Veni Vidi VIVA
Er kam, sah - und sendete erstmal nicht: Monatelanger Hickhack um die Besitzverhältnisse verzögerten den Sendebeginn des neuen deutschen Musik-Fernsehsenders VIVA-TV. Seit Anfang Dezember flimmert das neue Logo auf dem Bildschirm — vorerst allerdings nur auf Eutelsat und in gut der Hälfte aller verkabelten Anschlüsse. ME/Sounds besuchte die VIVA-Macher in ihrem kreativen Chaos: Wer steckt hinter VIVA, was taugt das Programm und was macht Platzhirsch MTV gegen die neue Konkurrenz?
Chaotische Menschen würden das nicht ertragen: Als die Tür zum siebzehnten Mal ohne Vorwarnung aufgerissen wird, hebt er ganz langsam die müden Augen. Lugt mit Märtyrerblick hinter dem grau-blonden, langen Haar hervor, als wollte er sagen: „Guten Morgen, mein Name ist Dieter Gorny, ich bin seit einer Woche Geschäftsführer des Fernsehsenders ‚VIVA TV‘ und habe natürlich gerade nichts zu tun – kann ich Ihnen helfen?“ Aber weil Dieter Gorny ein friedlicher Mensch ist, sagt er erst einmal nichts, und der Trupp Handwerker sagt auch nichts, marschiert wortlos ins Büro und beginnt mit Installationsarbeiten an der Heizung. Erst Gornys sanfter Hinweis, es sei vielleicht schlecht zu sehen, aber er gebe gerade ein Interview, und außerdem müsse er gleich auf den Flieger nach Berlin, läßt die Manner achselzuckend wieder verschwinden. Der letzte knallt die Tür ins Schloß.
Dieter Gorny hatte gerade vom kreativen Chaos erzählt. Davon, daß es ihm ungeheuer wichtig gewesen sei, am 1. Dezember nicht schon mit einem fertigen Programm auf Sendung gegangen zu sein. Daß VIVA erst wachsen müsse. Und überhaupt: Daß niemand genau wisse, was die Zuschauer eigentlich von einem deutschen Pop-Kanal erwarten, was sie sehen wollen – und was nicht. „Wenn wir am 1. Dezember die Türen aufgemacht hätten, und dahinter hätte ein bis auf den letzten Platz besetztes Team mit einem bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Sende-Konzept gewartet, wäre das ein Kardinalfehler gewesen“,
meint Gorny und redet sich das „kreative Chaos“ schön. Es sei ihm wichtig, daß man sich nicht eingeschlossen habe, daß jeder („die Szene“, wie es Gorny nennt) einfach hier in die Richard-Burt-Straße 1c in Köln-Ossendorf hätte kommen können. Daß Platz und Zeit für Ideen und Inspiration gewesen sei. „Ich will mich nicht abschotten!“, sagt er, „ich mache ein Fernsehen der offenen Tür!“
Besagte Tür geht wie auf Kommando auf, ein schwitzender Mensch im Anzug kommt rein, keucht ein bißchen und geht wieder. Die Zeitkraft-Sekretärin fragt durch den Spalt, ob Gorny immer noch telefoniere. Gorny sagt, das habe er gar nicht, die Sekretärin meint, dann sei wohl das Telefon kaputt – jedenfalls habe sie in der letzten Viertelstunde vier Anrufe durchgestellt. Heike Makatsch, Beinahe-MTV-Moderatorin und jetzt bei VIVA, kommt und fragt, ob sie besser Zöpfe tragen solle. Nein, entscheidet Gorny und verlangt nach Kaffee. Holt Luft und legt wieder los.
Wenn Dieter Gorny über Musik redet, macht er das nicht nur in langen, wohlfein formulierten druckreifen Sätzen. Er weiß auch, wovon er spricht. 1985 wurde der gelernte Musikpädagoge, Musiker und Tonsetzer Leiter des Rockbüros Nordrhein-Westfalen, seit 1989 managt er die Musikmesse Popkomm., die sich mittlerweile zur größten ihrer Art gemausert hat. Seit vergangenem Jahr ist er deren Geschäftsführer. Und jetzt also VIVA TV. „Die“ hätten ihn in die Pflicht genommen, sagt der frischgekürte Fernseh-Geschäftsführer, „weil man keinen anderen gefunden hat und weil man wußte, daß man mit mir nicht alles machen kann.“ Dieter Gorny gilt als absolut integer. Und das zumindest sollte Mr. VIVA sein.
Denn Probleme gab es im Vorfeld des VIVA-Programmstartes schon reichlich. Beim Namen ging’s los – den hatte bereits eine Münchner Produktionsfirma für sich schützen lassen. Deshalb ist aus „VIVA“ jetzt ein „VIVA Television“ geworden. Dann hagelte es vehemente Kritik von Seiten der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (die in Deutschland darüber entscheidet, ob ein neuer Privatsender eine Sendefrequenz bekommt oder nicht): Wenn vier Musik-Medienkonzerne (Sony, Warner, EMI und Polygram) mit je 19,8 Prozent an einem Fernsehsender beteiligt seien, so das Gremium, rieche das verdammt nach etwas, was die Griechen „Oligopol“ nannten – die Herrschaft einer Handvoll. Und danach, daß VIVA am Ende nichts anderes sei als eine Werbeclip-Abspielstation eines milliardenschweren Mega-Quartetts, das mit schätzungsweise 85 Prozent Marktanteil sowieso schon „marktbeherrschend“ sei.
Diese Kritik habe er nie verstanden, sagt Gorny und blickt auf die Uhr – es sei doch logisch, daß in einer solchen Konstruktion jeder dem anderen genau auf die Finger schauen werde. Und daß das fünfte Groß-Unternehmen auf dem Markt, das wegen „kostspieliger anderweitiger Verpflichtungen“ außen vorgeblieben sei (Bertelsmann ist mit weit mehr als der Portokasse am dahinsiechenden Privatsender VOX beteiligt) hundertprozentig genau darauf achten werde, daß auch ja genügend BMG/Ariola-Künstler auf VIVA singen dürften.
„Und wenn die Independent-Labels Verdacht wittern würden, hätten wir doch gleich das Kartellamt im Haus“, sagt Gorny. Und überhaupt: die ganze Situation werde völlig überschätzt. Natürlich würden ihm die Promotion-Abteilungen der Plattenlabels die offenen Türen einrennen, aber das sei schließlich bei jedem noch so kleinen Privatsender auch nicht anders.
Außerdem: Damals sei man davon ausgegangen, daß VIVA in erster Linie ein Video-Sender werden solle, der im Gegensatz zu den britischen Kollegen von MTV deutschen Produktionen den Platz einräume, der ihnen zustehe. 40 Prozent aller VIVA-Clips, so tönten die VIVA-Planer damals, sollten deutsche Künstler featuren. Die Frage, woher diese Legion von Produktionen denn kommen sollte, gehörte zu den vielen, auf die niemand eine Antwort wußte und die deshalb auch niemand stellte. Aber die besagten 40 Prozent sind auch für Gorny immer noch Maxime – nur redet er nicht mehr wie seine Vorgänger von 40 Prozent Clips, sondern von 40 Prozent „deutschen Sendeanteilen“. Er gibt sich kämpferisch: „Ich will hier keine computergesteuerte Videoclip-Abspielstation! Ich will Teams draußen in der Szene haben, ich will Bands hier im Studio, ich will im Untergrund wühlen! Das ist doch die große Chance, die VIVA hat: MTV sitzt in einer Stadt auf einer Insel hinter dem Ärmelkanal — VIVA sitzt in Köln, mittendrin!“
Ob er die Berlin-Tickets habe, fragt Gornys Assistentin Kerstin, der Flug ginge in einer Stunde. Neee, sagt Gorny und tastet sicherheitshalber das Jackett seines grauen Anzugs ab, „mußt Du haben. Was ist mit den Logos?“ Noch nichts, sagt Kerstin, der Mensch aus der Druckerei wolle wissen, ob blau-gelb oder rot-gelb oder beides – ob er ihm das nicht gerade am Telefon gesagt habe? Hier hat überhaupt niemand angerufen, ruft Gorny und hebt den Telefonhörer ab und knallt ihn mit einem lauten „Scheiße!“ wieder auf die Gabel. „Is‘ noch was?“
Noch ’ne ganze Menge. Zum Beispiel: Was krieg‘ ich denn zu sehen, wenn VIVA ab Januar auf Hochtouren läuft? „24 Stunden VIVA-Qualitäten!“ entgegnet Gorny und mimt auf einmal das freakige Gegenstück zu Onkel Dittmayer, „tolle Musik, tolle VJs — und alles, was zur Popkultur dazugehört: Kino, Sport, Mode undundundund.“ Also doch MTV? „Neee“, sagt Gorny, „eben nicht“. Bei VIVA werde man nicht das Gefühl haben, da berichte ein Starmoderator aus einer hochglanzpolierten VIP-Welt, zu der man als Zuschauer niemals im Leben Zutritt bekommen wird. VIVA sei mittendrin, vor der Haustür. „VIVA ist deutsch. Es ist ein verdammt großer Unterschied, ob jemand Englisch quasselt, wo die Hälfte der Kids dann doch nicht mehr mitbekommt als ‚This is the new Video from Phil Collins!‘ – oder ob jemand was zu sagen hat und das in der Sprache der Teens und Twens tut, die vor dem Ausgehen oder nach der Schule sich bei VIVA informieren. Die Sprache ist ungemein wichtig – unsere Zuschauer sollen merken, daß wir wie sie sind!“
Was ist mit den groß angekündigten „regionalen Fenstern“? Der eigentliche VIVA-Knaller, sagt Gorny und nimmt probehalber nochmal den Telefonhörer ans Ohr – immer noch tot.
„Stell Dir vor, Du wohnst in Berlin und bekommst am Freitagnachmittag vorm Ausgehen eine halbe Stunde ‚VIVA Berlin‘! Du siehst Clubs, in die Du gleich gehen kannst, Du siehst Leute, die Du gleich triffst. Du hörst Bands, die am gleichen Abend in Deiner Lieblings-Disco spielen! Mein Gott – was will ich mit einem Bon Jovi-Konzertbericht aus Los Angeles? Das kann’s doch nicht sein!“ Und dann fügt er grinsend hinzu, daß MTV so etwas niemals leisten könne. „Wenn die das mehr als zweimal im Jahr machen, klinken sich die Portugiesen oder die Griechen einfach aus, und dann gehen die Werbeeinnahmen ruckzuck in den Keller. Wenn sich aber zum Beispiel so etwas wie „VIVA Berlin“ etabliert, wird das auch für lokale und regionale Werbekunden eine interessante Sache…“
35 Millionen Mark soll VIVA im ersten Sendejahr kosten dürfen – von den 100 Millionen, die im Vorfeld für jede Menge bösartiger Spekulationen sorgten, ist keine Rede mehr. Vielleicht hat man sich ausgerechnet, daß man mit einer angestrebten Einschaltquote von 0,5 Prozent summa summarum bloß auf 25 Millionen Werbeeinnahmen im Jahr kommen kann – da würden 100 Millionen Kosten die Bilanzen ganz schnell blutrot werden lassen. Also hat man abgespeckt — auch bei den Mitarbeitern. „So um die 35 Ständige“ sollen das Rund-um-die-Uhr-Programm machen. Und die neue Kalkulation hält Gorny für vernünftig: Auch MTV habe fünf Jahre herumgekrebst und den richtigen Durchbruch eigentlich erst im vergangenen Frühjahr geschafft. VIVA werde ebenfalls nicht von heute auf morgen schwarze Zahlen schreiben.
„Aber die Deckung von 35 Millionen in ein paar Jahren halte ich durchaus für realistisch. Und es muß ja nicht bei einem halben Prozent Einschaltquote bleiben…“
„Dieter – unser Fliegernach Berlin geht“, ruft Kerstin. „Komme gleich“, bellt Gorny. Gibt’s schon eine Sendung? frage ich. Sendungen sind der dritte oder vierte Schritt, sagt Gorny, soweit sind wir noch lange nicht. „Natürlich ist sowas wie ‚School’s out‘ in einigen Köpfen schon mehr als angedacht, aber im Grunde ist das alles noch viel zu früh. „Aus was das VIVA-Programm dann bestehe, wenn nicht aus Sendungen? Aus Bits! „Clips, News, Interviews – daraus komponieren wir die Stundenuhr immer neu. Wenn ich aus was für Gründen auch immer eine News-Verdichtung brauche, dann häng ich eben 24 News-Bits aneinander, und schon hab ich ’ne richtige News-Show!“ Dieter Gorny grinst. „Wir sind flexibel – die anderen können das gar nicht sein. Aber reagieren werden sie – verlaß‘ Dich drauf!“
Der Filofax fliegt in den Aktenkoffer und ein paar Papiere hinterher. „Ach so“, sagt Dieter Gorny und wirft mir diesen Hinter-dem-Haar-Blick zu. „das beste sind natürlich unsere Moderatoren. Keine Profis, keine alten Hasen. Kids, die genau so sind wie die anderen vor den Bildschirmen. Aufgeweckt, sprachlich toll drauf. Ganz ganz tolle junge Leute. Bin weg… Tschüß!“
Die „ganz ganz tollen jungen Leute“ warten zehn Flur-Meter weiter in einer Art Konferenzraum und schlagen die Zeit tot. Eigentlich müßten sie momentan samt und sonders in irgendwelchen Realschulen oder Gymnasien sitzen und ‚was fürs Leben lernen. Bloß gibt’s momentan wichtigere Sachen – wer zum Beispiel Jamiroquai interviewen darf und wer Nirvana. Heike will unbedingt Jamiroquai, ein anderer, 17 Jahre alt, mit Ski-Zipfelmütze auf dem Kopf, erwidert: Da sei sie ganz schön blöd, weil der doch bloß in London lebe und er immerhin zu Kurt nach Seattle dürfe. „Darfste nicht“, mischt sich ein Redaktions-Volontär ein. „wenn einer nach Seattle darf‘, dann ich!“ In die Flugziel-Auseinandersetzung platzt eine Assistentin, die eine Bio über die Zipfelmütze schreiben soll. „Bei mir ist nur wichtig, daß ich in der besten Band der Welt Gitarre spiele“, kräht die Mütze. Wie die heiße, will die Assistentin wissen. „Fritten und Bier!“, antwortet er, und außerdem solle sie noch aufschreiben, daß er Grunger sei, und daß er Grunge zu jeder Tages- und Nachtzeit nur so aus dem Ärmel schüttle wie Dinosaur jr. „Die machen überhaupt keinen Grunge!“. mault der Redaktionsvolo. und außerdem sei Grunge tot, was aber nur die Industrie behaupte, behauptet Pudelmütze. Und Dieter Gorny kommt rein und sagt seinen ganz ganz tollen jungen Leuten Tschüß und ist fast schon wieder zurück aus Berlin.