Zuerst Hawaii Dann Die Ganzen Staaten


Mit ihrem dritten Album wollen Billy Talent auch den Rest der Welt erobern. Dabei gibt es ein Problem: In den USA kennt sie kein Schwein, und auch zu Hause wird Gitarrist Ian D'Sa irrtümlich für den Barkeeper gehalten - wenn auch für einen guten.

Die größte Stadt Kanadas zeigt sich ausnahmsweise von ihrer Schokoladenseite: keine Schneewände, Tornados oder Eishockeyspiele und gerade auch kein Celine-Dion-Konzert in Toronto. Jedoch findet unsere Zusammenkunft mit Sänger Benjamin Kowalewicz und Gitarrist lan D’Sa von Billy Talent im Rahmen eines für gewöhnlich grausamen local press day statt. Dabei stehen ausschließlich Tageszeitungen, regionale Radiosender und der VIVA-Verschnitt „Much Music“ auf der Liste der Fragensteller-und d le fragen durchaus nach der Lieblingsfarbe oder der bevorzugten Smoothie-Geschmacksrichtung der zu Löchernden. Dazwischen müssen Benjamin und lan immer wieder sich selbst oder eines ihrer Musikvideos anmoderieren und den Namen verschiedener Sendeformate preisen. Ein Musikeralbtraum, der sich in einem schäbigen Hotel in Downtown abspielt und nur mit ein paar eisgekühlten Drinks an der Bar zu verarbeiten ist. „Das Schlimme ist: Ich habe mir früher selbst solche Fragen ausgedacht“, sagt Benjamin, genannt Ben. „Als ich nochbeil02.1 The Edge gejobbt und die Sendung für Alan Cross vorbereitet habe. Ein DJ, dem es scheißegal ist, welche Band vor ihm sitzt – Hauptsache, es ist witzige Unterhaltung. Und da wir sehr viele junge Fans haben, die genau solche Sendungen verfolgen, können wir diese leider nicht ignorieren.“

Mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren sind Ben & Co. deutlich älter als ihre Anhänger und nach 16 gemeinsamen Jahren auch etwas anspruchsvoller als die gemeine Rockkapelle, die gerade ein drittes Album vorlegt. „Das ist schon ein kleines Problem … Dass wir versuchen, uns weiterzuentwickeln. Einfach, weil wir aufgrund unseres Erfolgs ja die Möglichkeit dazu haben.“ Was sich nicht zuletzt in der Distanzierung von der sogenannten Emo-Szene äußert, der sich die vier genauso wenig zugehörig fühlen wie viele andere, vor allem die erfolgreichen Bands, die dazugerechnet werden: 30 Seconds To Mars, Fall Out Boy, My Chemical Romance, The Used usw. .Wenn ich das

Wort Emo höre, könnte ich kotzen“, sagt Ben. „Das ist ein völlig nichtssagender Begriff. Schließlich ist Rockmusik immer irgendwie emotional. Und nur weil wir schwarze Klamotten tragen, gehören wir nicht irgendeiner Sekte an. Das ist doch Blödsinn.“

Weshalb sich Billy Talent auf III, das eigentlich schon ihr viertes Album ist (das erste erschien unter dem Bandnamen Pezz), klar vernehmlich um Abgrenzung bemühen. Mit richtiggehendem Stadionrock, dessen Gitarrenriffs das neue musikalische Terrain des Vierers abstecken: Hier die Salven von Tom Morello (Rage Against The Maschine), da der Doom von Tony Iommi (Black Sabbath), dazu die Ekstatik von Kim Thayil (Soundgarden). „Das sind die Sachen, die wir privat hören“, erzählt Ben. „In letzter Zeit war es vor allem Grunge. Platten, die wir ah Kids regelrecht verschlungen und jetzt wiederentdeckt haben. Mann, ich kann gar nicht sagen, wie ich mich auf das Comeback von Alice In Chains freue … oder auch auf die neue Pearl Jam!“

Bis es so weit ist, füllen Billy Talent das Sommerloch mit selbst gemachtem Rock, haben dafür eigens Brendan O’Brien, den Produzenten ihrer Jugendidole wie Pearl Jam, Stone Temple Pilots, Rage Against The Machine (aber u. a. auch von Bruce Springsteen, AC/DC, Mastodon), verpflichtet und zeigen sich auch lyrisch ambiüoniert. Etwa in Songs, die sich mit ihrem eigenen, komplexen Leben als Thirtysomethings befassen – über das die Öffentlichkeit kaum etwas weiß. Das soll auch so bleiben. Die Herren sind grundsolide, wohnen in bunten Holzhäusern, sind allesamt in festen Händen, haben teilweise (wie Drummer Aaron Solowoniuk) Kinder und wissen sehr genau, was sie darin zu verlieren haben: “ In meinem Bekanntenkreis haben sich viele Paare getrennt, und das einfach so nachdem sie lange unzertrennlich schienen. Bei so einer Scheidung verlierst du dein Geld, deine Wohnung und den Großteil deiner Freunde. Du stehst mit Mitte30 quasivor dem Nichts.“ Ein Thema, das die Single „Rusted From The Rain“ autgreift. Diese Existenzängste vertreibt Gitarrist Jan D’Sa im Nu. Der gebürtige Brite mit der Elvis-Tolle hat gerade die letzte Frage eines TV-Journalisten beantwortet, gesellt sich für ein Bier zu uns und beginnt umgehend, von seinem Rockmusikerleben zu schwärmen. Die letzten sechs Jahre: ein Traum. Den stressigen Job als Animationsgrafiker hat er aufgegeben, dafür Rock’n’Roll-Freundschaften mit Dave Grohl, Chris Cornell und Alex Lifeson (Rush) geschlossen und als Produzent für Die Mannequin und Sarah Slean gearbeitet. „Mein Leben ist superspannend“, sagt er. „Und das nur, weil wir nach all den Jahren noch die Kurve bekommen haben und anscheinend etwas wirklich Gutes machen – sonst würde es ja nicht so vielen Leuten gefallen.“

Den USA jedoch ist das egal. Dort sind Billy Talent immer noch ein Insidertipp, tingeln durch kleine Clubs, werden kaum wahrgenommen. „Keine Ahnung, woran das hegt“, sagt Ian und zuckt mit den Schuhern. „Aber wir werden es weiter versuchen. Bis wir Erfolg haben. So haben wir es ja auch in Deutschland geschafft, und warum sollte das woanders nicht funktionieren?“ Weshalb sie als Nächstes sechs Wochen durch die Vereinigten Staaten touren-als Support von Rancid und Rise Against: „Das wird anstrengend, allein die ewigen Busfahrten. Aber hey, Rancid gehören zu unseren Idolen, und ich freue mich sehr, sie kennenzulernen.“

Zudem hat Ian ein neues Hobby, das er unterwegs zu verfeinern gedenkt – die Entwicklung exotischer Cocktails. Seine neueste Kreation: der D’Sauce. „Ein Schuss Wodka, anderthalb Schuss Malibu-Rum, dann Ananassaft, ein bisschen Fruit Punch und eine Menge Eis. Das Ganze in den Mixer, kräftig schütteln, und schon hast du einen richtig guten Sommerdrink. Schmeckt, als würdest du Urlaub auf Hawaii machen.“

Spricht’s und mixt. Vor den Augen des verblüfften Barkeepers (der sich das Rezept gleich notiert) und einer Reihe japanischer Touristen. Fertig – Gratisrunde für alle! Toronto, Emo, der local press day schnell ist all das sehr weit weg. Wir träumen von Hawaii. Und Ian und Ben ein bisschen auch von den anderen 49 Staaten. www.billytalent.com