Was sich hinter dem TikTok-Trend Raw Dogging verbirgt
Julia Friese gibt eine Masterclass in Raw Dogging Variants.
Drei Beobachtungen:
1. realität ohne jedes spice …
Keine Filme, nichts essen, kein Alkohol, nicht mal Wasser trinken, nur auf die Map starren. Langstreckenflüge ohne Zerstreuung sind zu einem TikTok-Trend geworden, der „Raw Dogging“ genannt wird. Ein Begriff, der ursprünglich die Kopulation ohne Präservativ meinte, meint nun ohne Zerstreuung, also ohne Laune-Stabilisatoren existieren. Wenn man ohne Handy spazieren geht, ist das nun nicht mehr Flanieren, sondern Raw Dogging. Eine Firmenparty ohne Alkohol? Definitiv Raw Dogging. Männliche YouTube-Essayisten fragen sich: Wozu soll das gut sein? Sie finden es ähnlich lächerlich wie das Gegenwarts-Gegengift „Achtsamkeit“(oder eben englisch „Mindfulness“), das als weibliche Terminologie zu dem eher männlich konnotierten „Raw Dogging“ gelesen wird.
2. … bei soft sofatutor vibes
TED war mal eine kalifornische Tagung zu den Themen Technologie, Entertainment und Design, dessen Panels man kostenlos im Netz anschauen konnte. Mittlerweile existieren TEDx-Konferenzen und deren Videos zu beinahe jedem Thema. Und viel zu oft hört man Menschen nun Erklärungen mit „Thanks for listenting to my TED Talk“ beenden. An sich ist der TED-Talk eine Mischung aus Eigenwerbung und Einführungsveranstaltung, ein Gegenteil also zur Masterclass, die ursprünglich einen Abendkurs von Expert:innen, bezeichnete, der tiefere Einblicke vermitteln sollte. Seit 2015 allerdings existiert eine Online-Plattform namens masterclass.com, die man abonnieren muss, um sich dann circa dreistündige Kurse anschauen zu können, wie: „St. Vincent lehrt Songwriting und Kreativität“ oder „Joyce Carol Oates lehrt die Kunst der Kurzgeschichte“.
Berühmte Persönlichkeiten reflektieren hier oft vor allem ihren Werdegang. Also eine ausführlichere Variante der letzten Seite des „Zeit“-Magazins: „Was ich gern früher gewusst hätte“. Dennoch hat sich der Masterclass-Begriff verselbstständigt. Im Sommer hieß es beispielsweise: Charli xcx’ BRAT sei eine Masterclass in Sachen Marketing. Wird der Begriff hier anstelle von Meisterwerk oder Musterbeispiel verwendet, ist Masterclass im Rap zu einer weiteren „made it“-Insigne geworden, wie zuvor auch die Firmennamen „Billboard“ oder „Forbes“. Aber auch die kritische Verwendung ist längst Pop: Als The Smile im September ihr ätherisches CUTOUTS veröffentlichten, heißt es in „Zero Sum“: „The masterclass, the TED Talk / That’s a lot to burn for no reason“.
3. kulturindustrie als massenbetrug
Ein weiteres Wort, das im Pop-Kontext gerade gehäuft auftaucht, ist das der „Variant“ – also deutsch: der Variante. Das Spiel damit dominiert natürlich Taylor Swift, die bisher über 40 Varianten von THE TORTURED POETS DEPARTMENT veröffentlicht hat. Natürlich braucht kein Fan auch nur zwei Cover- oder Bonussong-Varianten des ansonsten immer gleichen Albums. Der Grund, warum Varianten existieren, ist das Charts-Doping. Swift veröffentlichte immer wieder strategisch auch regionale Varianten, um zum Beispiel einen BRAT-Platz-1 in den britischen Charts zu verhindern.
All das konnte man beobachten, aber immer noch gutgläubig als Interpretation eines Zufalls abtun, wäre da nicht Sabrina Carpenter. Als die im September SHORT N’ SWEET gegen den Re-Release eines Travis-Scott-Mixtapes veröffentlichte, droppte sie ebenfalls bis zwei Stunden vor Ende der Verkaufswoche Varianten ihres Albums und twitterte: „this one’s for nicki“. Womit sie darauf anspielte, dass Travis Scott einst Nicki Minajs Album QUEEN in den Charts übertroffen hatte, woraufhin die damals online wütete. Ähnlich, wie die deutsche Erfolgsautorin Caroline Wahl („22 Bahnen“), die 2024 wieder nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, und dazu einen wütenden Insta-Post absetzte. Man könnte an dieser Stelle Horkheimer/Adorno zitieren, oder anregen, dass es Zeit wird, Erfolg, die Charts auch mal wieder zu raw-doggen. Immerhin wäre das eine Masterclass in being demure und mindful.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 11/2024.