Vertauschte Rollen
Es war ein regnerischer, ungemütlicher Abend. Der Wind fegte den Regen die Strasse entlang und wirbelte einige verwelkte Blätter in die Höhe.
Jens sah auf die Uhr und stellte fest, das: I er fünf Minuten zu spät war. Ein Blatt löste sich von einem Zweig und fiel ihm auf die Hand.
„“Verdammter Mist“, fluchte er, steckte die Hände in die Taschen seines Fellmantels und überquerte mit grossen Schritten die Strasse. Er stand vor dem Gub „2000“ und zögerte einen Augenblick, bevor er die Diskothek betrat. Sie war wärmer, als er erwartet hatte und allmählich taute er auf. Er zog seinen Mantel aus und gab ihn an der Garderobe ab. Dann kämmte er sich vor einem Spiegel die Haare. Er war durchnässt und sein Spiegelbild befriedigte ihn nicht.
Der Club war ziemlich leer. Jens setzte sich an die Bar und bestellte sich ein Bier. Ihm gegenüber sass ein Mädchen, das ihn beobachtete.
„Nicht übel“, dachte er, während er sie genauer musterte. Lange, rotbraune Haare, ein schmales Gesicht und grosse Augen. Sie gefiel ihm. Er war sauer, weil er wusste, dass es für ihn unmöglich war, mit ihr in Kontakt zu kommen, denn er was bereits verabredet. Er wartete auf ein Mädchen, von deren Existens er bis gestern nichts geahnt hatte. Er wusste nur, dass sie Melanie hiess und in seiner Hosentasche befand sich ein Foto von ihr, auf dem er aber nicht viel erkennen konnte. Er machte sich nichts aus dem Mädchen und doch hatte er gestern aus einer Bierlaune heraus seinem Freund versprochen, sich mit Melanie zu treffen. Sie war Gerds Brieffreundin, sie schrieben sich schon seit über einem Jahr und jetzt war sie gekommen um Gerd persönlich kennenzulernen. Sie hatte eine Freundin in der Stadt, dort wollte sie das Wochenende wohnen. Gerd hatte aber gerade am Sonnabend etwas anderes vor und so vereinbarten sie, dass Jens sich mit Melanie treffen würde.
Mir fällt schon eine passende Ausrede ein“ versprach Jens seinem Freund und jetzt sass er in dem Club und wartete auf sie. Es war viertel nach neun. „Wenigstens pünkt lieh hätte sie sein können“, dachte er missmutig und steckte sich eine Zigarette an. Er sah, wie das Mädchen vom Barhocker rutschte und auf ihn zukam. Sie lächelte ihn an. „Entschuldige, ich weiss, es klingt idiotisch, aber ich warte auf einen Knaben, den ich nicht kenne . . .“
Bevor sie weitersprechen konnte, hörte er sie} sagen: „“Dann wartest du auf mich.“ Irgendetwas, hinderte ihn daran zu sagen: „Ich bin Jens, Gerd’s Freund!“
Er tat so, als wäre er Gerd und diese Rolle fiel ihm nicht einmal schwer. Gewiss, Gerd war sein bester Freund, sie hatten sich zusammen eine Wohnung gemietet und sie kannten sich seit vielen Jahren. Doch wenn es um Mädchen ging, hatte Gerd stets mehr Erfolg. Er sah besser aus, war immer nach der neusten Mode gekleidet. Jens sah Melanie an und spürte, dass sie anders war, als all die Mädchen die er kannte. Er hoffte, sie würde nicht auf die Briefe anspielen, die zwischen ihr und Gerd hin und hergegangen sein mussten aber sie schien daran gar nicht zu denken. Als er sie kurz vor Mitternacht nach Hause brachte, wusste er, dass er Gerd nichts von diesem Abend erzählen würde.
Sie verabredeten sich für den nächsten Abend.
Er hatte ein Durchschnittsgesicht
Der nächste Tag verlief langsam und unbedeutend. Er hatte ziemlich viel zu tun, konnte sich aber nicht au seine Arbeit konzentrieren. Er war froh, als es fünf Uhr war und er die Bürotür hinter sich schliessen konnte. Gerd war bereits zu Hause und war dabei, die Wohnung aufzuräumen.
„“Wie war ’s“ fragte er gleich, ohne Jens zu begrüssen und er wusste, dass damit nur der gestrige Abend gemeint sein konnte. Sie hatten sich nämlich nicht mehr gesehen und deshalb auch nicht mehr gesprochen. Jens versuchte, ein harmloses Gesicht zu machen. „“Sie war nicht da“, sagte er schliesslich.
„“Sie war nicht da?“ Gerd war erstaunt.
„Merkwürdig …“ Jens verliess das Zimmer, er konnte nicht gut lügen und er hatte Angst, sich zu verraten. Er ging ins Badezimmer, wusch sich die Hände und kämmte sich die Haare. Im Spiegel begegnete ihm sein Gesicht und er stellte fest, dass er blass war. Er hatte bläuliche Schatten unter den Augen, die sein Gesicht schmall erschienen liessen. Er hatte ein typisches Durchschnittsgesicht, er besass nicht das gewisse Etwas, das Gerd überall so beliebt machte.
Jens ging in die Küche und ass ein paar Brote. Gerd kam ehrein. „Kommst du mit zu Sven?“ fragte er. Sven war eine Kneipe, ganz in der Nähe ihrer Wohnung, in der sie schon so manche Nacht gesessen hatten. Jens schüttelte den Kopf.
Keine Zeit, ich bin verabredet.“
Gerd versichtete darauf, weitere Fragen zu stellen. Er ging zum Kühlschrank, zog eine Flasche Milch heraus und nahm einen tiefen Schluck.
Sie war noch nicht da und als er zum drittenmal auf seine Uhr gesehen hatte, merkte er, dass er vor Aufregung feuchte Hände hatte. Als sie kam, wurde er ruhiger. Sie tranken etwas, dann tanzten sie. Bald merkte er, dass er sich rettungslos in sie verliebt hatte. Und auch er was ihr nicht gleichgültig, das fühlte er. Als sie den Club verlassen wollten, stand plötzlich Gerd vor ihm. „Hallo“, sagte er und dann, als Jens nicht antwortete: „Willst du uns nicht vorstellen?“
„Ich bin Melanie“, sagte sie statt seiner und lächelte ihn an.
„“So“, Gerd verzog fast unmerklich sein Gesicht. „
„Melanie … ein schöner Name.“
Sie verliessen die Diskothek und Jens sah Gerd mit gemischten Gefühlen nach. Melanie schien sich für Gerd zu interessieren, sie wollte wissen, wer er war und er wusste, dass sein Freund wieder einmal einen grossen Eindruck hinterlassen hatte.
Gerd macht seine Drohung wahr
Gerd erwartete ihn schon. Jens war absichtlich noch I etwas spazierenge gangen nachdem er Melanie zu Hause abgeliefert hatte. Zu guter Letzt trank er noch in einer ihm unbekannten Kneipe ein Bier. Er hoffte, Gerd nicht mehr zu treffen, aber Gerd hatte offensichtlich auf ihn gewartet.
Er zog sich seinen Mantel aus und wartete ab.
„Du bist dir doch wohl hoffentlich darüber im klaren, dass ich Melanie aufklären werde, sagte Gerd. „Sie wird nicht nett finden, dass du sie belogen hast…“
„“Ich kann dich nicht daran hindern“, antworte* Jens, unfähig, etwas anderes zu antworten. In ihm war alles leer. Er hatte nicht die Kraft, sich zu verteidigen und spürte instinktiv, dass Gerd der Stärkere sein würde. Am nächsten Abend war er eine halbe Stunde später als verabredet im Qub. Er hatte sich nicht sehr beeilt. Er wusste, dass Gerd seine Drohung wahrmachen würde, Melanie war für ihn verloren.
Er sah sie schon, als er noch vor dem Eingang stand. Sie sassen dicht nebeneinander, er hörte ihr Lachen und sah, dass Gerd etwas in ihr Ohr flüsterte. Er veriiess den Club, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sein Zimmer war kalt. Er drehte die Heizung an und setzte sich in den Sessel am Fenster. Er nahm eine Zeitschrift und blätterte die Seiten um, ohne darin zu lesen. Es war merkwürdig, dieses Gefühl, die Zeit totschlagen zu müssen wie im Wartezimmer eines Zahnarztes. Dabei wusste er nich einmal, auf was er wartete. Er hatte keine Ruhe, sich mit einem Buch zu beschäftigen. Er wartete darauf, dass sich irgendetwas ereignen würde, aber es geschah nichts. Schliesslich stand er auf, schloss seine Tür ab und löschte das licht. Dann legte er sich auf sein Bett.
Der gleiche Club, die gleiche Zeit
Er musste eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde er durch lautes Klopfen geweckt. Er hatte wirres Zeug geträumt und wusste im ersten . Augenblick nicht, I wo er sich befand. Schließlich öffnete er schlaf trunkend die Tür.
„Seit wann schliesst du dich denn ein“, fragte Gerd, der draussen stand. „Hast du Angst?“ Jens blieb stehen und Gerd setzte sich auf das Bett. Er lachte leise vor sich hin. „Bist du gekommen um mich auszulachen?“ fragte Jens, der plötzlich wütend wurde. Gerd schüttelte den Kopf. „Hast du eigentlich noch das Foto, das ich dir gegeben habe?“ „Natürlich“, Jens gab ihm das Bild, ohne noch einmal einen Blick darauf zu werfen. Das Kapitel war für ihn abgeschlossen, jetzt war es vorbei.
Gerd sah nachdenklich auf das Foto in seiner Hand.
„Weisst du, wer das ist?“ und ohne eine Antwort abzuwarten sprach er weiter. „Das ist Melanie, aber nicht die Melanie, die Du und ich kennengelernt haben, jenes Mädchen heisst Linda und ist Melanies Freundin.“ „
„Was … ?“ Jens verstand überhaupt nichts mehr.
„Ja, die beiden haben nämlich genau wie wir die Rollen vertauscht. Melanie scheint seit einiger Zeit einen Freund zu haben und fuhr schon früher wieder ab. Sie bat Linda sich mit dir, das heisst mit mir, zu treffen.“
„“Du meinst, sie ist gar nicht Melanie?“ „Nein, sie ist Linda.“ „
„Und warum hat sie mir das nicht gesagt?“ „
„Aus dem gleichen Grunde, warum du gelogen hast, sie hatte Angst, du könntest neugierig auf die echte Melanie werden, sie mag dich.“ „
„Und was geschieht jetzt?“
Gerd lachte etwas unsicher. „Nun, ich gebe zu, ich habe versucht, sie dir auszuspannen. Du kennst mich, das ist einmal meine Art, aber mir scheint, das Mädchen hat Karakter.“
„“Wieso?“ „Ich soll dir sagen, sie möchte dich morgen sehen. Die gleiche Zeit, der gleiche Club.“ Jens setzte sich in den Sessel und lächelte. Es war kurz nach drei und er wusste, dass er morgen nicht ausschlafen konnte und den ganzen Tag müde sein würde. Draussen fing es an zu regnen.