Innovation verkündet, seltsame Soundexperimente, deren Zerr- und Dauertöne Velvet Underground nachhaltig prägen sollten .
Die Aufführungen des Dream Syndicate sind eine Art Amtsenthebung der Sinne: Cale spielt die Saiten seiner elektrisch verstärkten Viola mit gleichbleibender Intensitat, er halt manchmal einen einzigen Ton über zwei Stunden lang. 1964 erscheint in limitierter Auflage ein Album (mit Cale, La Monte Young und dem ersten Velvet-Underground-Schlagzeuger Angus MacLise), das einen Einblick gibt in diesen nervenaufreibenden Sound. Cale wohnt zu dieser Zeit in einem Haus an der Ludlow Street, in Manhattans Lower East Side. In diesem Haus leben diverse Künstler, die alle mit Andy Warhol, dem gerade aufgehenden Stern am Pophimmel, zu tun haben: der Schauspieler Mario Montez (er wirkt in zahlreichen Warhol-Filmen mit), der Schlagzeuger Angus MacLise: der Poet und Undergroundfilmer Piero Heliczer, schließlich der Allround-Künstler Tony Conrad.
Über einen Zimmernachbarn lernen Cale und Conrad einen Mitarbeiter aus dem Hause Pickwick kennen, die immer noch auf der Suche nach einer langhaarigen Beatgruppe sind, die Reeds „Ostrich“ unters Volk bringen soll. Da Cale und Conrad beide lange Haare tragen, besteigen sie zusammen mit Walter DeMaria (der schlagzeugspielende Künstler, der durch seine Löcher bekannt wurde, die er in den Wüstenboden bohrte) einen Kombiwagen, um mit Lou Reed unter dem Namen „The Primitives“ Supermärkte und Highschool-Feste zu bereisen. Doch obwohl man sich alle Mühe gibt. „The Ostrich‘ frisch und propper zu spielen, bleibt der kommerzielle Erfolg aus. Von den Primitives bleibt nur die entscheidende Bekanntschaft zwischen Reed und Cale.
Reed hatte bei Pickwick auch zwei Songs geschrieben, die man nicht veröffentlichen wollte: „Heroin“, ein Song über Jemanden, der mit der Droge sterben möchte, und „Im Waiting For The Man“, in dem es um das Warten auf Heroin geht. Reed spielt die Songs damals nur mit der akustischen Gitarre. Cale ist beeindruckt.
Sterling Morrison wird 1942 auf Long Island geboren Er spielt Gitarre und hört gern Bo Diddley, Chuck Berry. Rockabilly & Doo-Wah-Musik. Morrison studiert Literatur am New Yorker City College und besucht gelegentlich die Syracuse Universität, wo er zusammen mit Reed zu den Bewunderern von Delmore Schwartz gehört. Zu den Mitstudenten gehören auch Felix Cavalieri (Young Rascals), Mike Esposito (The Blues Magoos) und Garland Jeffreys.
Morrison und Reed spielen während ihrer Hochschulzeit gemeinsam in diversen Bands: das Repertoire besteht hauptsächlich aus Cover-Versionen alter Ike & Tina Turner-Nummern: die Bands tragen so schillernde Namen wie Moses And His Brothers, Pasha And The Prophets und L.A. (was für Lou Allen steht, einem Pseudonym, das sich Reed gibt).
Lou hat während seiner Pickwick-Zeit Sterling aus den Augen verloren, trifft ihn aber schließlich in der U-Bahn wieder und erzählt ihm von Cale. Cale, Reed, MacLise und Morrison beginnen mit ihren Soundübungen 1964′ 65: die Gruppe begleitet Filmvorführungen von Heliczer und Kenneth Anger: sie wird zum Bestandteil einer Mixed-Media-Show, die in der New Yorker Filmmaker’s Cinematheque über die Bühne geht: Während auf der Bühne eine Filmleinwand hängt, sind zwischen Leinwand und Publikum Schleier aufgespannt, die von Diaprojektoren beleuchtet werden. Heliczers Filme werden durch die Schleier auf die Leinwand projiziert, hinter der Reed, Cale, MacLise und Morrison seltsame Töne spielen. Im Juli ’65 nimmt die Gruppe ein Band auf mit den Reed-Kompositionen „Heroin“. „Venus In Furs“. „Wrap Your Troubles In Dreams“ und „The Black Angel’s Death Song“ (nur bei der letzten ist Cale beteiligt).
Cale: „Mit Velvet Underground haben wir eine Gruppe entworfen, die sich auf Gitarre. Baß. Schlagzeug und meine elektrische Viola konzentrierte. Die Idee war. Lous lyrische Fähigkeiten mit meinen musikalischen Ideen zu verbinden um dann Auftritte zu machen, bei denen wir uns nicht nur selbst wiederholten. „
FÜR IHREN ERSTEN AUFtritt als The Velvet Underground muß zunächst einmal ein neuer Schlagzeuger gefunden werden, da
MacLise die Gruppe verlassen hat (er stirbt 1979 in Kathmandu an Unterernährung). Sterling Morrison erinnert sich an seinen Studienfreund Jim Tucker und dessen Schwester Maureen. die gerne auf Telefonbüchern trommelt. Maureen, ein zierliches Mädchen mit Bubengesicht. arbeitet tagsüber als Computerlocherin und hört nach Feierabend Bo Diddley.
Der erste Auftritt mit Moe Tucker findet im November 65 in der Summit High School (New Jersey) statt, für 75 Dollar Gage. Der Auftritt besteht aus den drei Stücken „Heroin“, „Venus In Furs“ und „There She Goes Again“; die kleine Moe spielt ihr Schlagzeug im Stehen!
Etwa zur selben Zeit ist ein gewisser Andy Warhol gerade dabei, eine eigene Rock’n’Roll-Gruppe zusam menzustellen – mit den Popkünstlern Claes Oldenburg. Patti Oldenburg, Jasper Johns. Walter DeMaria, und La Monte Young. Kaum zu glauben, aber wahr: Andy Warhol selbst ist der Sänger! Aus einem banalen Grund zerfällt das Projekt aber schnell, und der junge, fingernägelkauende Warhol, geistiger Mentor der POP-Kunst. taucht abends in einem Cafe auf, wo die Velvets gerade spielen. Warhol:
„Uns gefiel die Idee, daß da ein Mädchen am Schlagzeug saß. Cale. dieser elektrische Viola-Spieler aus Wales, sah wie ein Pfarrer aus weißes Hemd, schwarze Hose. Kieselschmuck und lange, schwarze, strähnige Haare. Und Lou sah gut aus. er hatte was Pubertäres an sich“. Warhol bietet den Velvets, die ohne Domizil sind, an, in seinem Atelier, der Factory, zu proben. Außerdem kauft er ihnen Verstärker.
Auftritt Christa Päffgen. Ein genaues Geburtsdatum der Kölnerin, die den Künstlernamen Nico trägt, gibt es nicht: heute geht sie jedenfalls auf die 50 zu. Der Warhol-Vertraute Gerard Malanga hatte sie ’66 in London kennengelernt und ihr Warhols Factory-Adresse in New York gegeben.
Laut Warhol taucht Nico tatsächlich eines Tages auf. mit einer Demo-Single in der Handtasche, die ein gewisser Bob Dylan für sie geschrieben hat (Dylan selbst begleitet dabei Nico auf dem Piano). Das Stück heißt „I’ll Keep It With Mine“: Nico nahm es später für ihr erstes Solo-Album CHELSEA GIRL auf. In London hatte Nico zuvor „Im Not Sayin’/“The Lasts Mile“ (1965) eingespielt, produziert von Jimmy Page (auf der B-Seite sang Rolling Stone Brian Jones mit: Nico war mit ihm befreundet). Sie hatte ein Kind mit dem Schauspieler Alain Delon. war Fotomodell und spielte an der Seite von Marcello Mastroianni und Anita Ekberg eine Prostituierte, in Fellinis „La Dolce Vita“ Film (1959).
Also: Nico ist nun in New York und begeistert mit ihrer teutonischen Erscheinung (blondes Haar & blaue Augen) und ihrer tiefen Stimme (sie wurde als“.IBM Computer mit Garbo-Akzent“ charakterisiert). Nico bekommt einen Job als Sängerin im Nachtclub „Blue Angel“ und hängt ansonsten in der Factory herum, wo die Velvets ihre Proben absolvieren. Warhol über sein Interesse an der Band: „Die Idee der Pop-Kunst war, daß jedermann alles tun kann. Niemand sollte sich auf eine Kategorie beschränken; wir wollten uns ausdehnen in jede nur mögliche kreative Sphäre – und darum haben wir Velvet Underground getroffen, denn wir wollten uns auch mit der Musikszene beschäftigen. „
Warhol überredet Lou, ein paar Stücke für Nico zu schreiben. Lou schreibt daraufhin „Femme Fatale“ und „All Tomorrow ’s Parties“: Wahrhol überredet Cale und Reed, den Gruppennamen zu erweitern auf The Velvet Underground And Nico. Andy Warhol und die Rockband The Velvet Underground And Nico ergänzen sich gegenseitig, obwohl Paul Morrissey. der Filmer, nüchterner urteilt: „Nun, ich hatte die Idee, daß Andy nicht nur mit seinen Filmen Geld verdienen kann, sondern auch dann, wenn er die Filme mit Rock´n´Roll in Verbindung bringt. Das Entdecken der Velvets, sie in die Factory zu holen und mit ihnen zu arbeiten, das alles geschah aus purem kommerziellen Interesse.“
Die Velvets werden zum festen Bestandteil einer Multi-Media-Show, die Andy Warhol nun in der Cinematheque veranstaltet, unter den Titeln „Andy Warhol UP-TIGHT“ und „Exploding Plastic Inevitable.“
Die EPI-Show ist ein visuelles Freak-Out: Filme laufen: Lichtspiele flickern (die Scheinwerfer kann jeder frei bedienen): Gerard Malanga – bleich, in Silber und schwarzes Leder gehüllt – führt mit seiner Peitsche magische Tänze auf: John Cale und Gerard lesen die Texte der Velvet-Songs vor: Warhol experimentiert mit Gelantine. die er über die Linsen der Dia-Projektoren laufen läßt. Ansonsten läuft Warhol ständig mit der Aufforderung herum:
„Laßt uns noch einen Schritt weiter gehen, noch extremer werden!“
Wenn dann Malanga seiner Partnerin die Peitsche gibt, ruft der schmächtige Pop-Künstler entzückt: „Es ist alles so schön!“ Jede Show wird mit dem „Nothing Song“ beendet – einer 15-minütigen Feedback-Orgie, die aus den Verstärkern dringt. John Cale: „Wir bringen alle zusammen – Licht und Film und Musik und wir entkleiden alles bis auf seinen tiefsten, gemeinsamen Nenner. Wir sind die Primitiven der Musik.“
Nachdem die EPI-Show in eine andere Halle umgezogen ist, häufen sich bei den Proben der Velvets in der Factory-Etage die Spannungen zwischen Band und Gastsängerin Nico. Warhol, der die Gruppe immer mit Selbstvertrauen versorgt, will Nico unbedingt bei Velvet Underground dabeihaben. Nico aber entspricht mit ihrer schrillen Stimme nicht den Vorstellungen der anderen Gruppenmitglieder.
Die Band geht 1966 in Los Angeles ins Studio, um das erste Album aufzunehmen. Warhol hatte Lou Reed gebeten, einige Songs für Nico zu schreiben. Die Spannungen im Studio wachsen, weil Nico nun alle Velvet-Songs singen will. Auch zwischen Reed und Cale tauchen Probleme auf. wenn es um die Führerrolle innerhalb der Band geht. Warhol, der als Produzent auftritt, beschränkt sich darauf, die Velvets aui Platte so klingen zu lassen, wie er sie live in der Factory erlebt hat: rauh und bloß nicht professionell.
John Cale erzählt eine andere Version über die Produzentenrolle des Andy Warhol: „Andy, der als prominenter Producer auf der Platte angegeben ist, hat überhaupt nichts gemacht. „Venus In Furs“, „All Tomorrow’s Parties“, „Sunday Morning“, „Heroin“ und „I’m Waiting For The Man“ wurden von Tom Wilson produziert. Die restlichen Stücke hat ein Geschäftsmann erledigt, der uns 1.500 Dollar in die Hand druckte, um das Ding aufzunehmen.“
Die Gruppe geht schließlich mit den fertigen Bändern zu den Plattenfirmen: Atlantic sagt: „Bitte keine Drogensongs!“: Elektra sagt „Bitte keine Violinen!“: und Tom Wilson, ein Nico-Freund, der bei Columbia arbeitet und Dylans SUBTERRANEAN HOMESICK BLUES produziert hat. sagt: „Wartet, bis ich zu MGM übergewechselt bin, dann bekommt ihr alles, was ihr wollt „
MGM nimmt dann auch die Gruppe unter Vertrag, zur selben Zeit wie die Mothers Of Invention. Während die Velvets darauf warten, daß die Platte endlich erscheint, hören sie auf. mit ihrer Show aufzutreten. Doch die Platte läßt auf sich warten; es verschwinden plötzlich einige Bänder – und man munkelt, daß Zappas Manager seine Hand im Spiel hat. weil FREAK OUT (von den Mothers Of Invention) zuerst, vor der Velvet-LP. auf dem neugegründeten Verve-Label herauskommen soll. Was dann auch geschieht.
In diesen Tagen bekommt Nico das Angebot, im DOM-Tanzpalast zu singen – allein Nico willigt ein. doch weder Lou noch Sterling Morrison wollen sie mit ihrer Gitarre begleiten. Und so muß die arme Nico auf einem Barhocker sitzen, den Knopf eines Cassettenrecorders drücken und zu einem laufenden Band singen. Nach einer Woche hatte sie die Schnauze voll, und so heuert Morissey einen damals noch unbekannten Tim Buckley an. der sie nun mit seiner Gitarre begleitet.
Eines Abends sitzt ein Junge im Publikum, der extra von der Westküste herübergekommen ist. um seinen Helden Buckley spielen zu hören. Der Junge heißt Jackson Browne und darf nun an die Stelle Buckleys treten (Buckley war nur für eine Woche engagiert worden). Später bezieht Browne mit Nico eine gemeinsame Wohnung und begleitet sie auf ihrem ersten Soloalbum.
Im März 1967 kommt endlich das erste Velvet-Album heraus; THE VELVET UNDERGROUND AND NICO, produced by Andy Warhol. Doch Nico ist schon längst nicht mehr dabei: „Velvet Underground war eine Familie, und ich habe diese Familie besucht. Irgendwann ist Lou sehr eifersüchtig geworden, weil ich für Cales Talent mehr Achtung zeigte, als für sems.“
Die LP war mit wenigen Instrumenten aufgenommen worden, aber mit maximalem Effekt. Das Cover zeigt eine Banane und ist ein typisches Produkt der Kunst-Naivität des Andy Warhol. Warhol war berühmt für seine Cola-Flaschenund Konservenbüchsen-Bilder warum also keine Banane? Beim Original-Cover ließ sich die Banane auch schälen – eine Idee, die Warhol später wieder aufgriff, als er die Hülle zu STICKY FINGERS der Rolling Stones mit einem aufziehbaren Reißverschluß versah.
LANGSAM LÖSEN SICHDIEFÄden zwischen Velvet Underground und Andy Warhol. Warhoi stürzt sich, ermutigt durch den Erfolg von CHELSEA GIRL, ganz ms Filmgeschäft, während die Velvets nur noch Velvet Underground, eine Rock’n’Roll Gruppe sein wollen und keine Kunst-Band mehr. Auf seinem Live-Album TAKE NO PRISONERS (1978) kann man Lou sagen hören: „Andy has taken himself away from us.“
Während Warhol also Filme dreht, erreicht die Velvets aus London eine Nachricht: Der italienische Filmregisseur Antonioni will Velvet Underground für eine Sequenz in“.Blow up“ haben: er kann es sich aber nicht leisten, die ganze Gruppe nach England einfliegen zu lassen. Schließlich übernehmen die Yardbirds den Part im Film.
1967. Der Sommer ist heiß, die Blumenkinder sind überall, Nico besucht mit Brian Jones das Monterey Pop Festival. Dies ist der“.summer of love“, doch in einem New Yorker Studio schließen vier bleiche Gestalten ihre Instrumente an. um die Welt draußen zu beliefern, WHITE LIGHT WHITE HEAT, die schwarze Bibel des Elektrischen Rock, entsteht. Der Titel dieses zweiten Albums bezieht sich auf das Gefühl eines Amphetamine-Rauschs. Cale: „Beim zweiten Album fühlt man sich, als wäre man an seinen Fingernägeln aufgehängt.“ Und Reed, der die Droge nimmt, schreibt die Zeilen: „Ich fand meine Augäpfel auf meinen Knieen wieder.“
Im Studio sind die persönlichen Spannungen zwischen Cale und Reed an ihrem Siedepunkt angelangt, was sich lür den Hörer des Albums unschwer nachvollziehen läßt: WHITE LIGHT/WHITE HEAT wird in drei Tagen eingespielt: während Cale seine elektrische Viola zum ohrenbetäubenden Feedback bringt, tut Reed dasselbe mit seiner Gitarre.
Das Schlüsselstück von WHITE LIGHT / WHITE HEAT heißt „Sister Ray“: Lou hat den Text auf einer Bahnfahrt geschrieben, als die Band von einem Auftritt in Connecticut zurückkehrt. „Sister Ray“ wird in einem Take eingespielt, wobei die Velvets eine Spannung aufrechterhalten zwischen der formalen Struktur des Songs und ihren Ausbrüchen in den rohen Krach. Die Band ist in Höchstform. Cale treibt und akzentuiert mit seiner dröhnenden Orgel – und Reed versucht sich derweil mit seiner Gitarre in der Ornette-Coleman-Rolle: frei spielen, aber diszipliniert.
WHITE LIGHT/WHITE HEAT produziert von Tom Wilson, erscheint im Januar 1968. Der Heavy Metal-Trip. den die Velvets auf diesem Album unternehmen, beeinflußt die Rockmusik der 70er Jahre entscheidend. Nach diesem emotionalen Schlagaustausch – Reed gegen Cale – ist klar, daß nichts mehr geht. Lou Reed beschließt, daß John Cale nicht mehr zur Band gehört. Morrison: „John und ich waren eigentlich zufrieden mit diesem Sister Ray-Sound. Lou legte viel Wert auf die Texte, während Cale und ich mehr daran interessiert waren, das Haus mit großem Getöse wegzublasen.“ John Cale hat seinen letzten Auftritt mit Velvet Underground im September 1967 Cale hatte mit seinem Sound-Verständnis das unruhige Bild der Velvets geprägt – denn die Band ist nach Johns Weggang nicht mehr dieselbe: die wilden Ecken und Kanten sind weg. Velvet Underground werden zu einer braven Beatformation: ihre Musik wird zugänglich für jeden.
Für Cale kommt nun Doug Yule, ein Gitarrist und Bassist aus Boston: Yule ist natürlich kein Ersatz für den genialen Cale. er ist ein guter Handwerker, ohne Charisma – und genau das will Reed auch haben. Lou steht nun immer mehr im Vordergrund, er kann sich ungestört seinen lyrischen Fähigkeiten widmen; Velvet Underground, das ist seine Band.
Das dritte Album THE VELVET UNDERGROUND wird im März 1969 veröffentlicht. Yule, dessen Stimme sich kaum von Reeds unterscheiden läßt, übernimmt teilweise den Gesang im Studio, weil Reed seine Stimme für die Konzerte schonen muß. Stimmung und Sound der neuen Songs gehen mehr in eine“.folkige“ Richtung: unter den Schatten der Vergangenheit heraus strahlen diese Songs den romantischen Wunsch Reeds nach transzendalen Erfahrungen aus. Es gibt schöne Melodien und intime Texte (z.B. bei „Pale Blue Eyes“). „Die Platten waren Briefe. Authentische Briete von mir an gewisse Leute“.
schreibt Reed später.
Während die ersten beiden Alben auf dem MGM-Unter-Label Verve erscheinen, kommt das dritte bei der Mutterfirma heraus. Trotzdem fühlen sich die Velvets hier nicht wohl, da man die nötige Unterstützung immer noch vermißt. MGM bezahlt jedoch nochmals die Studiozeit für ein weiteres, viertes Album. Reed. Morrison, Yule und Tukker spielen das legendäre „verlorene“ Album ein.
Unter den minimal instrumentierten Stücken befinden sich „Lonesome Cowboys“ (für Warhols gleichnamigen Film geschrieben), „Sad Song“ (eine traurige Ballade, die auf Lou Reeds BERLIN zu finden ist), und der lustige Kinderreim „Im Stikking With You“, bei dem Lou und Moe ein Duett anstimmen.
Da die Band aus ihrem Vertrag mit MGM heraus will, liefert sie ein Studioband ab. auf dem die Songs in einer rohen Fassung sind. Man hofft, daß es nicht veröffentlicht wird. MGM legt das Material auf Eis (Teile davon erscheinen 1985 auf VU). Die Velvets sind frei und unterschreiben (1970) bei Atlantic.
UNAUFHALTSAMER ZERFALL
1970 treten Velvet Underground zehn Wochen lang im New Yorker Kunstler-Restaurant Max ’s Kansas City auf. Für die schwangere Moe Tucker spielt nun Doug Yules Bruder Billy. Am 23. August besucht die Warhol-Bekannte Bngid Polk einen dieser Auftritte: da Bngid die Angewohnheit besitzt, alles auf Cassettenrecorder mitzuschneiden, wird auch dieses Konzert von ihr dokumentiert. Zwei Jahre später veröffentlicht Atlantic diesen Live-Mitschnitt – der erste Bootleg, den je eine Plattenfirma akzeptierte.
Lou Reed. bekannt dafür, lange, improvisierte Monologe auf der Bühne zum besten zu geben, leitet das Konzert schelmisch ein: „Guten Abend. Man nennt uns The Velvet Underground. Es ist erlaubt, zu tanzen – falls ihr das noch nicht wißt. Dies Stück heißt „I´m Waiting For The Man“ ein lieblicher Folksong aus den frühen 6Oern über die Liebe zwischen einem Mann und einer Subway. Ich bin sicher, ihr werdet es alle mögen.“ Und die Band spielt eine Rockabilly-Version von „Im Waiting For The Man“.
Debbie Harry arbeitet übrigens zu dieser Zeit als Kellnerin bei Max s. und der ex-Junkie und Rock-Poet Jim Carroll erinnert sich: „Ich habe mir jede Show der Velvets angesehen, zwei Shows pro Abend. Und ich habe für Brigid Polk das Mikrofon gehalten. Auf dem Album kann man hören, wie ich doppelte Pernods bestelle. „
Zwischen den Auftritten gehen die Velvets ins Studio, um die Grundtracks für ein neues Album aufzunehmen, ohne Moe Tucker. die sich ihrem frischgeborenen Kind widmen muß. Eines Abends passiert es: Lou kommt nicht mehr ins Max s zurück, auch nicht ins Studio. Er hat die Band verlassen. Lou. der Geldprobleme hat und nicht wieder auf Tournee gehen will (weil er dabei nicht komponieren kann), zieht zurück ins Haus seiner Eltern.
Als im September 1970 LOADED. das fünfte Album, erscheint, sind weder Tucker noch Reed in der Gruppe. Reed hat zwar die Songs geschrieben und zusammen mit Morrison an den Aufnahmen teilgenommen – beim Abmischen aber ist nur Doug Yule dabei.
LOADED wird von den Kritikern als das beste Album der Velvets gefeiert, ist aber, was Komposition und Sound betrifft, eher durchschnittlich. Hinzu kommt noch, daß „Sweet Jane“ und „New Age“. zwei der schönsten Songs, die Lou je geschrieben hat. von der Plattenfirma verstückelt wurden. Die unredigierten Versionen kann man auf dem großartigen Doppelalbum 1969 VELVET UNDERGROUND LIVE hören, das 1974 erscheint.
Nach Reeds Weggang macht Morrison für kurze Zeit noch weiter mit Yule. Tucker und dem Bassisten Walter Powers. Als Morrison 1971 die Band verläßt, rekrutiert Yule Willie „Loco“ Alexander für die Keyboards. Doug, Walter. Willie und Moe spielen einige Live-Gigs in Amerika und England – doch wie Doug Yule mit seiner passionierten Mittelmäßigkeit die genialen Reed-Klassiker auf der Bühne zu trivialen Rockliedern degradiert – das muß schon grausam gewesen sein. Jedenfalls merken das die Anderen und lassen Yule im Verlauf der England-Tour allein zurück. Yule behält den Gruppennamen bei und nimmt in London das Rock’n’Roll Album SQUEEZE (1972) auf…
WAS AUS IHNEN WURDE: Andy Warhol hat sich sein Toupet grau färben lassen und sieht ansonsten 1985 so aus, wie er 1965 ausgesehen hat. Er masturbiert nach eigener Aussage zu Videos von Duran Duran und hat den Kölner Dom als Siebdruck in Serie gegeben.
John Cale produzierte nach seinem Rausschmiß bei den Velvets Platten der Stooges, Modern Lovers, von Patti Smith und Nico. Seine eigenen Werke sind genial: Cales Platten sprechen für sich.
Sterling Morrison lebt heute in Austin/Texas und unterrichtet englische Literatur an der dortigen Universität.
Lou Reed ist das geworden, was er immer werden wollte: ein Rock n‘ Roller, der seine Gitarre über alles liebt. Er schreibt heute schöne Liebeslieder für seine Frau Sylvia.
Doug Yule ist das geworden, was er immer war: ein solider Studiomusiker.
Und Maureen Tucker? Warhol hat einmal über sie gesagt: „Moe habe ich nie verstanden. Sie war sehr unschuldig und niedlich und scheu also was hatte sie da eigentlich bei den Velvets zu suchen?“ Moe Tucker lebt heute mit Ehemann und fünf Kindern in Tucson/Arizona.
Nico hat mit MARBLE INDEX (1968) einen Meilenstein der Musikgeschichte gemacht (John Cale produzierte, arrangierte und instrumentierte dieses sinfonische Album). Und sie hat bis heute nicht aufgehört, mit ihrem Harmonium durch die Lande zu ziehen und alte Lou Reed-Nummern düster zu interpretieren.