Wieso Rock’n’Roll seit zehn Jahren im Sterben liegt
Es begann 2008, als klar war, dass die britische Class of ’05 nach ihrem Abschluss auf ein Zweitstudium verzichten würde. Zwar war Rock bis dahin immer mal wieder angezählt, doch er stand auch immer wieder auf. Jetzt aber scheint er endgültig ausgeknockt zu sein. Das hat, wie so viel Schlechtes in unserer Welt, mit Donald Trump zu tun. Auch.
Zum ersten Mal in der Geschichte der US-Charts wurde 2017 Rock als meistgekauftes Genre abgelöst. Einer Studie zufolge hatten zur Jahresmitte R’n’B und HipHop mit insgesamt 25,1 Prozent den größten Anteil am Konsumkuchen, gefolgt von Rock mit 23 Prozent. Zwar hält Rockmusik mit 40 Prozent den größten Anteil an reinen Albumverkäufen, doch die sich dahinter verbergenden tatsächlichen Verkaufszahlen sind seit Jahren stark rückläufig.
Streams repräsentieren unser Hörverhalten da wesentlich präziser: 29 Prozent der in den USA gestreamten Musik entstammt der „Black Music“. Das ist fast genauso viel wie die Prozentzahlen der folgenden Genres zusammen, Rock und Pop. Im Alltag sah man diese Entwicklung in den Billboard-Charts gespiegelt: Rockbands, die wir als kommerziell wie künstlerisch bedeutungsvoll erachten, stiegen zwar hoch ein, doch der jeweilige Absturz geriet noch weitaus spektakulärer. Ein paar Beispiele: Nach nur einer Woche auf Platz eins rutschten Arcade Fire mit EVERYTHING NOW bis auf Rang 38 ab. Die Nr.-1-Debütanten LCD Soundsystem und The Killers fanden sich in ihrer zweiten Woche auf Platz 56 bzw. 59 wieder. Den Vogel schossen Brand New ab: Für ihr SCIENCE FICTION ging es nach der Eins direkt auf Platz 97 – Rekord! Sogar ein Mainstream-Monstrum wie Bon Jovi musste einen Sinkflug von Eins auf 43 verkraften. Zum Jahresende hin kamen dann Meldungen, wonach Arcade Fire ihre US-Arenatour teils vor halbleeren Häusern spielten.
Selbstverständlich gibt es dennoch zahlreiche gitarrenbasierte Bands, die mühelos jedes sich anbietende Festival headlinen können. Doch gehen von den Foo Fighters eben keine neuen Impulse aus. Sie verwalten ihr Erbe und das ihrer sehr ähnlichen Vorgänger. Wenn man Bands, die Mitte der 90er-Jahre die großen Festivals anführten, wie Supertramp, Aerosmith und Van Halen, damals als Rockdinosaurier bezeichnete, dann sind Gruppen, die damals gegründet wurden und heute die großen Festivalbühnen bespielen, wie Green Day, Placebo und Muse, Dinos aus dem „Jurassic Park“ des Rock’n’Roll, ehrfürchtige Epigonen, gemein gesagt: kalkulierende Klone. Einziger Unterschied: Hier liegen keine Millionen Jahre dazwischen, sondern nur ein halbes Jahrhundert.
„Rockmusik“ wie wir sie kennen, kennen wir seit 50 Jahren
Die Beatles-Doku „It Was Fifty Years Ago Today“ führte uns das in diesem Jahr nochmals vor Augen: Von „Rockmusik“ spricht man erst seit 1967, die klassische Four-Piece-Rockband as we know it kennen wir erst seit 50 Jahren. Doch bereits 1971, woran uns wiederum Simon Reynolds in seiner 2017 auf Deutsch erschienenen Glamrock-Aufarbeitung „Shock And Awe“ erinnerte, hatte sich dieses Genre in endlosen Gitarrensoli und maskulinem Bluesgerocke verloren und musste mit einem Schuss (gespielter) Weiblichkeit, theatralischer Prä-Rock-Inszenierung und einer Rückbesinnung auf die Simplizität und Kompaktheit der 50er zurück-erneuert werden. Doch Glamrock war nur ein kurzer Funke, ein Lodern für den Flächenbrand Punk, der dem nach nur zehn Jahren schon sehr schwerfälligen Köter Rock Feuer unterm Hintern machte – indem er klassischen 50s-Rock einfach schneller und dreckiger spielte. Und selbst Punk blieb zwar als Ideologie bestehen, war aber bereits Ende 1977 ein Fall für Musikhistoriker.
Erstaunlich, wie übersichtlich die Ursuppe Rock letztlich ist und wie lange es gedauert hat, bis sie ausgelöffelt war
Grob vereinfacht bestanden die nächsten Revolutionen im Rock nur aus Revivals: Nirvana huldigten 1991 den Sex Pistols, Oasis und Blur kurz darauf den klassischen Gitarrenbands der 60s. 2001 beriefen sich die Strokes auf Television, die White Stripes auf Robert Johnson und The Sonics und kurz darauf näherten sich schon die Kaiser Chiefs Blur und die Libertines The Clash mit Pauspapier. Alle sie erzielten fraglos fantastische künstlerische und teils sogar soziokulturelle Ergebnisse. Aber im Zeitraffer erscheint es doch erstaunlich, wie übersichtlich die Ursuppe Rock letztlich ist und wie lange es gedauert hat, bis sie ausgelöffelt war.
Denn dem Rock’n’Roll ist sein wichtigstes, weil identitätsstiftendes Element abhandengekommen – das Leidenschaftlich-Zerstörerische.
Dieser Zeitpunkt lässt sich mit einiger Sicherheit auf das Jahr 2008 datieren. Zählt man großzügig noch das Vorjahr mit seiner abflauenden Welle von Zweitalben der britischen Post-Britpopper zu den relevanten Rockjahren, gab es spätestens ab 2008 keine massenwirksamen Ideen mehr aus dem Genre, keine Hypes, die sich bewahrheitet hätten. Doch der Tod der Rockmusik humpelte nicht nur auf einem Bein daher. Langsam, aber siegessicher kam er auf beiden Stelzen anmarschiert. Zum einen sehen wir hier also das Ende einer Kunstform, die musikalisch schlicht auserzählt scheint. Doch der entscheidende Sargnagel ist ein anderer. Er geht tief unter die Oberfläche des Kiss-Kasket, dorthin, wo der Rock-Köter begraben liegt: Denn dem Rock’n’Roll ist sein wichtigstes, weil identitätsstiftendes Element abhandengekommen – das Leidenschaftlich-Zerstörerische.
Der Tod ist jetzt eine zumindest gefühlte Alltagsbedrohung
Die Fantasie, mit Rockmusik die Welt aus den Angeln heben zu können, hat nur in einer Welt funktioniert, die sich nicht aus den Angeln heben lässt. Je mehr sie jedoch aus den Fugen gerät, desto mehr ist man gewillt, an ihr festzuhalten, sie zu reparieren. Das ist normaler Überlebensinstinkt. Ebenso wie Todessehnsucht und Suizidgedanken besonders unter Teenagern eine große Rolle spielen, weil der Tod so unendlich weit entfernt scheint. Wer insgeheim von seiner eigenen Unsterblichkeit überzeugt ist, neigt stärker zu selbstquälerischem Verhalten. Erst, wenn man älter wird, der Tod greifbar, gewinnt der Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören, an Reiz. Irgendwann setzt sich die Angst eben fest. Heute hat sie das auch ohne unser Alter getan. Der Tod ist zu einer zumindest gefühlten Alltagsbedrohung geworden. Das wird uns mit jedem immer zögerlicheren Blick in unsere Telefone bewusst. Die Zuständigkeiten haben gewechselt.
Eine Band wie Guns N’ Roses Ende der 80er als „the most dangerous band in the world“ zu vermarkten, ging nur glaubhaft angesichts einer adressierten Jugend, die weitgehend entpolitisiert war, sich einen Dreck für die grauen Eliten dort oben interessierte. Deren Job war es, die Welt zusammenzuhalten. Heute reißen sie sie auseinander. Die tatsächliche Machtlosigkeit ehemaliger Aufmischer wird so offensichtlich. Ozzy Osbourne kann keinen Atomkrieg auslösen. Wenn der einstige Skandalrocker Marilyn Manson, wie am 5. November im kalifornischen San Bernardino geschehen, in einem „Akt des Theaters“ die Knarre gegen sein Publikum richtet, weil Stunden zuvor 26 Menschen in und um eine texanische Dorfkirche erschossen wurden, dann verpufft der erhoffte Effekt. Ein Schockrocker kann in dieser Welt nicht mehr schocken, eine Rockband kann sie nicht mehr in Atem halten. David Bowie sah die Parallelen schon früh in seiner natürlich um Kontroversität bemühten Einschätzung damals konnten Popstars noch kontrovers sein, als er 1976 im „Playboy“ Hitler „den ersten Rockstar“ nannte und mit Mick Jagger verglich.
Trump erzeugt ein Echo wie es keinem Rockstar jemals möglich gewesen wäre
Ähnliches, ohne Trump gleich in eine Reihe mit Hitler stellen zu wollen, gab Sex Pistol Johnny Rotten im März dieses Jahres im US-Radio von sich. Donald Trump habe etwas in kürzester Zeit geschafft, woran Rotten selbst seit Jahren gescheitert war: Indem er sich „wie eine Katze unter Tauben“ aufführte, habe er erreicht, dass jeder Mensch wieder am politischen Geschehen teilnimmt. Daher habe Rotten die Hoffnung, dass aus dieser Situation letztlich etwas Gutes entstünde. Doch bevor das so weit sein kann, erzielt Trump mit jeder Kombination aus 140 beziehungsweise 280 Zeichen bei Twitter ein Echo, wie es wohl keinem Rockstar der Geschichte jemals möglich gewesen wäre. Liam Gallagher versucht es zumindest, und das gar nicht so erfolglos: In puncto Tonalität und Frequenz dem Präsidenten ähnlich, lanciert er unreflektiert Angriffe, meistens gegen Bruder Noel, den er doch nur zurückgewinnen will.
https://twitter.com/liamgallagher/status/735067036271947776?lang=de
Für sein Gestänkere wird er als „Don of social media“ gefeiert. Jeden Tweet beendete Gallagher mit Werbung für sein Album AS YOU WERE, das sich Anfang Oktober mit gewaltigen 103.000 verkauften Einheiten auf Platz eins der UK-Charts pflanzte. Aggro-Marketing mittels Penetrierung der Zielgruppe. Doch auch am anderen Ende des politischen Spektrums sind es eher alte Männer als junge Bands, die die Jugend elektrifizieren. Nach Bernie Sanders stieg 2017 Labour-Leader Jeremy Corbyn buchstäblich auf die Bühne: Am 20. Mai stellte der 68-Jährige quasi das Vorprogramm der Libertines beim britischen „Wirral Live“-Festival dar und riss die Menge mit einer Rede über soziale Gerechtigkeit mit. Nach der Wahl Anfang Juni konnte die Labourpartei 30 Mitglieder mehr als bisher ins Unterhaus schicken – ein Erfolg, der vor allem von jungen Wählern getragen wurde.
„Jeremy Corbyn hat eine Generation wachgerüttelt“, stellten die landläufig als derzeit größte Indie-Band des UK akzeptierten Wolf Alice fest und verglichen Corbyns Power mit der der „größten Indie-Band der Welt“. Corbyn revanchierte sich und warb für das Zweitwerk von Wolf Alice im Rennen gegen Shania Twain um Platz eins der Charts. So sieht das also aus: ein 71-Jähriger ist der aktuell größte Rebel without a cause außer seinem eigenen, ein 68-Jähriger Hoffnungsträger der jungen Generation. Nur sehen sie eben beide nicht wie Cooper oder Cobain aus. Mit veränderten Positionen hat sich auch der Look, die Symbolik geändert. Und ohne ästhetische Codes kommt keine Kultur aus.
Die Ära der Gitarrengötter ist vorbei
Das zentrale Sinnbild des Rock’n’Roll ist die E-Gitarre. Im Juni berichtete die „Washington Post“ ausführlich über ihren Niedergang. In den vergangenen zehn Jahren seien die Verkäufe von E-Gitarren in den USA um ein Drittel zurückgegangen, von 1,5 Millionen auf eine Million Exemplare. „Guitar Centre“, die dort größte Verkaufskette für Gitarren, rudert in 1,6 Milliarden Dollar Schulden. Auch die legendärsten beiden Hersteller, Gibson und Fender, sind verschuldet. Das im Januar abgesegnete CITES-Abkommen, das Auflagen und Verbote im Handel mit Produkten aus Rosenholz, dem unter Artenschutz stehenden beliebtesten Rohstoff aller Gitarrenbauer, verschärfte, hat sein Übriges zum Abstieg der Sechssaiter getan, ebenso die schlichte Sättigung des Markts: Warum eine neue Gitarre kaufen, wenn sich die der Rock-sozialisierten Eltern auch noch gut auf elf drehen lässt? Aber die Hauptursache liegt woanders: Wo keine Vorbilder, da keine Nachahmer, gerade nicht unter jungen, orientierungslosen und daher zum Fandasein neigenden Menschen. Die Ära der Gitarrengötter ist vorbei.
Die (E-)Gitarre hat ihren Sex-Appeal verloren
Zwar gibt es dank Bestseller-Klampfer wie Ed Sheeran mal einen temporären Peak im Absatz von Akustik-Gitarren zu verzeichnen. Zwar nannte der Geschäftsführer von Fender Taylor Swift „die einflussreichste Gitarristin seit Jahren“, weil tatsächlich vermehrt junge Mädchen Musikschulen wie die der „School Of Rock“-Kette besuchen, um ihrem Idol nachzueifern. Aber das sind Ausnahmeerscheinungen. Die (E-)Gitarre hat ihren Sex-Appeal verloren. Das lässt sich auch am gescheiterten Versuch ablesen, die Videospielreihe „Guitar Hero“, 2015 mit „Guitar Hero Live“ zu rebooten. Die Zahlen blieben, ebenso wie beim fast gleichzeitig veröffentlichten, größten Konkurrenzprodukt „Rock Band 4“ hinter den Erwartungen zurück. Ein guter Indikator dafür, was bei der Jugend zieht, ist immer auch die Werbung. Und so verwundert es nicht, dass eine Marke wie Levi’s, die mit lizenzierten Songs von etwa The Clash und Mogwai immer stark auf die Rock-Tradition der Blue-Jeans gepocht und noch 2015 mit den The Vaccines und Local Natives geworben hat, jetzt ankündigt, für ihre Sommerkollektion 2018 „von den Styles der B-Boys und Material Girls“ inspiriert zu sein. „Der Block Party Vibe bestimmt das Bild (…) ganz nach dem Motto ‚Hip-Hop-Hoorah‘“. Mit langen Haaren und schweißnassen Achseln verkauft man heute keine Klamotten mehr.
Zehn Jahre nach den letzten Rockzuckungen scheint ein Comeback des Genres unwahrscheinlicher denn je. Und so halten wir uns an Phänomenen wie Wanda fest, bis auch sie nur noch touren, wenn ihr erstes Album Jubiläum feiert. Vielleicht wird dann die Welt auch nicht mehr von fahrlässigen Irren regiert und vielleicht stellt sich dann wieder etwas Revolutionssehnsucht ein und vielleicht haut dann wieder genau die/ der Richtige in die Saiten und erzählt uns zum wieder mal letzten Mal von den Street Fighting Men, vom Teen Spirit und der zu bewerkstelligenden Anarchy. Rock in peace.