Walk on the Wild Side


Willkommen in der Stadt der Städte, hereinspaziert in den Nabel Amerikas. Und wer könnte den »Big Apple* besser zerlegen als der eingefleischte New Yorker Lou Reed. "Onkel Lou*, inzwischen auch schon knapp 44, hat allerdings dem Nachtleben radikal den Rücken gekehrt. Sein Streifzug durch New York zeigt folglich nur die lichte Seite der Stadt; das Nachtleben wird in Kürze ein anderer Reiseführer vorstellen

Hallo. Laß uns gehen.“ Ich habe Glück, Lou Reed, schon immer als schwierig verschrien, scheint keine nennenswerten Aversionen gegen mich zu haben. Unter normalen Umständen ginge die knappe Begrüßung zwar höchstens als „unhöflich“ durch, aber man hatte mich ja gewarnt: Mehr als ein Minimum an Freundlichkeit bringt Lou Reed höchstens seinen allerbesten Freunden entgegen. Und die kommen nicht unbedingt aus dem Musikgeschäft.

Wir hatten uns vor seinem Apartmenthaus an der Upper Westside verabredet. Lou wohnt in einer dieser Wohnmietskasernen, für die man ein schweres Bankkonto und einen guten Leumund braucht, um in eine der Zweizimmer-Wohnungen ziehen zu dürfen. Marmor-Lobby und ein seriöser, älterer Herr in Uniform, der Besucher ankündigt und anhält.

„Ich brauche New York. Ich könnte nirgendwo anders leben“, brummt er hinter seiner Sonnenbrille. Obwohl er ein Haus in New Jersey besitzt, lebt er mit seiner Frau Sylvia die meiste Zeit im sauberen Teil von Manhattan. „Die Stadt gibt mir Energie. Ich brauch diese Spannung hier. Egal ob sie positiv oder negativ ist.“

Wir schlendern den Broadway hinunter. Was sich hier so als gehobener Mittelstand bezeichnet, ginge in Europa leicht als „wohlhabend“ oder gar „junger Geldadel“ durch. „Bis vor kurzem lebten hier noch viele Familien, bis die Yuppies kamen und die Hausbesitzer mit teuren Kleinappartments das Geschäft machten.“ Die Yuppies (die „young urban Professionals“, also die für New York typische neue Manager-Generation) müssen jetzt allerdings gerade arbeiten; nur vereinzelt sieht man die klischeegerechten Turnschuhe zum feinen Einreiher.

Wir schlendern an freundlich hellen Cafes vorbei, an geleckt weißen Eiscreme-Boutiquen und gepflegten Modegeschäften. Zielstrebig steuert Lou einen Plattenladen an. „Ich muß nachher ein kleines Interview bei einer Radiostation geben. Wir haben aber noch ein bißchen Zeil.“

Lou blättert sich durch die CD-Ständer. Von den wenigen Kunden im Laden beachtet ihn kein einziger. Prominente haben in New York keinen Seltenheitswert. Nur auf Parties werden sie von den Paparazzi-rotografen unter Beschuß genommen. Lou haßt Parties — und die Dame bei seiner Plattenfirma RCA hatte mir von vornherein jegliche Hoffnung auf eine aufregende Nacht in den Clubs genommen. Lou geht so gut wie nie aus — und wenn, dann nur zu Anlässen, vor denen er sich partout nicht drücken kann. Zur Premiere von „Soul Boy“ zum Beispiel, für dessen Soundtrack er eine Nummer geliefert hatte. Oder zur Verleihung der Music Awards, weil er da ein paar mitnehmen durfte. Lou läßt sich einen kleinen Packen CDs zurücklegen und wir trödeln langsam Richtung Süden, downtown.

Lou mag den oberen Broadway, auch wenn ihn langsam die unvermeidlichen Yuppies in Beschlag nehmen. „So schlimm wie an der Columbus Avenue zwei Blocks weiter ist es noch nicht. Außerdem bringen die Jungs viele Elektround Plattenläden in die Gegend.“

Lou ist ganz versessen auf Compact Discs. Videospiele. Videofilme, elektronische Spielereien. „Video war eine der besten Erfindungen der Menschheit.“

Trotzdem haßt er nichts mehr, als selber Clips produzieren zu müssen.“.Das letzte Video war gut, mit dem Roboter, von Godley & Creme produziert. Ich mußte nicht schauspielern, nicht synchron singen, nicht stundenlang unter der Maske schwitzen. Ich mußte nur eine Lederjacke für den Roboter schicken.“

Wir kommen zu einem gigantischen Büro-Komplex und lassen uns von einem Fahrstuhl in irgendein zweistelliges Stockwerk schießen. Die Empfangsdame des Radiosenders ist eine Spur zu freundlich, immerhin werden wir gleich ins Studio gebeten. Der Sender gehört zu ABC, einem der Multikonzerne. Lou muß sich seine Interviewpartner gut aussuchen (lassen): bei der Unmenge großer bis winziger Sender könnte er den Rest seines Lebens damit verbringen, Interviews zu geben.

Auch die Radiomoderatorin kennt den legendär grausamen Ruf. den Lou bei den Medien genießt. Wenn ihm ein Journalist nicht paßt, hat der. wenn Lou wortlos den Raum verläßt, noch geradezu Glück gehabt. Unsicher lächelnd reicht sie ihm einen Zettel mit Fragen über den Tisch. „Ich wollte nur sicher sein, daß die Fragen in Ordnung sind.“ Auch im Hochkommerzradio ein eher ungewöhnliches Entgegenkommen.

Lou würdigt den Zettel keines Blickes und knurrt nur ein kurzes „Klar“. Freundliches Radiogeplauder, lockeres Gescherze – Lou weiß, was er den Hörern schuldig ist.

„Lok will ein Star werden, will Geld machen“, meint Waring. Lous Hausfotograf. „Er hat die Schnauze voll, permanent irgendwelche Preise und Ehrungen für die .Plane des Jahres‘ und so ’n Scheiß zu kriegen — und dann verkauft die verdammte Platte nur zehntausend Stuck.“

Eine Viertelstunde später sitzen wir im Taxi Richtung Times Square. Sodom und Gomorrha. Sündenpfuhl. Die Mischung aus monumentaler Neonkulisse, schmierigen kleinen Sexkinos und Spielhöllen ist das Optimum an Großstadt-Atmosphäre. Hektisches Menschengewühl, kitschige Broadway-Theater, fluchende und hupende Taxifahrer, sabbernde Bettler. Kein Klischee wird ausgelassen.

„Smoke, Coke, Sem, Acid?“ Die Straßendealer preisen ihre Ware ungeniert an jeder Ecke an. Lous böser Blick trifft auch mit Sonnenbrille. Mit Drogen hat er schon seit einigen Jahren nichts mehr am Hut. Und das sind keine bloßen Pressemeldungen. Sylvia würde ihm ganz schön einheizen.

„Laß uns gumbeln. “ Lou ist ein fanatischer Videospielkämpfer. „Hier halten wir unseren Hochzeitsempfang.“ Die Spielhölle hat was. Kleine Zuhälter und übercoole Nichtstuer lassen die Joysticks heißlaufen. Trotz der flackernden Maschinen herrscht hier Spielhöllen-Atmosphäre und keine Videohallen-Öde. Lou hat Stil.

Sein bevorzugter Gegner ist der“.Frogger“: Man muß einen Frosch sicher über eine befahrene Straße und einen reißenden Fluß bringen und unterwegs noch Fliegen fangen. Meine drei Frösche sterben schon bald den Heldentod unter Lastwagenreifen. Lou knackt den High Score. Und der wird am Times Square von Profis aufgestellt.

„Heeeyy — Lou Reeed. Coool Maan.“ Der breite Dialekt klingt nach Uptown Harlem. Ganz so unbehelligt bleibt man als Rockstar auch in New York nicht. Lou grinst kurz, dann schnappen wir uns das nächste Taxi. „Sevenlh Avenue South. “ Wir fahren ins Village. „Da drüben an der Ecke bei dem chinesischen Lokal hübe ich früher gewohnt.“ Als die Christopher Street

noch nicht Zentrum der Schwulenbewegung und gefürchteter Seuchenherd und die Kneipen noch keine Touristenfallen waren.

Wir lassen uns auf drei Stühle vor dem“.Cafe Figaro“ fallen und ordern Cappuccinos. Im Village haben die Leute Zeit; die gnadenlose Hektik der Stadt wird hier leicht gebremst. Allerdings nur leicht, denn nach einer knappen Viertelstunde reißt es Lou schon wieder hoch; weiter geht’s zu einem Blumenladen. Lou läßt einen Strauß zusammenstellen und ihn per Boten an Gemahlin Sylvia bringen. Anschließend wühlen wir uns kurz durch Stapel von abgegriffenen Büchern vor einem Antiquariat. Lou sucht nach seltenen Ausgaben seines großen Vorbildes, des Dichters Delmore Schwanz. Dichterlesungen gehören zu den seltenen Gelegenheiten, zu denen er überhaupt noch ausgeht. Auf Konzerten beispielsweise trifft man ihn so gut wie nie.

„Hunger?“ Wieder ins Taxi (in New York fährt fast niemand Auto, dafür ist jedes zweite Fahrzeug eines der gelben „Cabs“) und weiter downtown ins Chinesenviertel. Nicht etwa nach Chinatown. wo zwischen kitschigen Porzellanläden und Souvenir-Nepp die Touristen abgefüttert werden, sondern an den rauhen East Broadway. „Gute chinesische Lokale erkennt man daran, daß man keinen Weißen trifft “ Und wir sind tatsächlich die einzigen westlichen Gesichter in dem engen Lokal mit den fettverschmierten Scheiben, der flackernden Neonröhre und den wackeligen Tischen.

Mit versteinertem Gesicht nimmt der Ober unsere Bestellung entgegen. Was dann in den Schüsseln dampft, ist mit dem zahnlosen China-Pampf in den chinesischen Lokalen Europas nicht im geringsten zu vergleichen. Der Orient schlägt mit heftiger Würze und ungewohntem, aber hervorragendem Aroma zu.

Lou liebt den fernen Osten, geht in eine Tai Chin-Schule. ißt vorzugsweise exotisch mit Stäbchen, läßt keinen Bruce Lee-Film aus. Und er liebt obskure Tees und Krauter.

Sein Stammgeschäft scheint allerdings kaum Platz für Kundschaft zu bieten: vom beleuchteten Wasserfall mit eingebauter Uhr bis zur getrockneten Ginseng-Wurzel scheint es hier das gesamte Warensortiment Chinas zu geben.

„Laß uns doch noch ganz runter nach downtown fahren. Die Atmosphäre dort ist einfach bizarr. Wall Street mit seinen historischen Wolkenkratzern, wo die Hohenpriester des Kapitalismus hinler dicken Türen mit Milliarden jonglieren.“

Hektische Betriebsamkeit auf den Straßen. Herren, die im Vorbeigehen einen Hot Dog hinunterschlingen, die Aktentasche unter dem Arm und Walkmanstöpsel im Ohr. Wir kommen am Denkmal für den unbekannten Bürohengst aus Bronze vorbei und schlendern über großzügige Plätze, die angesichts der drangvollen Enge auf Manhattans Halbinsel den Hauch üppiger Verschwendung haben.

Wir stehen vor dem World Trade Center, das mit seinen zwei schlanken „Twin Towers“ auch hartgesottene New York-Besucher beeindruckt. Ein Börsenmarkler erkennt scheinbar das Idol seiner Jugend, grinst breit und meint, ohne seine hastigen Schritte zu verlangsamen: „Hey Lou. Was läuft?“ Dafür scheint der schwarze Junge, der Lou am Ärmel zieht (und dadurch fast eine Nahkampfaktion des Fotografen bewirkt, der schon unangenehme Erfahrungen mit aufdringlichen Fans gemacht hat), keine Ahnung zu haben, wen er da vor sich hat. „Ey Mister, können Sie mal ’n Bild von mir machen 9 „

Die Schalten werden länger, die Rush Hour bricht über der Stadl herein. „Ich werde mich jetzt verziehen. “ Wenn Lou keine Lust mehr hat. ist nichts zu machen. „Well, ich wünsch euch noch einen schönen Tag“, meint er und winkt das nächste Taxi heran.

Werden wir haben.

LESTER CROWE