Zeit für Wunder


Warum ist die Rockgruppe Slut nach der „Dreigroschenoper nicht zur Gitarrenband- Routine zurückgekehrt? Nun, die Musik selbst wollte es einfach anders.

Diese kleine, feine Indiekapelle aus dem Oberbayerischen war auf dem besten Wege, „eine von diesen Bands“ zu werden. Sie wissen schon: die immer überall spielen, gegen die keiner was hat, die man sich ganz gerne nachmittags um fünf im Festivalzelt anschaut. Weil sie nett sind und ordentliche Musik machen. Ihre neuen Platten braucht man aber nicht unbedingt. Dann passierte die Sache mit der „Dreigroschenoper“. Es ist einiges geschrieben worden über Sluts Ausflug ins seriöse Fach. Die tollsten Effekte der im Ingolstädter Theater aufgeführten und teilweise auf einer EP festgehaltenen Brecht/ Weill-Interpretation treten aber erst jetzt zutage. Und wenn ein Wunder etwas ist, dessen Zustandekommen man sich zwar nicht erklären kann, das einem aber in jeder Hinsicht neue Wege eröffnet, dann waren die letzten anderthalb Jahre für Slut eine Zeit vermehrt auftretender Wunder.

Wunder Nummer eins ist inzwischen 15 Monate alt und lernt langsam sprechen. Die Kindsmutter und heutige Frau von Slut-Schlagzeuger Matthias Neuburger war eine der Tänzerinnen am Ingolstädter Theater. Eine weitere Tänzerin heiratete einen langjährigen Freund der Band, auch dieses Paar hat bereits Nachwuchs. Es gibt also jetzt, wie Matthias Neuburger kalauert, „zwei Dreigroschen-Opas“.

Und dann ist da natürlich das sechste Slut-Studioalbum, stillnoi. Will man ihren Beteuerungen glauben, so ereilte die neue Musik die Uraltfreunde absolut unvorbereitet, sie erfüllt also per Definition die wichtigste Vorraussetzung an ein Wunder. Durch die disziplinierte Theaterarbeit habe sich „ein wahnsinniger Druck aufgebaut, endlich wieder was Eigenes zu machen“, erzählt der zweite Neuburger der Band, Sänger Christian, den alle nur Chris nennen und der allein durch seinen Vollbart inzwischen irgendwie reifer wirkt. Als dieser Druck sich bei den ersten Sessions zur neuen Platte, unmittelbar nach der letzten Theateraufführung, entlud, seien unerklärliche Dinge passiert. „Wir haben uns gegenseitig in völlig neue und unerwartete Richtungen getrieben“, berichtet Chris Neuburger mit glänzenden Augen. „Bei früheren Alben ist immer einer vorgeprescht und hat – teilweise viel zu früh -Dinge festgezurrt. Diesmal hat uns die Musik quasi gesagt, wie sie klingen muss, und wir sind da nur noch hinterhergehechelt. Abends hat jeder für sich die Ergebnisse des Tages zu Hause angehört und gedacht: Ich versteh gerade nicht, wo das herkommt, und irgendwie will ich es auch nicht verstehen, aber: So ein Lied ist uns noch nie gelungen.“

Ein paar Namen – nicht um Plagiatsvorwürfe zu erheben, sondern um die Entwicklung zu verdeutlichen, die da mit der grundanständigen Schrammelband Slut vonstatten gegangen ist: The Smiths, Manic Street Preachers, Sigur Ros, Coldplay in ihren besseren Momenten, still no 1 ist ein kraftvolles, schwelgerisches, nahezu verschwenderisch instrumentiertes und sehr britisches Werk geworden. Es verbindet den Experimentiergeist von lookbook (2001) mit der Vitalität anderer Slut-Alben, ist aber insgesamt bündiger und ausgefeilter als seine Vorgänger. Man könnte diese Platte auch für überladen und selbstgefällig halten – wenn sie nicht so gut wäre.

„Wir haben nur die Zutaten, die wir seit jeher zur Verfügung hatten, so zum Klingen gebracht, wie wir wollten“, sagt Chris. Es wird der einzige bescheidene Satz bleiben. Im Interview schrammen die Musiker mehrfach haarscharf an der Grenze zur Überheblichkeit entlang. Aber das ist okay. Weil man ihnen den Glauben an ihre Musik abnimmt. Und den Stolz. Selbstverständlich ist das freilich nicht, dass eine Band auch nach so langer Zeit noch einen so großen Sprung hinlegt, ohne dass einer auf der Strecke bleibt. Und so erzählen die neuen Songs auch von der großen Freundschaft der fünf Musiker. Bis auf den nach München gezogenen Gitarristen Rainer Schaller wohnen sie nach wie vor nah beieinander in Ingolstadt. Hier synchronisieren sie sich, hier entsteht ihr Werk. Allerdings wurde still no 1 nach einem missglückten Versuch in Hamburg (siehe: ME 11/07) schließlich in Berlin aufgenommen.

Gab es nie die Überlegung, Ingolstadt den Rücken zu kehren?

rene arbeithuber: Bis zur „Dreigroschenoper“ nicht, aber seitdem. Ich würde gerne noch mal woanders hingehen, bevor ich alt werde. Wo man mehr Input kriegt, wo mehr passiert. chris neuburger: Vorsicht! Ingolstadt ist schon spitze. Gerade wir dürfen uns da nicht beschweren, weil wir dieser Stadt Dank schulden. rene: Für unsere Unzufriedenheit? chris: Vielleicht. Aber auch für viele Songs. Ich will keine Lanze für Ingolstadt brechen, aber die Stadt ist ein Role Model für aktuelle Entwicklungen. Das boomt wie China, nur im Kleinen. Diese ganze Durchökonomisierung kannst du leibhaftig studieren, wenn du nur auf die Straße gehst und einen Kaffee trinkst. Wir müssen uns eingestehen, dass wir dieses Umfeld auch für uns nutzen. Wenn wir in Berlin wohnen würden, hätte es diese Platte vielleicht gar nicht gegeben. Weil wir uns dort bewegen könnten wie ein Fisch im Wasser. Wir würden vielleicht ein Gefühl verlieren, das für diese Band sehr wichtig ist. Und da bin ich noch nicht bereit dazu. Matthias neuburger: Aber dieser Punkt kommt sicher mal.

Das hat ja fast etwas Masochistisches, wenn man zugunsten der Kunst auf Lebensqualität zu verzichten bereit ist.

Matthias: (nickt zustimmend) chris: Worauf diese Platte hinauswill, ist ein reflektierter Optimismus und kein konstruierter Dekonstruktivismus. Wir sind nicht .gekommen, um uns zu beschweren“. Wir liefern zwar nicht den theoretischen Überbau zu einer Weltrevolution, aber einige Ansätze, wie man es besser machen kann.

Da bewegt man sich aber auf dünnem Eis. Inwiefern man sich anmaßt, als Rockmusiker in solchen Fragen Lebenshilfen geben zu können …

Matthias: Aber muss nicht gerade heute ein Wort wie „Anmaßung“ seinen negativen Touch verlieren, da es eben notwendig ist, Stellung zu beziehen?

Ein schmaler Grat. Einerseits gibt es ja die Freiheit der Kunst, Missstände anzuprangern, ohne Alternativen aufzeigen zu müssen, und auf der anderen Seite wird man hierzulande schnell als „Gutmensch“ verschrien, wenn man sich zu eindeutig positioniert.

chris: Es gibt eine Schere in Deutschland. Auf der einen Seite die Gute-Laune-Fraktion, und dann die anderen, die alles ganz schlimm finden und ständig lamentieren. Dazwischen passiert relativ wenig. Das heißt nicht, dass wir diesen Zwischenraum ausfüllen. Aber ich bilde mir schon ein, dass wir uns in ihm bewegen. Wir setzen uns mit den Dingen nachhaltig auseinander. Wenn ich unsere alten Lieder noch mal höre, erkenne ich musikalische und produktionstechnische Mängel, aber niemals textliche.

Was vielleicht auch noch gesagt werden muss: Über zehn Jahre nach dem Debüt for exercise and amosement, drei Jahre nach dem Auftritt beim Bundesvision Song Contest und etwas über ein Jahr nach der „Dreigroschenoper“ sind die Mitglieder der mit einem Major-Plartenvertrag ausgestatteten, beliebten und seit Jahren im Zentrum der Berichterstattung einschlägiger Magazine stehenden Rockgruppe Slut in ihrer Parallelexistenz immer noch: Chris Neuburger, der Architekt – Gerd Rosenacker, der Journalist – Matthias Neuburger, der Fahrradladenbesitzer – Rene Arbeithuber, der Künstler und Grafiker – Rainer Schaller, der Film-/Theatermusiker. Vielleicht sind sie das sogar gerne, aber dass eine auf mittlerem Level erfolgreiche Band wie Slut nicht von ihrer Musik leben kann, hat sicher nicht nur mit der Krise der Tonträgerindustrie zu tun. Es sagt vielmehr einiges aus über die Art, wie in Deutschland Kulturfördermittel verteilt werden. Da müsste auch mal noch ein Wunder passieren.

»>www.slut-music.de —