Tool: Groß und mächtig, schicksalsträchtig
Alle fünf Jahre beglücken Tool ihre Fans mit neuem Material. Es ist gerade wieder soweit. Einige Worte darüber, worin die Faszination dieser Band liegt und warum man vor Alternative Metal keine Angst haben muß.
1993 – Grunge befindet sich auf seinem Höhepunkt, geistert ein Song durch die Clubs, der in seinem schleppendem Tempo und mit seinem flehentlichen Gesang hängenbleibt, gerade ob der Unbehaglichkeit, die er abstrahlt: „Why can’t we not be sober? I just want to start this over. ..“ Ein kryptischer Text und ein extrem irritierendes animiertes Video (ein kleines Bündel von Mensch irrt durch einen Keller; auch ein „Fleischleitungsrohr“ spielt eine Rolle) tun ihr übriges, um die Aufmerksamkeit von Metal- wie Indie-Fans mit Hang zum Abgründigen gleichermaßen auf diese seltsame Truppe zu lenken. „Sober“ wird zum Hit und das Debüt von Tool, UNDERTOW, vor allem in den USA zu einem Überraschungserfolg. Doch bald schon ist diese Gruppe verschwunden wie sie gekom men war und die Menge tobt weiter zu Rage Against The Machine, als wenn nichts gewesen wäre.
Erst 1996 zeigt sich, daß sich hinter Tool viel mehr verbirgt, als ihr raues Frühwerk vermuten ließ. Es ist die Postgrunge-Ära, in der Gitarrenrockwelt herrscht Katzenjammer. Kurt Cobain: tot, Soundgarden stehen vor ihrer Auflösung, Helmet verlieren den Anschluß, Metallica spielen Rockballaden fürs Radio. Und „Prog Metal“ ist sowieso das Allerallerletzte – zumindest unter vom Zeitgeist wenigstens gestreiften Menschen. Da erscheint AENIMA- ein Album, das so tut, als ginge es das alles nichts an. Vollgestopft mit unglaublich intensiven und bedeutungsschwangeren Songs, die meisten länger als sechs Minuten. Das Album zwingt einen zum bedingungslosen Zuhören. Oder zum Abschalten. Wen er nicht gleich wieder ausspuckt, den saugt schon der Opener „Stinkfist“ auf und fasziniert mit der Art, wie sich Sänger Maynard James Keenan mit seiner „guten“ und „bösen“ Stimme selber ausspielt.
Andere Songs bauen sich über Ewigkeiten ganz allmählich auf, ein Luxus, wie man ihn seit den Art-Rock-Tager) der 70er nicht mehr gehört hat. Dann aber auch immer wieder knüppelharte Parts, in denen Tool auf höchstem technischen Niveau mit gnadenloser Präzision und Power über einen hinwegrollen. Die Texte sind nicht abgedruckt, dafür kursieren diverse Versionen im Internet – allen ist gemein: Sie sorgen für Verwirrung. Erst später veröffentlicht die Band die originalen Zeilen, und spätestens jetzt ist klar: Diesen Keenan verfolgen arg abgründige Gedanken.
Überhaupt: Was sind das für Typen? Sehr schwer zu sagen. Von Anfang an spielen Tool mit Presse und Fans Katz und Maus. Da wird zum Beispiel das Gerücht gestreut, sie seien Anhänger einer geheimnisvollen Religion namens Lachrymology – der Lehre des Weinens. Völliger Humbug, geglaubt haben es trotzdem einige. Wahrscheinlich deshalb, weil Tool wirken wie die ernsteste und untionischste Band des Universums. Gelacht wird da nicht mal im Keller.
Aber auch das ist Humbug. Das stellt sich spätestens heraus, wenn man erst einmal einen der vier persönlich kennenlernen darf. Mit der Musik selbst ist es ihnen allerdings tatsächlich unendlich ernst. Angelehnt an ihren Übervätern King Crimson steht ihr Gerüst auf dem Powerdrumming von Danny Carey, einem tiefenentspannten Zweimeter-Schrank, der gleichermaßen bei Zappa wie Slayer eine gute Figur abgegeben hätte. Sein rhythmischer Partner ist Bassist Justin Chancellor, ein zurückhaltender Mann, erst 1995 dazugestoßen, Meister des kernig-runden Riffs, auf dem viele Tool-Songs aufbauen. Gitarrist Adam Jones sorgt für den Metal, ohne ein Metal-Gitarrist zu sein. Seinem druckvollen wie sensiblen Spiel merkt man die endlosen Sessions an, in denen Tool ihr Material erarbeiten. Er ist auch der verantwortliche Arrangeur, wenn aus unzähligen Einzelteilen ein neuer Zehnminüter gebaut werden muß.
Schließlich Keenan, Charisma-Bombe, most intensive voice, ewiges Rätsel. Vor seiner Musiker-Karriere war er drei Jahre bei der Army – er wollte es einfach wissen. Fähig, die kitschigsten Schnulzen zu intonieren (vor allem mit seiner Zweitband A Perfect Circle), um sich danach die Seele aus dem Leib zu schreien. Auf der Bühne ist er oft fast nackt und bemalt, hielt sich aber auf der letzten Tour betont im Hintergrund. Begründung: Es gebe keinen Frontmann bei Tool, auch er sei nur ein Instrument.
Keenans Lyrics entstehen immer als letztes, als Interpretation der Musik in seinen Worten. Eindeutig, und das ist ein Grundsatz bei Tool, wird er dabei nie. Nicht umsonst tummeln sich Heerscharen von Analysten im Netz. Es gibt Haßsongs gegen Personen oder Gruppen, deren Identität man nur erahnen kann. Manche Texte lesen sich wie Auseinandersetzungen mit seinem Psychoanalytiker, alptraumhafte Zustände á la David Lynch. Vor allem auf dem vorletzten Album LATERALUS (2001) geht es viel um die Suche nach metaphysischer Erleuchtung und Erlösung. Schwer verdauliche Kost das alles. Beschäftigen wollen Tool ihre Zuhörer, ermutigen, die vierte, fünfte, x-te Dimension zu öffnen. Und das scheinbar offensichtliche hinterfragen. So erklären sich Experimente wie „Die Eier von Satan“ auf AENIMA: Was für des Deutschen Unkundigen klingt wie eine Nazi-Hetzrede, ist doch bloß ein Rezept für Haschkekse.
Live sind Tool eine Sensation. Sie können Walls of Sound errichten und ihr Publikum dagegen drücken, bis jeder einzelne vor der Bühne kurz vor dem Zerspringen steht. Keenan sagt nicht viel zwischen den Songs und mittlerweile hat man sich daran gewöhnt. „How do you feel?“ rief ein Fan 1997 noch flehentlich aus der Menge. Vermutlich würden sie lieber sterben, als an „Meet &. Greet’s“ teilzunehmen. Da gibt’s nix zum Anfassen. Zu Fotoshoorings muß man sie prügeln, und man weiß nie, ob nicht nach zwei Minuten abgebrochen wird. Auch die Modalitäten der Pressearbeit, die im Vorfeld der Veröffentlichung von 10.000 DAYS, ihrem neuen Album, zu leisten ist, liegen irgendwo zwischen suboptimal und „so geht’s aber gar nicht“. Einmal CD durchhören, am nächsten Tag Interviews. Kein Cover, kein Album- oder Songtitel werden bekannt. Aber eben auch: keine Chance den Filesharern, die Vorfreude zu trüben. Tool stellen klar, daß das allein ihre Party ist.
Ja, von wegen Party: „Der Songwriting-Prozeß hat ungefähr ein Jahr gedauert, dann waren wir ein halbes Jahr im Studio“, erzählt Danny Carey. „Am Anfang stehen monatelange Sessions im Proberaum. Einer kommt mit einem Riff an, wir jammen, freaken aus. Alles wird aufgenommen. Irgendwann hören wir uns das alles an und picken uns die Rosinen raus. Dann gilt es, die Parts zu kombinieren, man muß Brücken und Übergänge schreiben.“ Hier ist zweifelsohne von Technik die Rede. Kommt dieser Rock also doch vom Reißbrett?! Aber da ist doch auch Magie. Mit der geht das, diese Band, ihre Musik, definitiv einher. Und Magie kommt nicht vom Reißbrett.
„Die Musik ist da draußen, wir holen sie uns nur“, hat Keenan einmal die Rolle von Tool als Medium beschrieben und damit vermeintlich das Gegenteil von dem behauptet, was Carey über die Arbeit im Proberaum und Studio berichtet. Die Wahrheit liegt in der Mitte, nein, besser: über all dem. Denn die Fähigkeiten von Tool sind längst auf einem Level angelangt, auf dem sie im richtigen Moment alle Regeln vergessen können. Du bist die Macht, und die Macht ist mit dir. „Drunk With Power“ steht auf einem Keenan-T-Shirt.
Tool – sie sind Schamanen des Rock. Irgendwo auf 10.000 DAYS erklingt zwischen all den 7/8-Rhythmen und Soundgebirgen dann auch ein indianischer Gesang und der wirft einen um in all seiner Mystik und Schönheit. „Es gibt da einen Typen namens Tom Brown“, erzählt Danny, „der sich stark mit der indianischen Lebensweise auseinandersetzt. Er lebt mit ihnen irgendwo in der Prairie. Sein Lehrer hat ihn diesen Gesang der Apachen gelehrt. Es ist ein Anruf an die Geister. Sie erbitten ihre Hilfe.“ Diese Band und ihre Musik kommunizieren in einer anderen Liga.
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