Tiger im Glass
Mit „Don’t Forget Me When I’m Gone“ schlich sich ein kanadisches Quintett zielstrebig in bundesdeutsche Chartwipfel: Der Hitsong von GLASS TIGER ist zwar nicht der popmusikalischen Weisheit letzter Schluß, aber schön anzuhören und ein weiteres Indiz dafür, daß Kanada langsam eigenständige Stilformen entwickelt. „Es hat“, bestätigt Michael Hanson, Taktgeber und Vordenker bei Glass Tiger, „etwas länger gedauert, bis sich das Stigma von den rockenden Muskelprotzen verflüchtigte, bis man bei uns Originalität und Eigenständigkeit zu schätzen wußte. Bislang waren es halt meist Hardrock-Kapellen wie April Wine, die nach Europa exportiert wurden und dort das Klischee vom schwitzenden Lumberjack-Mucker kreierten.“
In diese Schublade wollen Glass Tiger auf gar keinen Fall. „Sieh uns an“, fragt der schottischstämmige Sänger Alan Frew mit Glasgow-Zungenschlag, „sehen wir nach deftigem Meat & Potato-Rock aus?“
Nee. Haarschnitt, Habitus und Garderobe, vor allem aber die Musikmischung — ein Dreiecksverhältnis aus Popmelodik, Rock-Solidität und Computer-Moderne — sind Modell Europa. Und der Titelsong des Debüt-Albums THE THIN RED LINE, ebenso wie das von Norman Maller inspirierte „Ancient Evenings“, spielen sogar in der alten Welt.
Die Gegensätze zwischen Herkunft und Einfluß sind an dem Fünfer aus Toronto natürlich nicht reibungslos vorübergegangen: Bläser-Formationen contra Spieldosen-Melodien, kalkuliert schmutzige Gitarren gegen saubere Profession, Glass gegen Tiger.