Kolumne

Warum TikTok & Co. unser Hirn faulen lassen


Julia Friese erklärt in ihrer Kolumne, was sich hinter dem Begriff „Brain rot“ verbirgt.

Drei Beobachtungen:

1. „young man, …

„Brain rot“ – also: Hirnfäulnis – wurde vom Oxford Dictionary zum Wort des Jahres 2024 gewählt. Es meint den Zustand nach längerem Social-Media Konsum: Seltsam nervös ist man, bei leicht verkürzter Aufmerksamkeitsspanne durch den Beschuss von scheinbar immer neuen Dingen, in einer gleichbleibenden Anspannung aus Angst und Ekel, getüncht in ein generelles Misstrauen, da alles, was man sieht, doch gefiltert ist und Eigenwerbung – oder nun sogar AI-Content! Die Menschen, die zu einem sprechen, sind gar keine Menschen. Schon gehört, dass Beyoncé ein Reptiloid, also ein Echsenwesen sein soll? Und Donald Trump ist wieder Präsident der USA. Oh, waren das Nachrichten? Alles ist seltsam unwirklich.

Menschen, die sich mit Verschwörungstheorien befassen, hat die erneute Präsidentschaft Trumps nicht überrascht. Nichts ist, wie es scheint, alles ist miteinander verbunden und sowieso geplant. Das sind, nach dem Politikwissenschaftler Michael Barkun („A Culture Of Conspiracy“), die Kernelemente einer jeden großen Verschwörungstheorie.

Seien es Querdenker, Q-Anon oder die Proud Boys, alle haben die Annahme gemein, dass „wir“ von einer Elite hinters Licht geführt werden und dass „wir“ (wahlweise weiße Männer, der Westen, die biodeutsche Bevölkerung etc.) ausgelöscht werden sollen, und somit einen Retter (sic!) brauchen. Sowohl Q-Anon-Anhängende – die glauben, die Elite vergewaltige Kinder, die sie per Pizza-Bestellcode ordere, um dann deren Blut zu trinken – als auch die Proud Boys haben Donald Trump als ihren Retter auserkoren. Und der retweeted ihre Theorien und machte jüngst den Querdenker Robert Kennedy jr. zum Kabinettsmitglied.

2. there’s no need to feel down …

Verschwörungstheorien sind Geschichten aus immer ähnlichen, also mimetischen Bausteinen. Und TikTok ist ein Ort, an dem Memes kopiert werden. Ein Ort, der zum Interpretieren und Spekulieren einlädt. Wie Taylor Swift, die sich selbst Mastermind, also Drahtzieherin nennt und in ihren Videos, Posts und Liner Notes bewusst Hinweise hinterlegt, die Swifties suchen, um sie auszudeuten. Das schafft Content! Und Analysen, die über das Ziel hinausschießen. Die „FreeBritney“-Verschwörung hatte am Ende einen wahren Kern: Britney hatte wirklich keinen ungefilterten Zugang zu ihren Socials und kommunizierte daher in Codes. Allerdings ist Spears kein Klon und kein Reptiloid.

ODER? Menschen lieben gute Geschichten. Und ist es nicht auch angenehm, zu glauben, dass nichts willkürlich, sondern ALLES VON LANGER HAND GEPLANT IST? In guten Geschichten gibt es einfach keine Zufälle! Moment! Sagt Q-Anon nicht, dass die Elite Kinder foltert? Was war da noch mal mit Jeffrey Epstein? Hatte der nicht auf seiner Privat-Insel Sex mit Minderjährigen? Und nun P. Diddy! Wurde der nicht auch mit all diesen Machtinhaber:innen und Stars auf seinen Partys gesehen und liegen gegen den nicht auch Klagen von damals Minderjährigen vor?

3. … cause you’re in a new town

Dass die Partyfoto-Elite nun ausgerechnet von der Partyfoto-Elite Donald Trump und Elon Musk gestürzt werden soll, ist irgendwie verwirrend. Wie auch die Tatsache, dass der Held der heterosexuellen und faschistischen „Proud Boys“ die Gay-Hymne „Y.M.C.A“ zu seinem Song erklärt hat, zu dem er in der immer gleichen Abfolge tanzte, sodass es nun einen Trump-TikTok-Tanz mit deskriptiver Emoji-Abfolge gibt: Fünf Mal mit der Faust nach unten boxen Die Lippen spitzen und mit den Fäusten beidseitig Ski-Langlauf-Bewegungen machen.

Selbstzufrieden die Fäuste seitwärts bewegen. Moment, gab es nicht schon einen „Y.M.C.A“-Tanz? Und „Young Men“ meint jetzt also „Proud Boys“? Schon gesehen, dass sich Söder wahlkämpfend exakt wie Trump bei McDonald’s arbeitend fotografieren ließ? Ähm, empfindest du gerade brain rot? Du siehst irgendwie doppelt? Keine Sorge, das soll so sein. Pssst! Wir sollen alle tik und tok werden! China will das! Wir sollen so brain rot werden, dass wir nach starken Männern rufen, die alles – in ihrem Sinne – richten …

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 2/2025.