Wo ist da der Hit?
Elvis Presley, Michael Jackson, Britney Spears: Das klingt wie eine Liste von Leuten, die eine Menge großer Hits gesungen haben. In Wahrheit ist es aber eine Liste von Leuten, die eine Menge großer Hits nicht gesungen haben. Eine kleine Kulturgeschichte der verfassten Songs und verpassten Chancen.
Dieses Lied aus dem Radio. Das mit dem „One, two, three, drink“. Ist das nicht von der mit dem Miro Klose, von der, wie heißt sie noch gleich … Rihanna?
Nein, ist es nicht. Wäre es aber beinahe gewesen, sagt Sia Furler, und die muss es wissen, schließlich hat sie das Lied geschrieben. Die Australierin hat auch viele andere von diesen Dreieinhalbminuten-Dingern geschrieben, die einem so seltsam vertraut vorkommen, ohne dass man sagen könnte, woher und warum. „Normalerweise denke ich mir: Oh, das hier könnte zu Rihanna passen, oder: Das hier wäre gut für B oder Katy“, erklärte Furler unlängst dem Radiomoderator Ryan Seacrest ihre Arbeitsweise. Sie schreibt mit bestimmten Sängerinnen im Kopf. Diesmal aber sang sie ihren Song selbst ein – und landete damit einen weltweiten Hit. „Chandelier“ war in allen wichtigen Popmärkten der Welt in den Top 20, in Frankreich sogar auf Platz eins.
Man muss dazusagen: Das „B“ aus dem Zitat oben steht für Beyoncé Knowles, und „Katy“ ist Katy Perry. Furler hat mit beiden gearbeitet. Auch Rihannas wundervolles „Diamonds“, an das „Chandelier“ in manchen Momenten so frappierend erinnert, hat sie sich ausgedacht, gemeinsam mit den Produzenten Benny Blanco und StarGate. So läuft das in dieser Liga meistens ab: Leute wie Furler und Blanco schreiben, Leute wie „B“ oder „RiRi“ picken, wie man in der Branche sagt, und heimsen den Ruhm ein. In diesem Fall aber kam man einfach nicht zusammen. Dabei haben gerade Rihanna und ihr Team es in der Kunst des Pickens zu wahrer Meisterschaft gebracht. Regelmäßig fischen sie das Prachtexemplar der Saison aus dem Haifischbecken der Hithändler und -sammler. In diesem Kampf sind sie mittlerweile in einer exzellenten Position: Jeder Songwriter sieht sein Stück am allerliebsten bei Rihanna, weil das einen fast sicheren Hit bringt, maximale Aufmerksamkeit und die entsprechenden Folgeaufträge. So hat die Selfie-Königin aus Barbados stets privilegierten Zugang zum besten Material, was wiederum ihre Sonderstellung weiter festigt. Perpetuum Pop.
„Hits für andere Künstler zu schreiben hat nichts Anrüchiges. Warum auch: Von einem Jongleur verlangt schließlich auch keiner, dass er sich seine Keulen selbst schnitzt.“
Das war nicht immer so. Oft war auch Rihanna schlicht darauf angewiesen, dass ihre Kolleginnen einen todsicheren Hit nicht erkannten. „We Found Love“ zum Beispiel, ihre bis heute erfolgreichste Single überhaupt, war ursprünglich für Nicole Scherzinger von den Pussycat Dolls gedacht. Die bekam das Demo 2010 von ihrem Label zugesandt, zusammen mit einigen anderen Dance-Tracks. Sie skippte durch das Material, vermochte aber bei all dem „Uffz-uffz-uffz“ nicht die Magie herauszuhören. „Ich dachte mir: Ach, es gibt so viel Dance-Kram, und ich will ohnehin weniger davon machen.“ Sie lehnte ab. „Meine Schuld.“
Auch Leona Lewis hatte das Demo des schottischen Bumstechno-Produzenten Calvin Harris nach eigenem Bekunden einmal auf dem Tisch liegen, bevor es schließlich bei Rihanna landete. Ähnliche Geschichten gibt es zu „S.O.S.“ und zu „Umbrella“ – beides Nummer-eins-Hits, bei denen in der Rückschau jeder Stammtisch-A&R lästert, solches Potenzial hätte man ja wohl im Tiefschlaf erkennen müssen.
In Wahrheit verhält es sich mit diesen Dingen wie mit Elfmetern beim Fußball. Ist eine vergleichsweise sichere Nummer, sieht im Fernsehen aber doch leichter aus, als es letztlich ist. Außerdem können auch Vollprofis mal danebenliegen. Britney Spears zum Beispiel, deren Beraterstab nun wahrlich erwiesenermaßen ein Ohr für schmissige Schlager hat, wollte Lady Gagas „Telephone“ nicht, weil man den Hit nicht heraushörte. Im Gegenzug konnte Britney aber „…Baby One More Time“ abgreifen (das TLC nicht wollten, weil es ihnen zu kindisch war), „I’m A Slave 4 U“ (das Janet Jackson und Jennifer Lopez nicht wollten, weil es ihnen zu wenig kindisch war) und „Toxic“ (das Kylie Minogue nicht wollte, weil – ja, man weiß es nicht so genau). So gleicht sich im Leben manches aus. Gern erzählt man sich auch von Diane Warren, die „Un-Break My Heart“ für Céline Dion schrieb und „Because You Loved Me“ für Toni Braxton. Der Ausgang dieser Geschichte wird jedem, der sich in den vergangenen 20 Jahren zumindest zeitweise für Engtanz mit optionalem Zungenkuss interessiert hat, bekannt sein. Apropos Diane Warren: Ihre Powerpop-Preziose „I Don’t Want To Miss A Thing“ war ursprünglich ebenfalls für Céline Dion bestimmt. Man muss kein Aerosmith-Ultra sein, um zu sagen: Manchmal ist es ganz beruhigend zu wissen, was einem so entgangen ist.