Wie uns die Alten sungen
Wir sind in den 60er Jahren, der Blütezeit der Soulmusik angelangt. Waren es bislang nur kleine Firmen mit lokaler Bedeutung, die schwarze Musik produzierten und vertrieben, so nehmen nun die Farbigen auch geschäftlich das Heft in die Hand. Allen voran Berry Gordy, der mit Tamla Motown den Soul der 60er prägt wie kein anderer.
Drei Firmen dominierten die Charts der Rhythm & Blues- bzw. Soul-Ära der 60er Jahre: Atlantic. Stax und Motown. Neben James Brown dürften sie, über den Daumen gepeilt, etwa zwei Drittel des Umsatzes an schwarzen Scheiben ausgemacht haben.
Das Studio von Atlantic am Broadway reiht sich unauffällig ein zwischen die Bürotürme von Manhattan. Stax in Memphis warb auf dem Schutzdach des ehemaligen Kinos mit großen Lettern „Soulsville U.S.A.“. Über dem Schaufenster der einstöckigen Villa in Detroit stand prophetisch „Hitsville USA“, schon bevor Tamla-Motown einen Hit hatte.
Aber der Reihe nach. Detroit entwickelte sich bereits in den 20er Jahren zu einer wichtigen Industriemetropole und steht synonym für Ford Automobile wie Wolfsburg für Volkswagen. In der zweiten großen Abwanderungswelle der Schwarzen aus den Südstaaten in die nördlichen Großstädte zog Detroit in den Nachkriegsjahren die Arbeitswilligen wie Licht die Motten an. Berry Gordy Jr. 1929 geboren, wuchs mittelständisch auf: die Eltern besaßen einen Stukkaturbetrieb, einen Lebensmittelladen und eine kleine Druckerei. Der Sparrings-Partner des Federgewicht-Amateurboxers Berry Gordy hieß Jackie Wilson.
Nach seiner Militärzeit in Korea eröffnete Gordy 1953 den 3-D Record Markt und wunderte sich, daß die Schwarzen weniger nach Charlie Parker fragten, sondern Platten von den Dominoes und Johnny Ace wollten. Mit dem Laden war er schnell pleite und mußte arbeiten gehen — bei Ford natürlich, als Blechschneider.
Nebenbei fing Gordy an. Blues-Songs zu schreiben, die er an die Firmen Modern und Peacock verkaufte oder direkt an Musiker gab. die in der Flame Show Bar auftraten. Mit seiner Schwester Gwendolyn verfaßte er weitere Lieder, die er — zufällig — bei einem Verleger unterbrachte, der seinen ehemaligen Boxgegner Jackie Wilson unter Vertrag hatte. Wilson hatte bis 1957 bereits einige Platten mit den Dominoes besungen und trennte sich von der Gruppe, um eine Solokarriere zu versuchen.
Wilsons erste Single — „Reet Petite“ aus der Feder von Gordy — kam im Herbst 1957 zwar nur auf Platz 62 der Pop-Charts, stieg aber damals schon auf Nummer 6 der britischen Pop-Hitparaden. Gordy lieferte weitere Songs, mit „Lonelv Teardrops“ schaffte es Jackie Wilson auf Platz 1.
Ermutigt durch diese Erfolge, fing Gordy an, eigenständig zu produzieren und die Mutterbänder an Plattenfirmen zu verhökern. Beispielsweise die ersten Lieder der Miracles mit Smokey Robinson: „Get A Job“ erschien in New York auf End und brachte angeblich nur 1.98 Dollar an Tantiemen ein;“.Bad Girl“ landete bei Chess in Chicago.
Um nicht weiter von anderen übervorteilt zu werden, gründete Gordy das Label Tamla. Der gängigen Legende zufolge lieh Gordy sich 800 Dollar von seiner Familie.
Erst Ende des Jahres — nach vielen Flops — konnte Tamla und das neu gegründete Label Motown (ein Kürzel für Motor Town) mit zwei nationalen Hits aufwarten: „Shop Around“ von den Miracles mit Smokey Robinson
Smokey Robinson war Motowns erster Hit
schoß auf Platz 1; Mary Wells‘ „Bye Bye Baby“ erreichte Nr. 8. Die schwarze Blondine entwickelte sich zur beständigen Hitlieferantin: „You Beat Me To The Punch“, „Two Lovers“ und „My Guy“ (alle aus der Feder von Smokey Robinson) hießen ihre großen Nummern bis zum Frühjahr 1964. Nach einem Duett-Album mit Marvin Gaye verließ Wells Motown wegen geschäftlicher Uneinigkeiten.
William Smokey Robinson, Jahrgang 1940. wurde eine der Schlüsselfiguren. Nicht nur waren seine Miracles mit ein paar Schulkameraden — unter anderem Claudette Rogers, die er später heiratete — die erste erfolgreiche Gruppe für Motown, sondern Robinson war auch einer der eifrigsten Komponisten und Produzenten der Firma.
1959 noch, als die Gruppe im selben Programm mit Ray Charles im Apollo Theater in Harlem auftrat, weigerte sich der Besitzer, ihnen Gage zu zahlen, weil sie so schrecklich klangen. Nach „Shop Around“ aber zählten die Miracles zu den erfolgreichsten schwarzen Gruppen der 60er Jahre. Bis 1970 hatten die Miracles über ein Dutzend Top-10-Hits, u.a. „You Really Got A Hold On Me“, die Tanznummer „Mickey’s Monkey“, das bluesige „Tracks Of My Tears“, „I Second That Emotion“ und „The Tears Of A Clown“.
1963 wurde Robinson Vize-Präsident von Motown. er produzierte Mary Wells, die Temptations und Marvin Gaye und trennte sich 1972 von den Miracles aus rein familiären Gründen.
Die nächsten Glücksbringer für Tamla waren fünf 17jährige Teenage-Girls, die als Marvelettes gleich mit ihrer Debütscheibe „Please, Mr. Postman“ auf Platz 1 der Charts kamen. Der Song wurde von den Beatles erfolgreich gecovert. Bis 1968 blieben die Marvelettes auf Erfolgskurs mit „Don’t Mess With Bill“ und „The Hunter Gets Captured By The Game“ — letzteres wurde in 80er Jahre Styling von Grace Jones und Blondie geeovert.
„My Girl“ von den Temptations gehört zur Allgemeinbildung der Musikgeschichte — ebenso wie Elvis. Beatles und Bob Dylan. Die Temptations entwickelten sich aus zwei Gruppen heraus, den Primes und den Distants. Nach ein paar erfolglosen Singles stürmten sie Anfang ’65 die Charts mit „My Girl“ und sind kaum aus den Top 10 der folgenden Jahre wegzudenken.
Die Stimmen der beiden Lead-Sänger bis 1968, der helle Tenor von Eddie Kendricks und der Bariton von David Ruffin, bildeten einen aufregenden Kontrast. Kombiniert mit den großartigen Songs von Smokey Robinson und einer präzisen Bühnenchoreographie wurden die Temptations nach den Drifters die heißeste Gesangsgruppe — und die beständigste.
Der Exzentriker Marvin Gaye bekam schon immer viel Presse — zuletzt, als ihm sein Vater am 1. April 1984 in Los Angeles wegen familiärer Streitigkeiten erschoß. Er war eben — wie sein erster Hit schon verhieß — ein „Stubborn Kind Of Fellow“. 1939 in Washington geboren, war er bereits als 18jähriger im Studio: mit dem Gesangsquintett The Marquees und als Background-Vokalist für Billy Stewart. Beide Platten — Bo Diddley spielt angeblich Gitarre — wurden in Chicago auf Okeh veröffentlicht — mehr zu dieser Firma später.
In Chicago schloß Gaye sich der enorm beliebten Vokalgruppe Harvey & the Moonglows an, 1959 brachte Chess mehrere Singles von dieser Formation heraus. Die „Ten Commandments Of Love“ kamen im Herbst 1958 auf Platz 9 und zählen seither zu den Klassikern des Doo-Wop-Gesangsstils.
Motown absorbierte Anna, Harvey Fuqua und seine Frau Gwen starteten in Detroit die kurzlebigen Labels Tri-Phi (The Spinners) und Harvey (Junior Walker). Marvin Gaye folgte Fuqua nach Detroit und kam so zu Tamla und einer Ehefrau: Berry Gordys Schwester Anna.
Tja,— in den 60er Jahren sprachen fast alle Motown-Künstler von einem Familienunternehmen, Spötter gar von Inzucht. Gaye fing als Schlagzeuger an (u.a. bei den Miracles und Little Stevie Wonder), seine erste Soloplatte „Let Your Conscience Be Your Guide“ (1961) enthält noch die Spontaneität eines Gospelsängers. Ab Herbst 1962 war er dann Stammgast in den Charts mit „Hitch Hike“, „How Sweet lt Is To Be Loved By You“, „Ain’t That Peculiar“ und ’68 mit „I Heard It Through The Grapevine“, einer Coverversion von der Motown-Künstlenn Gladys Knight & The Pips. Letztes Jahr war es dieser Song neben Sam Cookes „Wonderful World“, der via Levi’s 501 die neueste Soul-Welle ins Rollen brachte.
Sein einschmeichelnder Softsoul machte Gaye zum Liebling der Frauen, auch seiner Kolleginnen bei Motown: 1964 besang er mit Mary Wells ein Album, Ende ’66 arbeitete er kurz mit Kim Weston, ab 1967 für zwei Jahre intensiv mit Tammi Terrell, mit der er fünf Hits plazierte, bis sie plötzlich bei einem Konzert in seinen Armen zusammenbrach und ein paar Monate später starb.
Nach diesem Schock kam nicht viel Brauchbares von Gaye, der sowieso gegen die strikten Regeln des Motown-Konzerns rebellierte und seine künstlerische Freiheit beeinträchtigt sah. Auf eigene Rechnung produzierte Gaye Ende 1970 das Konzept-Album What’s Going On und stellte seinen Boß Gordy vor die Alternative: Veröffentlichung der LP oder Aufkündigung des Vertrages. What’s Going On, so ziemlich die einzige Platte auf Motown mit politischem Bewußtsein in eben jenen kritischen Jahren der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, war blitzschnell auf Platz 1 der Charts. Die Jahre danach waren für Gaye sowohl künstlerisch als auch persönlich turbulent, wenn nicht gar chaotisch.
Müßte der Motown-Sound mit einer Gruppe definiert werden, dann heißt die Antwort The Supremes, die seit Anfang 1961 bei Berry Gordy unter Vertrag waren. Von den ersten sechs Singles des Damentrios Diana Ross, Florence Ballard und Mary Wilson kam nur ein Titel gerade mal auf Platz 26. Erst Anfang 1965 gelang für die Supremes der Durchbruch nach monatelangem Drill: „Stop! In The Name Of Love“, „Where Did Our Love Go“, „Baby Love“, „I Hear A Symphony“ und „You Can’t Hurry Love“ sind Klassiker von Motown.
Das Komponisten-/Produzenten-Team der Brüder Eddie & Brian Holland und Lamont Dozier — kurz: HDH — hatte einen maßgeschneiderten Sound gefunden: Melodien, die fast zum Mitsummen zwangen, großartige Background-Harmonien hinter der leicht nasalen Stimme von Diana Ross, und ein stark betonender Beat. Gelegentlich wurde eine Flöte eingesetzt (Gordys Lieblingsinstrument), selten Bläsersätze, meist aber das Detroit Symphony Orchestra mit Arrangements von Gordys zweiter Frau, Raynoma.
Genauso wichtig wie die Musik war — zumindest bei den Supremes — das Image: adrette Kleider und Kostüme, die Frisuren, Zahnpastareklame-Lächeln, präzise und elegante Choreographie. Parallel zu ihren Singles-Hits
baute Berry Gordy die Supremes ganz gezielt auf für Las Vegas und den weißen Mittelstand.
Während Mitte der 60er Jahre auch die USA von der Beatlemania angesteckt worden waren, die Schwarzen auf James Brown und Sam & Dave abgroovten, Jimi Hendrix und Bob Dylan zu Idolen der weißen Hippie-Bewegung wurden, versuchten die Supremes schon mit ihrer zweiten LP A Little Bit Of Liverpool vom Trend zu profitieren. Der Titel der dritten LP Country, Western & Pop bedarf keiner Erklärung, ihr „We Remember Sam Cooke“ war dann wieder auf hohem Niveau. Die totale Vermarktung fand statt mit ihrem Auftritt als Nonnen in einem Tarzan-Fernsehfilm, Coca Cola-Werbeplatten und sogar deutschsprachigen Versionen ihrer Hits (mit denen uns RCA/Motown im Herbst beglücken wird!).
Daß Berry Gordy und Diana Ross mehr als nur Freunde waren, war ein offenes Geheimnis, und Berry strebte eine Solokarriere für die Ross an. Nach ein paar Alben der Supremes mit den Temptations trennte Diana Ross sich Anfang 1970 von ihrer Gruppe und wurde sowohl als Filmstar („Lady Sings The Blues“) und Stammgast in Las Vegas zum bleichen Ausverkauf schwarzer Musik — der Titel Red Hot Rythm & Blues ihrer neuesten Langrille ist der reinste Etikettenschwindel.
Im Kontrast zum sanften Pop der Supremes sangen Martha & The Vandellas stark Gospel-beeinflußten Soul, der durchaus den Vor-Atlantic-Platten der jungen Aretha Franklin entsprach. Für das Label Gordy lieferte sie acht Top-10-Hits, herausragend bleiben „Heatwave“, „Nowhere To Run“ und „Dancing In The Street“.
Der erdigste aller Motown-Leute war der Saxophonist Junior Walker, der auf seinem Instrument röhren konnte wie King Curtis bei dem Konkurrenten Atlantic. Seine Evergreens: „Shotgun“. „(I’m A) Road Runner“ und „What Does It Take (To Be Loved By You)“.
Das Geheimnis für Hitsville. den Motown-Sound. liegt in den eingängigen Melodien und meist unbeschwerten Texten, den talentierten Komponisten und im harten Drill der Sänger/ innen durch die eigens dafür eingerichtete Abteilung „Artist Development“. Die Qualitätskontrolle nahm in den ersten Jahren der Chef selbst vor. Oft holte Gordy unbedarfte Leute von der Straße ins Studio, um deren Resonanz auf seine neueste Produktion auszutesten, bevor er die Platten pressen ließ. Von 1966 an warb er für seine Firma mit dem Spruch „The Sound Of Young America“.
Aber bald darauf regte sich auch Kritik an dem Softsoul von Motown: weniger an der Musik als an dem mangelnden Engagement (oder wenigstens Solidarität) füi die. Bürgerrechtsbewegung, die das ganze Land erfaßt hatte.
Vielen Schwarzen mag es wie ein Hohn erschienen sein, als Berry Gordy den Ursprung seiner Firma plastisch darstellte: „Ratten, Küchenschaben, Talent, Mut und Liebe.‘ Als Alibi-Platte brachte Motown „Love Child“ auf den Markt, einen Song über die Slums. Ironischer wurde dieses Lied von dem Weißen Dean Taylor geschrieben und ausgerechnet von den schmollmündigen Supremes intoniert — hatte Diana Ross je eine Ratte oder eine Küchenschabe gesehen außer in der FernsehrekJame?
In der zweiten Hälfte der 60er Jahre nahm die Motown-Familie noch ein paar weitere Mitglieder in ihre Runde auf: die Four Tops, die Isley Brothers, Gladys Knight & The Pips. Und ein paar Kinder: Little Stevie Wonder und die Jackson 5 — aber die passen ja nun wirklich nicht in diese Story. Die Ära Motown ist für Puristen 1971 zu Ende, als Berry Gordy sein Imperium von Detroit nach Los Angeles verlegte. Dort saß die Platten- und Filmindustrie.
Über Motown wurden schon früher geschrieben. Wer mehr über diese Firma wissen will — vor allem, was hinter den Kulissen passierte, wo nicht immer gelächelt wurde —, sollte sich unbedingt das Buch „Where Did Our Love Go?“ von Nelson George kaufen. Motown bleibt für viele Schwarze in den USA ein Symbol des Erfolgs: nicht nur wegen Hunderter von Hitplatten, sondern weil ein Schwaner&t Firma aufbaute — die Realisation des „amerikanischen Traums“.
400 Kilometer westlich von Detroit lag die Blues-Metropole Chicago, drittgrößte Stadt der USA. Das schwarze Ehepaar Vivian Carter und James Bracken gründete 1953 Vee-Jay (die Initialen ihrer Vornamen). Die Gesangsgruppen The Spaniels. El Dorados und Dells lieferten Top-10-Hits genauso wie die urbanen Blues-Sänger Jimmy Reed (der meistverkaufte Blues-Interpret aus Chicago!), John Lee Hooker und Rosco Gordon.
Zwar wurde oft behauptet, daß „Your Precious Love“ (1958) von Jerry Butler & The Impressions mit dem 16jährigen Gitarristen Curtis Mayfield die erste Soul-Platte sei, aber es ist zweifelhaft, den Beginn eines Musik-Stils auf einen Künstler, einen Song oder auch nur auf ein Jahr festzulegen. „You Can Make It If You Try“ von Gene Allison, sechs Monate zuvor ein Hit für Vee-Jay, fällt durchaus auch schon in die Schublade Soul, und Dee Clark brachte Ende der 50er Jahre auch ein paar Stücke, die sich schlecht eindeutig als Rhythm & Blues oder Soul definieren lassen.
Jerry Butler trennte sich kurz nach seiner Debütscheibe von den Impressions und blieb bis in die 70er Jahre ein beständiger Balladensänger mit „Hey, Western Union Man“ und „Only The Strong Survive“. Die zum Trio zusammengeschrumpften Inipressions unter Leitung von Curtis Mayfield ließen erst 1961 wieder von sich hören — dann aber durch die ganze Dekade hindurch. „Gypsy Woman“ mit Kastagnetten war der erste Kassenschlager aus der Feder des begabten Komponisten Mayfield, gefolgt von meist Gospel-beeinflußten Songs mit politischem Unterton: „It’s All Right“, „People Get Ready“ und „We’re A Winner“. 1970 trennte er sich als Sänger von der Gruppe und machte sich als Solist einen Namen mit „Move On Up“, „WeVe Got To Have Peace“ und „Superfly“.
Die langlebigste Firma in Chicago war Chess/Checker/Argo/Cadet. Die polnischen Einwanderer-Brüder Phil und Leonard Chess fingen 1947 an, Platten herzustellen — und zwar alle Spielarten schwarzer Musik. Die ersten Gelder verdienten sie mit Bluesleuten, die meist aus Mississippi stammten: Muddy Waters, Sonny Boy Williamson, Jimmy Rogers, Little Walter, Howlin‘ Wolf, John Lee Hooker, Willie Mabon und in den 60er Jahren Buddy Guy und Koko Taylor.
Der bekannteste aller Chess-Künstler dürfte wohl Chuck Berry sein, der Innovator des frühen R& B-Rock ’n‘ Roll. Mit der klaren Diktion eines Country & Western-Sängers trug er spritzig-witzige Texte vor. Urwüchsiger Rhythmus war das Markenzeichen von Bo Diddley, der am liebsten über Bo Diddley sang. Die Vokalgruppen The Moonglows (unter dem Pseudonym The Moonlighters), die Flamingos und die Dells waren durchaus konkurrenzfähig mit denen auf Atlantic und Motown. Dutzende erstklassiger Jazzmusiker und Gospelsänger, u.a. Arethas Vater Reverend C. L. Franklin, bereicherten den Katalog und das Bankkonto der Chess-Brüder.
Chess hatte auch einige süperbe Soul-Ladies unter Vertrag: Mitty Collier blieb leider obskur und Fontella Bass mit „Rescue Me“ ein „One-Hit-Wonder“. Sugar Pie DeSanto und Laura Lee gehören zu jenen „great Unknowns“. nach deren Platten zu suchen es sich lohnt.
Die Chess-Brüder schickten einige der Damen in das Fame-Studio in Muscle Shoals. nachdem dort Wilson Pickett und Aretha Franklin ihre besten (und erfolgreichsten) Titel aufgenommen hatten. Mit Irma Thomas gelang kein Hit. aber dafür mit Etta James um so öfter: „All I Could Do Is Cry“, „At Last“, die Urversion von „I’d Rather Go Blind“, „Tell Mama“ und „Security“.
Etta James hatte jenes Stimmvolumen, daß sie ohne Mikrofon hätte singen können, und unter Kennern gilt sie als die beste Soul-Sängerin überhaupt. Sie war abwechslungsreicher als Aretha Franklin und schaffte den ganz großen Durchbruch nicht, weil sie drogensüchtig war und sich ihre korpulente Figur nicht TV-gerecht vermarkten ließ. Leonard Chess, der kreative Kopf des Unternehmens, starb 1971. Seither wechselten die Eigentümer des umfangreichen Archivs mehrmals.
Mit dem Tod von Syd Nathan (1967) fingen für King in Cincinnati die Probleme an; als James Brown 1971 die Firma verließ, endete alles im Chaos. Nathan startete sein Imperium 1944 mit Country-Sängern und war smart genug, schnell ein eigenes Preßwerk und Vertriebssystem aufzubauen, das ihn unabhängig machte. Hank Ballard und seine Midnighters kreierten die Saga um die sexbesessene Annie (vorsichtig ausgedrückt als „Work With Me Annie“) und lösten damit eine Flut von Antwortliedern aus. Ballard kam 1959 mit seiner Komposition „The Twist“ nur auf Platz 16 der R&B-Charts — ein Jahr später wurde Chubby Checker mit dieser Tanznummer ein weltbekannter Star. Der schmächtige Little Willie John mit „Fever“, der Organist Bill Doggen mit „Honky Tonk“ und der Saxophonist Earl Bostic mit „Flamingo“ verhalfen King zu einer führenden Position unter den Hunderten von fndie-Labels der 50er Jahre.
1956 schaffte es James Brown mit seiner ersten Platte „Please Please Please“ in die R&B-Charts, aber erst eineinhalb Jahre später kam seine Karriere richtig in Schwung. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre galt alle Aufmerksamkeit ihm, andere gute Künstler wie Johnny Guitar Watson und Johnny Otis wurden vernachlässigt — die Firma King existierte praktisch nur von und für James Brown.
In Memphis dominierte Stax/Volt mit Otis Redding, Rufus und Carla Thomas, Sam & Dave und Booker T. die Soul-Szene und fand nur in Hi einen einstzunehmenden Konkurrenten. Hi hatte anfangs nur ein paar Rockabilly-Platten und Elvis‘ Ex-Bassisten Bill Black mit seiner Combo, bis der Trompeter Willie Mitchell seine erste Single dort aufnahm und als Hausband und Produzent unter Vertrag genommen wurde. Mit „Soul Serenade“ hatte Mitchell 1968 einen Instrumental-Hit, er produzierte Otis Clay und Syl Johnson sowie Klassiker wie Ann Peebles‘ „I Can’t Stand The Rain“ und „Let’s Stay Together“ des mittlerweile wieder zum Gospel zurückgekehrten AI Green. In das Royal Studio von Hi kamen auch O. V. Wright, Ike & Tina Turner und Bobby Blue Bland, um sich von Mitchell einige ihrer besten Platten maßschneidern zu lassen.
In New Orleans waren in den 60er Jahren zwei Firmen tonangebend. Joe Ruffinos Ric und Ron Labels hatten Erfolge mit Johnny Adams, Tommy Ridgley und der Teenagerin Irma Thomas. Joe Banashaks kurzlebiges Minit Label konnte 1960—62 einige Hits in die Charts lancieren, fast alle trugen die Handschrift des genialen Pianisten, Komponisten und Arrangeurs Allen Toussaint. Die unvergeßlichen Evergreens waren „Ooh Poo Pah Doo“ (Jessie Hill), „Over You“ (Aaron Neville). „Ruler Of My Heart“ (Irma Thomas, später ein Hit als „Pain In My Heart“ für Otis Redding), Ernie K-Does unsterbliche „Mother-ln-Law“ und „Lipstick Traces“ von Benny Spellman. Toussaint machte sich später einen Namen auch beim Rock-Publikum durch Plattenproduktionen für Labelle, The Meters, Dr. John, Paul Simon, die Pointer Sisters und seine Komposition „Southern Nights“ für Glen Campbell. Mit seinem Partner Marshall Sehorn betreibt er seit 1973
das Sea-Saint Studio und hält die trage Szene in New Orleans am Leben, die nur jedes Jahr Ende April zu Leben erwacht beim Jazz Festival, wo fast alle Leute auf einmal zu hören sind — so gut wie anno dazu mal.
Spielsalons und Plattenfirma
Houston war seit Ende des 2. Weltkrieges ein Zentrum des Blues und R&B, aber die meisten Musiker wanderten nach Kalifornien ab. Der Schwarze Don Robey war mit Spielsalons bereits ein wohlhabender Mann, als er sah, daß es für viele Musiker in seinem Club Bronze Peacock keine Plattenfirma gab. Peacoek fing 1949 mit dem Gitarristen Gatemouth Brown an, hinzu kamen die ungestüme Big Mama Thornton, Little Richard. Johnny Ace und Rosco Gordon (auf dem dazugekauften Label Duke). O. V. Wright, Junior Parker, Johnny Otis und unzählige Gospelgruppen. Unter der Regie des Trompeters Joe Scott kristallisierte sich Bobby Blue Bland bald als perfekter Grenzgänger zwischen R&B und Soul heraus, dessen Chart-Liste („I Piry The Fool“, „Thafs The Way Love Is“) kontinuierlich weiterging bis über den Verkauf von Duke-Peacock 1973 an MCA.
Auch im New York der 40er und 50er Jahre war mehr los als in den 60er Jahren, wo die meisten Labels mit dem Marktbeherrscher Atlantic/ Atco nicht mithalten konnten. Es gab Dutzende von mutigen Indie-Labels in New York — hervorragend beschrieben in Arnold Shaws Buch „Honkers & Shouters“ (2001). Außer Bobby Robinson (Fire/Fury/Enjoy) gab es dort noch einen Schwarzen, der 1957 die kurzlebige Marke Sue formierte: Juggy Murray. In dem Katalog mit etwa 200 Singles sind Juggy Murray, Don Covay (der später für Atlantic den „Soul Clan“ initiierte), Bobby Hendricks („Itchy Twitchy Feeling“), Inez & Charlie Foxx („Mockingbird“), Gary U.S. Bonds und Sylvia Robinson zu finden.
Murrays Lieblingssängenn war Jeanette „Baby“ Washington: „Lieber produziere ich mit ihr Planen, als daß ich esse“ — leider kam das bluesige „That’s How Heartaches Are Made“ nur auf Platz 10.
Ike & Tina Turner waren die ganzen 60er Jahre hindurch zwar eine der beliebtesten Live-Attraktionen, in den Top-10 der Billboard-Charts waren aber nur ihre Sue-Singles von 196(1 und ’61 zu finden: „A Fool In Love“ und „It’s Gonna Work Out Fine“ gehören zu den besten Sachen des Ehepaars in ihrer ganzen Karriere.
Diese Einführungsgeschichte über Rhythm & Blues und Soul der 50er und 60er Jahre ist natürlich nur skizzenhaft, es müßten Hunderte, ja Tausende weitere Sänger/innen aufgeführt werden: Clarence Carter. Bobby Womack, Lou Rawls, die O’Jays, James Carr, Maxine Brown, Candi Staton, Gene Chandler. Little Johnny Taylor oder die Anekdoten um Labels wie Mercury in Chicago. Monument und Excello in Nashville. Ace in Jackson und Jewel in Shreveport — aber diese Story ist gedacht zum „Einsteigen“ in die Tiefen der Seele.
Soul — wenn ich da heute in den Verkaufsregalen großer Plattenläden Madonna und Simply Red stehen sehe, kann ich nur den Kopf schütteln. Soul — das ist auch nicht Janet Jackson. Whitney Houston. Freddie Jackson. Prince oder Run DMC. Das meine ich nicht mit dem schulmeisterlich erhobenen Zeigefinger, denn natürlich gibt es auch heute noch ein paar Nachwuchskünstler, die durchaus noch Seele in die Hi-Tech-Zeit bringen — Anita Baker etwa.
Leute wie Sam Cooke und Otis Redding wird es wohl kaum noch einmal geben — daß sie zeitlos und nicht altmodisch sind, zeigt das ständige Interesse an ihrer Musik. In den fiOer Jahren wurde Soul-Musik noch mit Händen und Herzen gemacht — das ist zu hören und vor allem immer noch zu fühlen.