Young Urban Professional


Seit ihrem Hit "Fallin" gilt Alicia Keys auf beiden Seiten des Atlantik als größte Hoffnung des neuen Soul. Der ehrgeizigen New Yorkerin ist das aber nicht genug.

Wer ihr einmal begegnet, dürfte sie so schnell nicht vergessen. Wegen ihrer eigenwilligen Outfits.wegen ihres klassisch schönen Gesichts, vor allem aber wegen ihrer für eine 22-jährige unglaublichen Aura. Betritt Alicia Keys einen Raum voller Menschen steht sie augenblicklich im Mittelpunkt des Geschehens und scheint Stimmung und Vibe nach Belieben dirigieren zu können. Eine junge Frau, die vor Selbstbewusstsein, Stärke und positiver Attitüde nur so strotzt. Kein Wunder: Seit fast zwei Jahren schwebt Alicia auf einer erstaunlichen Erfolgswelle, wird mit Auszeichnungen und Lobeshymnen überschüttet, ziert quer über den Globus Titelbilder und wird ganz ernsthaft als größtes Talent gehandelt, das die black music seit einer Dekade hervorgebracht hat.“.Sehr schmeichelhaft, oder?“, kokettiert Alicia grinsend.“.Natürlich ist es toll, mit solchen Komplimenten überhäuft zu werden, dos tut gut. Gleichzeitig nehme ich sowas aber nicht allzu ernst. Ich weif), wo ich stehe, nämlich noch ganz am Anfang und ich weiß auch, dass ich mir die

ganzen Lorbeeren erst noch verdienen muss. Ich darf mir dabei keine Schwächen leisten, und deswegen arbeite ich härter als jemals zuvor.“

Diese nüchtern professionelle Einsteilung ist bei der New Yorkerin nachweislich nicht nur Pose, und setzt sie von vielen Kollegen aus HipHop, R’n’B und Soul ab. Denn Alicia Cook, wie sie eigentlich heißt, lebt trotz weltweit über 10 Millionen verkaufter Alben nicht in Saus und Braus, hat kein Luxus-Apartment am Central-Park oder auf Long Island, und schlürft auch nicht allabendlich auf Parties mit Puffy, Jay-Z oder den Strokes Schampus.“.Ich habe kein großes Verlangen, mich in diesen Kreisen zu bewegen „, so Alicia beim ME-Interview im New Yorker Chambers Hotel. .Nicht, weil ich etwas gegen Puffy hätte, sondern weil das nicht meine Art ist. Ich bin eher der häusliche Typ, der möglichst viel Zeit mit sich selbst verbringt und sich nur mit Menschen trifft, die mir wirklich etwas bedeuten.“ Deswegen ist sie -für vermögende New Yorker äußerst untypisch – unlängst nach Queens gezogen. Ins tiefste, kleinbürgerliche Suburbia, wo sie ein Haus mit Garten und Tonstudio bewohnt, unauffällig und bodenständig. „Das ist alles, was ich immer wollte. Eben mein eigenes kleines Reich, in dem ich machen kann, was ich will. Wo ich mich nicht mit dem Vermieter rumschlagen oder auf die Nachbarn achten muss. Denn ich nehme schon mal um drei oder vier Uhr morgens Songs auf, und musste mich früher immer mit wütenden, aufgebrachten Menschen auseinandersetzen, die ich aus dem Schlaf gerissen höbe.“ Damit spielt Alicia auf die Aufnahmen zu songs in a-minor an, die größtenteils in einem winzigen Apartment im New Yorker Stadtteil Harlem stattfanden. Mit altem Equipment und in der Ungewissheit, ob die Tracks überhaupt je erscheinen würden. Denn ehe Alicia im Sommer 2001 der Ohrwurm“.Fallin'“ und damit der Startschuss zu einem regelrechten Triumphzug gelang, hatte die Tochter eines schwarzen Flugbegleiters und einer weißen Sängerin bereits eine klassische Klavier- und Tanzausbildung absolviert, in einer R’n’B-Group namens Embishion gesungen und sich als Solistin mit hochdatiertem Major-Vertrag versucht. Doch der vermeintliche Glücksfall erwies sich als Falle. Die A&R-Leute bei Columbia Records wollten Alicia als sexy Hupfdohle, die zu programmierten Beats von der Stange trällert, aber nicht ihre eigenen Songs schreibt, geschweige denn sie selbst produziert. Ein Potenzial, das erst Plattenpabst Clive Davis erkannte. Er vermarktete die damals 20-Jährige von Beginn an als künstlerisch ernst zu nehmender Gegentypus zu den Pop-Marionetten von N’Sync bis Britney.

„Natürlich ist Clive gerissen. Er ist ein Geschäftsmann, der ganz genau weif), wie und wo man ein Produkt platziert. Aber er hat mir eine Chance gegeben, die ich sonst nirgendwo bekommen hätte. Nur hat er mich nicht nach seinen Vorstellungen erschaffen – ich bin ich, mit meiner eigenen Musik. Ich lasse mich von niemandem lenken, und das hat Clive auch nie probiert. Er hat zwar öfter gefragt, wie ich klarkomme, aber er hat mich nie unter Druck gesetzt oder mir irgendwelche Vorgaben gemacht. „

Offenbar auch nicht beim neuen Album the diary of alicia keys, das nicht nur ohne zweites „Fallin“ auskommt, sondern auf dem sich Keys offenkundig bemüht, den bisherigen Rahmen zu sprengen, eigene Grenzen auszuloten und bestehende Erwartungshaltungen auszuhebein. Aber eben nicht durch eine 180-Grad-Wandlung, durch kommerzielle Totalverweigerung oder eine radikale Selbsterneuerung. Experimente, mit denen andere Schnellstarter schon beim Publikum durchgefallen sind. Alicia ist klüger – sie dosiert ihre Neuerungen. Eben, in dem sie auch weiterhin gefühlvolle, klaviergestützte Midtempo-Songs bringt, aber hier und da auch mal ein Sample von Notorious BIGs „Warnin“ einstreut (in „If I Was Your Woman“) oder mit „Streets Of NY“ gleich einen lupenreinen HipHop-Track auffährt. Ihre bislang stärkste Annäherung an ihr heimliches Steckenpferd, mit dem sie schon seit Jahren flirtet, an das sie sich bislang aber allenfalls in Form von Kollaborationen mit Susta Rhymes oder Eve [..Gangster Love“) wagte – nur um jetzt alles auf eine Karte zu setzen und richtig old school zu klingen – mit schweren, harten Rhythmen und wütenden Raps, zu denen auch die Szene-Größen Nas und Rakim beitrugen. Künstler, mit denen sie schon immer ins Studio wollte.“.Das Problem war nur, dass sie einen so verrückten Terminplan haben und es auch sonst sehr schwer ist, an sie heranzukommen. Aber als sie das Stück hörten, waren sie so begeistert, doss es dann doch ganz problemlos ging. Das warmitdas Highlight meiner Karriere.“ Eines allerdings, das fast nicht auf dem Album getandet wäre, denn der Track, der Alicia Keys‘ Erinnerungen an eine Kindheit im Drogen- und Rotlicht-Viertel „Hell’s Kitchen“ aufarbeitet, läuft bereits seit Wochen im Internet und College-Radio: als Raubkopie.“.Einerseits ist es traurig, dass so etwas passiert, andererseits ist es aber auch ein guter Publicity-Gag“, seufzt Alicia.“.Es zeigt den Leuten eine unbekannte Seite von mir. Und sie hören noch genauer hin, weil sie glauben, dass es etwas Illegales ist.“

Wobei die stärkste Seite der 22-Jährigen immer noch ihre authentische Interpretation des klassischen Tamla-Motown-Soulist. Nachzuhören auf der ersten Single „You Don’t Know My Name‘, einer Hommage an Marvin Gaye, Stevie Wonder und Areths Franklin. Eine elegante Ballade mit Feel-Good-Vibe, die nach Soul Train, nach black power und den glorreichen Sixties schmeckt – und in der Alicia sexuelle Fantasien inszeniert:“.Es passiert öfter, dass ich Leute beobachte, die mich interessieren. Dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn wir zusammen ausgehen. Dos sind kleine mentale Spielchen.“ Und die habe keiner besser beherrscht, als der große Marvin. der Zeit seines kurzen Lebens zwischen tiefer Gottesfürchtigkeit und wüsten Exzessen pendelte – und darüber Klassiker wie“.Whafs Going On?“oder „I Heard It Through The Grapevine“ schrieb. „Dos war das die kreativste Phase der Popgeschichte die Mittsechziger bis Mittsiebziger. Ich liebe die Originalität und Kreativität dieser Zeit, und ich lebe regelrecht darin. Deshalb schimmert sie auch bei mir immer wieder durch.“ Und zwar so stark und überzeugend, dass inzwischen selbst Altmeister Quincy Jones bei ihr angeklopft hat, um sie für sein nächstes Album zu verpflichten. „Er ist mein Idol – ein Mann, der mich unglaublich beeinflusst hat, der mit so tollen Leuten wie Frank Sinatra, Sam Cooke oderAretha Franklin gearbeitet hat Von ihm eingeladen zu werden, ist eine Sache, die nur einmal im Leben passiert, und hoffentlich klappt es so, wie ich mir das vorstelle.“

Aus diesen Worten spricht ein gehöriges Maß an Ehrgeiz, und den zeigt Frau Cook alias Keys auch sonst. Sei es als Aids-Aktivistin, die die Preispolitik der Pharmaindustrie kritisiert [..richtige Verbrecher“], als Schauspielerin in spe [..Ich warte nur auf ein vernünftiges Drehbuch“] oder als Chefin ihrer eigenen Produktionsgesellschaft Crucial Keys. Mit der bemüht sie sich um die Förderung von neuen Talenten, die sie schrittweise an eine Musikerkarriere heranführt {..Damit es ihnen beim Start besser ergeht als mir“], Übernimmtaberauch Auftragsarbeiten für prominente Kollegen wie Christina Aguilera. Der schrieb Alicia im letzten Jahr das Stück „Impossible“ auf den Leib – und schlüpfte zugleich in die Rolle des Produzenten. „Ich finde es spannend, mit anderen Künstlern zu arbeiten. Das hilft mir, mein eigenes Spektrum zu erweitern und zu sehen, wie gut ich mit anderen Leuten kommuniziere. “ Daran hat sie nach eigenem Bekunden so viel Spaß, dass sie auf eine baldige Fortsetzung hofft. Auf ihrer Wunschliste stehen Kandidaten wie Prince, Gwen Stefani, Lauryn Hill, Stevie Wonder oder die Queens Of The Stone Age.“.Ich will ein paar richtig verrückte Sachen machen „, grinst sie. „Darin sehe ich meine Berufung: So kreativ zu sein, wie ich nur kann. Ich will, dass sich die Leute auch in 20 Jahren an mich erinnern und dass meine Musik immer noch zeitgemäß klingt. Ist das anmaßend?“ >>>

www.aliciakeys.net —