Zwanzig Jahre übernächtigt


Zwei Dekaden Finsternis zehren an den Kräften. Robert Smith hat dunkle Säcke unter den Augen, das stärkste Cure-Album seit zehn Jahren in der Tasche und zieht Montagnacht mit ME/Sounds durch Hamburg.

Aus dem Schädel von Robert Smith spriesst Gestrüpp. Zwei Jahrzehnte lang hat dieser Mann sein Haupthaar malträtiert, mit Leidenschaft und Liebe, mit Sorgfalt und Besessenheit. Den „rituellen Aspekt“ der gnadenlosen Haarfolter lernte er zu schätzen, wie er sagt. Abend für Abend gärtnerte er in Künstlergarderoben an seinem verwilderten Bewuchs. Dabei scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung das Ausmaß der Schäden in Grenzen zu halten. Je tiefer man allerdings zur Haut vorstößt, desto radikaler ändert sich die Landschaft: Knoten und Filzsträhnen drücken aus den Poren, ausgedörrte Stränge kämpfen um Licht, wo keines ist. Hier unten auf para-intelligente Lebensformen zu stoßen, scheint mindestens plausibel. Trotzdem: „Mein Haar ist heute gesünder als je zuvor“, meint Robert Smith mit zögernder Vorsicht. Vielleicht hat er diesen Satz ja aus der Werbung. Dennoch, er scheint behutsamer geworden zu sein. Ist kein Fotograf oder Publikum in Sicht, dann lässt er heute längst nicht mehr alles an sein Haar. Keinen Kamm, kein Wachs, kein Spray, nicht mal einen Schnitt. „Wenn ich auf einen Drink losziehe, dann versuche ich nicht, meine Haare extra runterzustriegeln, um möglichst unauffällig zu sein. Aber ich versuche auch nicht, sie aufzutoupieren, um damit besonders aufzufallen. Ich sehe einfach aus, wie ich aussehe“, erklärt er und beisst ein bisschen auf den Fingernägeln herum.

Es ist eine kalte und vor allem stille Nacht in Hamburg. Dienstag um drei Uhr morgens schlafen die meisten Hanseaten. In stoischer Ruhe schlurft Robert über den dunklen Asphalt. Er strahlt Gelassenheit aus. Für den Augenblick ist er zufrieden. Geduldig hat er zuvor im ausgestorbenen Restaurant des Hyatt-Hotels seinen Manager Daryl Bamonte, Promoterin Simone, den ME/Sounds-Abgesandten und zwei weitere Journalisten überredet, mit ihm zu dieser unchristlichen Stunde noch um die Häuser zu ziehen. Erster Anlaufpunkt ist die Bar des Atlantic-Hotels, ein stattlicher Fußmarsch. Wir biegen um eine Ecke nach der anderen, kreuzen schwach beleuchtete Strassen, und Robert kommt noch einmal auf das haarige Thema zurück. „Weißt du, ich hatte mal einen Haarschnitt“, sagt er ernst und bedeutsam, „einer meiner Neffen wird Friseur, und er hat vor ein paar Monaten an meinem Kopf geübt. Es war fantastisch, ziemlich schmal, die Haare standen überhaupt nicht ab. Ich hatte nur, na ja, ich hatte nur nicht den Mut, meiner Frau das noch mal zuzumuten.“ Er zögert, holt noch mal Luft, verfällt dann aber doch in Schweigen. Still marschieren wir weiter, bis es rausplatzt: „Wie bitte!? Deine Frau?“ „Meine Frau hasst mich mit einem kurzen Haarschnitt. Sie bestimmt genau die Länge. Es ist wirklich keine kreative, künstlerische oder image-motivierte Entscheidung, solche Haare zu haben. Glaub‘ mir, ich hab‘ auf diese Weise ein glücklicheres Privatleben – ich wäre saudumm, wenn ich meine Haare schneiden würde“, erläutert er und lacht. Nicht laut, nicht gelöst. Beim Sprechen der Worte „pretty fuckin‘ stu-u-upid“ krampft lediglich sein Zwerchfell ein wenig. An der Körperhaltung ändert sich nichts. Smith ist kein Freund von theatralischer Gestik. Der warm erleuchtete Eingang des Atlantic erscheint. Robert schwenkt ab und steuert vor uns über die Straße. Eigentlich gleitet er. Die Füße hebt er nur mühsame Millimeter über den Asphalt. Der linke Schuh vollendet jede Vorwärts-Schwingbewegung mit einem kleinen Hacken nach Innen. Die Arme hängen leblos rechts und links nach unten, die linke Schulter ist etwas hochgezogen. Das berühmte Rückenansicht-Motiv auf dem Cure-T-Shirt schuf Robert Smith wahrlich nach seinem Ebenbild.

Der freundliche Pförtner im Atlantic Hotel kennt keinen ¿ Robert Smith. „Tut mir Leid, unsere Bar ist schon geschlossen“, sagt er mit einer leichten Verbeugung, und wir stehen desillusioniert wieder auf der kalten Straße. Promoterin Simone will eigentlich bald heim, kennt aber Hamburg wie ihre Handtasche. Sie dolmetscht Robert ihre Idee, eine gehobene Bar am Alsterufer auszuprobieren. Er nickt, steht still im Hintergrund, wartet bis alles organisiert und ausgehandelt ist und befolgt dann brav die Anweisungen. Als wir bei CIU’S vorfahren, ist der Barkeeper gerade im Begriff, die Glastüre abzusperren, beeilt sich aber, die Schließrichtung zu ändern, als er einen berühmten verzottelten Rockstar auf sich zukommen sieht. Wir lassen uns an der langen, leeren Bar nieder, und Robert kann endlich eine Runde White Russians bestellen (seit „The Big Lebowski“ sein erklärtes Lieblingsgetränk). „Ich kann das einfach nicht fassen“, sagt er zu seinem Manager Daryl. Bereits im Taxi haben sich die beiden in ein Gespräch über ihre amerikanischen Geschäftskollegen bei der Plattenfirma vertieft. „Ich hab mich neulich mit dieser Frau getroffen, die in den LISA für mich zuständig ist. Die denkt wirklich, dass ich jetzt bald ‚alt genug‘ bin, Radiomusik zu machen. Die hat überhaupt nichts verstanden, gar nichts. Die denkt, dass ich aus meiner ‚Teenie-Band‘ The Cure bald rauswachse, um dann endlich Adult Contemporary zu produzieren“, sagt er kopfschüttelnd und starrt auf seine halbhohen Lederstiefelchen, die mit geschwungenen Metallschnallen wie antike Telemark-Skischuhe aussehen. Robert ist 40 und hat mit dem Ernst eines reifen Künstlers über die letzten Monate ein kraftvolles Cure-AJbum fertiggestellt – was ihm einiges abverlangt hat. „Wenn ich brutal ehrlich bin, dann war ‚Disintegration‘ das letzte gute Cure-AJbum. Diese Power wollte ich wieder haben, und deshalb musste sich die Band wieder und wieder ‚Pornography‘ und ‚Disintegration‘ anhören. Und es hat geklappt, „Bloodflowers“, die neue Platte, ist ein verdammt gutes Album, auf das ich stolz bin, aber es hat mich auch unglaublich viel Energie gekostet“, gibt Smith zu und erwartet zu Recht ein wenig Respekt. Adult Contemporary ist in Roberts Vokabular noch immer ein Schimpfwort. „Bloodflowers“ ist düster, geduldig, alt und enthält zum Entsetzen von Smiths Arbeitgebern keine gefälligen Airplay-Zugeständnisse ä la „The 13th“ und „Friday Im In Love“. Die Damen und Herren bei Polygram Records in London nehmen kein Blatt vor den Mund: Zu Roberts Belustigung bezeichnen sie „Bloodflowers“ als „kommerziellen Selbstmord“, eine Prognose, die bereits vor elf Jahren bei „Disintegration“ daneben ging. „Die sagen wieder genau das gleiche wie damals: Die LP sei das Schlechteste, was ich überhaupt hätte machen können“, erzählt Robert enttäuscht. Der Künstler ist anderer Meinung. Eine Orientierung am Mainstream hält er verständlicherweise für völlig verfehlt: „Menschen, die ‚Friday I’m In Love‘ mögen, sind eigentlich keine Cure-Fans. Das sind nicht die, die meine Platten kaufen. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Die mögen Sting und Phil Collins, weil sie denken, ‚Hey, das könnte Ich sein‘. Fans, die David Bowie oder mich mögen, denken, ‚Ich wünschte, ich könnte er sein'“, analysiert Smith ganz unbescheiden. Das Glas ist leer. Bald wird Robert die dritte Runde bestellen. Alle außer ihm werden bald zu lallen beginnen. Robert ist einiges gewöhnt. Ihm wird man kaum etwas anmerken. Seine Toleranzgrenze ist extrem hoch. Aber so richtig zu („bis zum Erbrechen“) knallt er sich heute nur noch zu Hause – wenn er allein ist. Und ertrinkt dabei nicht selten in Selbstmitleid. Klingt traurig. Doch Robert Smith grinst, als er davon erzählt.

Nach „Bloodflowers“ hat der Brite als Bandleader von The Cure seine Munition nun endgültig verschossen. Über zwanzig Jahre hat er ein düsteres Konzept verfolgt, hat humorlos und maskiert seine Alpträume und Depressionen vertont. Make-up, Hairstyle und Klangfarben mussten zwölf Alben lang kaum modifiziert werden. Entrückt und monoton hat der Angst-Messias das Kreuz getragen, das Leid von einer Heerschar schwarzgekleideter Gefolgsleute auf sich genommen. Song für Song, Album für Album mäanderten verhallte Gitarren dahin, wimmerte Smiths fragile Stimme in traurigen Bögen über schleppende Arrangements. Seine Band führte er mit schlurfendem Schritt, die in den 80er Jahren weltweit Kellerrelevanz besaß, und doch erst im letzten Jahrzehnt fast unbemerkt die großen Erfolge erzielte: die Auszeichnung „Best British Group“ bei den Brit Awards 1991, „Wish“ als das erfolgreichste Album der Karriere 1992, und 1995 der Platz als Headliner des bis dato größten Glastonbury-Festivals.

Für „Bloodflowers“ nun hat Robert Smith noch einmal alles in den Ring geworfen, hat sich mühsam aufgebäumt und mit der letzten Kraft ein Meisterstück geschnitzt. Das letzte Cure-Album soll es sein, und das macht Sinn. „There’s nothing left to bum/I’ve run right out of thought sand I’ve run right out of words … I used to feed the fire/but the fire’s almost out“, jammert Smith in „39“, paradoxer Weise inspiriert durch seine Inspirationslosigkeit. Zentrales Thema von „Bloodflowers“ ist die Tristesse des Alltags, das Erlöschen der Leidenschaft, der fehlende künstlerische Druck. Nüchtern betrachtet, so könnte man argumentieren, ist das Gesamtkunstwerk The Cure also am Ende. „Inwiefern?“, fragt Robert und blickt aufmerksam aus kleinen, wachen Augen. Von 1979 bis 1999 Musik mit mächtig viel Maskerade, dazu jede Menge Selbstmitleid. Das reicht doch nun wirklich, oder? Vielleicht hat das neue Jahrtausend einfach keinen Platz mehr für The Cure. Smith schaut auf seine Stiefel. „Wäre es nach mir und nicht nach der Plattenfirma gegangen, hätte ich ‚Bloodflowers‘ noch im letzten Jahr rausgebracht. Jetzt stehen wir am Anfang einer neuen Zeit und blicken doch mit dem Album eigentlich zurück. Künstlerisch betrachtet, ist das eine LP voller Nostalgie. Ob sie 2000-tauglich ist, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich 2000-tauglich bin“, überlegt er lächelnd. Und verändert hat ersieh in der Tat, dieser Robert Smith.

Rosensträucher hat der seit 1988 kinderlos verheiratete Mann heute in seinem Garten im Westen von London. Dort arbeitet er fast jeden Tag an seinen Beeten. Nach der Schule hat sich Robert zum Gärtner ausbilden lassen. Heute schwört er allerdings auf gartenwissenschaftlich umstrittene Techniken. Regelmäßiges Bepinkeln animiere die Domengewächse zum besten Gedeien, verrät er. Smith richtet sich auf, wenn er von seinen gärtnerischen Erfolgen und kuriosen Gießgewohnheiten berichtet: „Ich kann das nur empfehlen. Vor sieben Jahren hab‘ ich einen Busch gepflanzt. Die Blüten sind jetzt fantastisch blutrot. Eine der Rosen ist im ‚Bloodflowers‘-Booklet zu sehen“, erzählt Smith und erzählt und erzählt. Der einst so unzugängliche und introvertierte Gothmusiker quatscht nach dem dritten White Russian ohne Punkt und Komma, mit einer Begeisterung, die sich um diese Uhrzeit seinen halbtrunkenen Tresenkollegen kaum erschließt. „Wenn du im Garten Unkraut jätest, dann ist es nach zwei Wochen wieder nachgewachsen. Du denkst vielleicht, ein Garten, wie fucking langweilig. Aber ich bin fasziniert von der Idee, dass alles, was ich tue, im großen Zusammenhang der Natur bedeutungslos ist“, philosophiert er und steckt ein Streichholz an. „Mein Garten erinnert mich daran…“, Smith spricht bedeutungsvoll weiter, während die Flamme fast zum Daumen runterbrennt, und erst im letzten Augenblick zündet er die kurze „Gitane“ zwischen seinen Lippen an, „…dass im Endeffekt alles Tun nur Zeitverschwendung ist. Das klingt klischeehaft, aber es hat etwas unglaublich Befriedigendes. Zudem bin ich bei der Gärtnerei an der frischen Luft und rieche den Duft der Rosen“, schiebt der kauzige Kultmusiker noch hinterher, steigt von seinem Barhocker und geht mal eben für kleine Rockstars.

Häuslich ist er geworden, der Melancholiker. Als Manager Daryl während der Pinkelpause erzählt, dass Robert aus Bequemlichkeit beschlossen hat, statt Manchester United sein Fußballherz von nun an lieber dem Zweitliga-Club mit Stadion vor seiner Haustüre zu schenken, wird man ein wenig ratlos. Robert Smith hat offensichtlich drei Gänge zurückgeschaltet. „Wenn ich meinen Lebensstil nicht geändert hätte, wäre ich jetzt tot. Das ist kein dramatisches Dahergerrede, sondern Fakt. Wenn ich weitergemacht hätte wie früher, läge ich jetzt tot in einem Badezimmer“, meint Smith nach seinem Wiedereintritt ins Gespräch. Und er hat Recht. Von jeher trieb Smith eine befremdliche Lust am Experiment. Seit seiner Jugend quälte ihn solch unsäglicher Durst auf Grenzerfahrungen, dass er mit trockenem Mund bis zur eigenen Seinsgrenze stolperte. So hielt er sich als 13-jähriger mehrfach über drei Nächte hinweg wach, „nur um zu sehen, was passiert“. Auf dem Zahnfleisch schleppte er sich in die Schule, das Ergebnis dieses konsequent angewandten Wahnsinns fand er „…interessant, wirklich, ich hatte ein paar Out-Of-Body-Erlebnisse. Ich schwebte durch das Klassenzimmer und sah mich selbst an der Tafel stehen“. Ein Jahr danach überforderte er die pubertätsbegrenzte Toleranz seiner männlichen Mitschüler, als er wegen einer Wette mit Make-up seiner Mutter im Sportunterricht erschien und dafür kräftig Prügel bezog. Das fand er aus verständlichen Gründen zwar „nicht fair“, war aber schon damals fasziniert, wie einfach man durch Abweichen von der allgemein akzeptierten Norm Mitmenschen aus der Fassung bringen kann. „Das hat meine Selbstbestimmung nur gefestigt. Von da an kam ich in regelmäßigen Abständen in Damengarderobe und geschminkt in die Schule. Ich wollte ein Statement gegen diese Idiotenmentalität abgeben, die genau festlegt, was und wer akzeptiert wird“, erinnert sich der Exzentriker, dessen Leben durch derartige Radikalaktionen beileibe nicht einfacher wurde. Unbeirrt rannte Smith gegen Wände. Rücksichtslos erforschte er sich selbst mit allen Mitteln, die ihm zur Verfugung standen – und dokumentierte das Ganze bisweilen auch noch: „Als ich 1982 mit der Band nach Neuseeland kam, hab‘ ich das erste Mal starkes LSD geschluckt und hatte eine unglaublich sonderbare Nacht. Am Morgen stand ich im Bad und hab‘ ein Foto von mir im Spiegel gemacht, weil ich überzeugt war, dass ich mich verändert hatte“. Verstörend intime Einblicke in diese Zeit gewähren die Alben „Pornography“ und „Japanese Whispers“. Wahrend der Aufnahmen zu letzterem musste ein gesundheitlich schwer gebeutelter Robert Smith für seine Selbstversuche bitter bezahlen – er erlitt einen Totalzusammenbruch.

Rückblickend grenzt es fast an ein Wunder, dass Smith seine Experimente ohne bleibende Schäden überstanden hat (vom Zustand seiner Haare abgesehen). Er behauptet sogar, in all der selbstverordneten Dunkelheit Antworten gefunden zu haben, die ihm sonst verwehrt geblieben wären. Mit dem Gefühl, viel erlebt zu haben, fristet er heute ein vergleichsweise normales Dasein zwischen Ehe-Alltag, Rosenbeeten und seiner Musik. Kreativer Stillstand ist nicht eingetreten im Hause Smith. Nur liegen andere Dinge an, als über das x-te Cure-Album nachzudenken. „Ich setze mir Ziele in kleinen Schritten. Ich übe ganz langsam die jazzigen Gitarrenläufe von Django Reinhard und kann auch schon Tonleitern auf dem Cello spielen. Mein Gesäge ist der schlimmste Alptraum meiner Nachbarn. Außerdem starte ich gerade ein Soloprojekt mit gesprochenen Worten und Beiträgen anderer Künstler“, verrät Smith. Inzwischen ist es fünf Uhr früh, und es wird zunehmend schwieriger, Herrn Smith noch etwas Sinnvolles zu entlocken. Nach einer Weile beginnt er jeden Satz mit „Druck das bloß nicht, ach fuck, druck es doch, ist mir scheissegal“. Dann schimpft er wie ein Rohrspatz über Musiker, die ein bestimmtes Image ausschlachten. Als ob er das nie getan hätte. Eine Anmerkung, die Smith nicht hören will: „Ich bin nicht seltsam. Ich schreibe Songs. Aber ich kann mich mit jedem normal unterhalten, okay?“ Aber klar doch.