10 Jahre nach der Neuen Deutschen Welle:
Die deutsche Popmusik feiert Geburtstag! Vor zehn Jahren hatten einheimische Musiker plötzlich genug davon. Immer nur Engländer und Amerikaner zu kopieren - sie wollten ihr eigenes Ding: Spaß, tanzen, auf Deutsch singen und mit drei Akkorden In die Hitparade. Motto: "Wir können nichts und machen alles". Die Neue Deutsche Welle war geboren, und endlich wimmelte es in den Charts von Jungen Bands, die In der Sprache Goethes und Schillers die unglaublichsten Sachen sangen. Was zehn Jahre danach aus den Wellenreitern der NDW geworden ist, erforschte ME/Sounds-Mitarbeiter Rolf Lenz.
Wir schreiben das Jahr 1979. Deutschland erlebt Schnee-Katastrophen und den ersten Smogalarm Stufe 1, alle gucken „Holocaust“, Ayatollah Khomeini und Margaret Thatcher kommen an die Macht, Gerd Müller geht nach Amerika, Benzin kostet zum ersten Mal mehr als eine Mark, Carstens wird Bundespräsident, Strauß Kanzlerkandidat, die „taz“ kommt auf den Markt, und der Papst ist ständig auf Welt-Tournee. Langweilige Deutsche hören Boney M, Peter Maffay („So bist du“), Village People und „Kreuzberger Nächte sind lang“ – gelangweilte Deutsche hören Blondie, Talking Heads, Clash, Ultravox oder Sex Pistols.
In einer Landkommune in Gevelsberg-Silschede (auf halbem Weg zwischen Dortmund und Düsseldorf) wohnen Robert Görl, Gabi Delgado, Wolfgang Speimanns, Michael Kemner und Kurt Dahlke: Tagsüber machen sie Musik, abends führen sie eine Kneipe. Und alle paar Tage geht’s nach Düsseldorf, neue Platten kaufen und in den „Ratinger Hof“, Punk ist angesagt.
Aber nicht in Silschede. Görl, Delgado und Speimanns packen schließlich die Koffer und gehen als „Deutsch Amerikanische Freundschaft“ nach London. Kemner schließt sich den Düsseldorfer Fehlfarben an, und Dahlke nennt sich fortan Pyrolator, nimmt Solo-Platten auf und gründet mit dem Wuppertaler Maler/Galeristen-Duo Moritz Reichelt und Frank Fenstermacher die Gruppe Der Plan und das Schallplatten-Label Ata Tak.
Ebenfalls 1979 tun sich im westfälischen Hagen ein paar dreiste junge Männer unter dem Namen Extrabreit zusammen; in Hamburg beschließt Joachim Witt, keinen Westcoast-Rock mehr, sondern deutsch zu singen; in Berlin treffen sich Anete Humpe und Frank Jürgen Krüger bei den X-Pectors, aus denen später Ideal hervorgeht; Hannover tanzt zu den schnellen harten Rhythmen der Gruppe Hans-a-Plast… Keine Frage, auf einmal tut sich was in Deutschland.
Es war aber auch höchste Zeit. Jahrelang hatte man hemmungslos Engländer und Amerikaner kopiert und uns mit Kraut-, Jazz- oder Klassik-Rock gequält. Der einzige deutsche Popstar hieß Udo Lindenberg, das einzig neue war Nina Hagen, alles andere klang wie Schlager oder war kommerziell völlig unbedeutend.
Da sowieso keiner etwas zu verlieren hatte, ließen sich junge und gestandene Musiker nur allzu gern von der (wiederum importierten) Punk-Philosophie anstecken: Plötzlich war alles möglich, was die eigene Frechheit erlaubte – und statt mit überladenen-kniffligen Arrangements, zentnerschweren Botschaften oder zehn Semester Musikhochschule um sich zu werfen, machte plötzlich jeder, was er wollte. Und was er konnte – auch wenn’s nur drei Akkorde waren. Eine geradezu revolutionäre Entwicklung im Land der Dichter und Denker.
„Das war eine sehr bewegte Zeit, man hat relativ schnell ziemlich viel erreicht“, nickt Ideals F.J. Krüger. An „hektische Aktivität, ziemlich naiv und unbelastet“ erinnert sich Extrabreit-Sänger Kai Havaii, und sogar der ansonsten eher zurückhaltende Pyrolator strahlt: „Da war richtig Aufbruchsstimmung, damals traute man sich noch was.“
Immer mehr Bands trauten sich z.B., in Eigen-Regie Cassetten und Platten aufzunehmen; und wer sich diesbezüglich auf dem Laufenden halten wollte, las ab Februar 1980 die Rubrik „neuestes deutschend“ in der legendären Hamburger Musikzeitschrift „Sounds“.
Das „nd“ stellte ein besonders engagierter Bursche namens Alfred Hilsberg zusammen: „Ich hatte damals keine Lust, nur Fan oder Zuschauer zu sein. Ich gründete das ZickZack-Label und organisierte die Konzerte ,In die Zukunft‘ und ,Geräusche für die 80er‘, die ersten Independent-Festivals mit deutscher Musik überhaupt.“
Außerdem schiebt man ihm die Erfindung des Begriffs „Neue Deutsche Welle“ in die Schuhe – eine Ehre, die er sich mit dem Künstler Jürgen Kramer und dessen damaliger Seilmade-Zeitschrift „Neue Welle“ teilt.
Von Welle konnte 1980 freilich noch nicht die Rede sein, da die meisten Gruppen zunächst darauf angewiesen waren, sich mehr oder weniger selbst zu vermarkten, es war die Stunde der kleinen Labels: Ata Tak brachte D.A.F., Der Plan, Pyrolator und Wirtschaftswunder heraus, No Fun kam mit Hans-a-Plast, der Moderne Man, Bärchen und die Milchbubis, ZickZack hatte Palais Schaumburg, die Geisterfahrer, die Krupps, IC brachte die erste Ideal-LP, Welt-Rekord die erste Fehlfarben …
„Das hatte im weitesten Sinne auch einen politischen Anspruch“, meint Frank Fenstermacher von Ata Tak, spricht die Worte Anspruch und politisch allerdings mit Anführungszeichen aus. “ Wir wollten den gesamten Apparat in den Griff kriegen – nicht nur die Platten selber machen, sondern sie auch selber rausbringen und vertreiben. Da waren sich alle einig, haben hart und eng zusammengearbeitet, und nur darum hatte es diesen machtvollen Effekt.“
Ein Effekt, der sich anfangs noch nicht in übermäßigen Verkaufszahlen ausdrückte, der aber schon ein unerwartet großes Publikums-Interesse an den neuen deutschen Tönen signalisierte. Hatten bisher nur zwei große Plattenfirmen ihre Fühler ausgestreckt (EMI/Fehlfarben und Metronome/Extrabreit), wurde es 1981 auf einmal sehr lebendig in den nationalen Abteilungen der einheimischen Unterhaltungs-Industrie. Zunächst nahm man die bereits bekannten Gruppen unter Vertrag (Ideal ging zu WEA, DAF zu Virgin etc.), und nachdem sich deren Alben tatsächlich hunderttausendfach absetzen ließen, kauften die Firmen jeden und alle, die irgendwelche Töne produzierten und sich halbwegs als neu und deutsch vermarkten ließen.
Rein Marketing-technisch war der Begriff Neue Deutsche Welle ein geradezu geniales Etikett, das sich so gut wie jeder Sorte Musik aufkleben ließ: Punk, Pop, Wave, Funk, Experimente, Hard-, Heavy-, Jazz- und sonstiger Rock… Nur tanzen mußte man dazu können (diesbezügliches Modewort: tanzbar), und der Text hatte deutsch zu sein. Nicht mehr das Deutsch von Freddy Quinn oder Mary Roos, sondern das Deutsch aus Jugendheimen, Szene-Kneipen, Fußgängerzonen und Discos. Reimen war erlaubt, aber nicht unbedingt angesagt, Satzbau und Grammatik waren wurscht.
Selbst Discjockeys, die bisher nicht im Traum daran gedacht hatten, deutschsprachige Produktionen aufzulegen (bis auf Nina Hagen vielleicht), spielten 1981 Ideal („Blaue Augen“, „Ich steh‘ auf Berlin“), Extrabreit („Polizisten“, „Hurra, die Schule brennt“), Fehlfarben („Ein Jahr [Es geht voran]“), Rheingold („Dreiklangdimensionen“), Neonbabies („Spaß muß sein“), Joachim Witt („Goldener Reiter“), die Schweizer Grauzone („Eisbär“) und den „Mussolini“ der Deutsch Amerikanischen Freundschaft natürlich.
Mit Conny Plank, dem einzigen international anerkannten Produzenten-Genie Deutschlands, hatten die beiden übriggebliebenen DAFs Gabi Delgado und Robert Görl ihr erstes „Industrie“-Album ALLES IST GUT aufgenommen: wummernde Schlagzeug/Sequencer-Monotonie und Zeilen wie „unsere Kleidung ist so schwarz, unsere Stiefel sind so schön, unsere Schreie sind so laut, unser Tanz ist so wild“ oder „tanz den Mussolini, tanz den Adolf Hitler, beweg deinen Hintern und tanz den Jesus Christus“. Deutschlehrer und Kultur-Redakteure hatten was zum Diskutieren, ALLES IST GUT verkaufte sich prima und bekam in der allgemeinen Verwirrung sogar den altehrwürdigen Deutschen Schallplattenpreis verliehen.
Hunderte, tausende Male sollten Görl und Delgado von nun an beteuern, daß sie selbstverständlich keine Faschisten seien und lediglich mit Tabus spielen wollten. „Sprache ist nämlich kein Ding, das du dir einfach so nehmen kannst“, hat Gabi aus dieser Erfahrung gelernt. „Sprache muß man sich regelrecht zurückerobern, weil alle Worte schon irgendwie besetzt sind. Die ganzen 68er-Leute in den Medien konnten den ,Mussolini‘ nicht einfach als Comic sehen, sondern brauchten immer gleich einen riesigen ideologischen Überbau – dabei war es gerade die Austauschbarkeit von Ideologien, die hier ein bißchen entlarvt wurde. Die Musik zum ,Mussolini‘ war zwar originell, aber DER Text hätte auf jede Musik funktioniert, der hätte sogar ganz ohne Musik funktioniert.“
So simpel und minimal-elektronisch die DAF-Songs wirken, so (zeit) aufwendig waren sie allerdings in der Produktion: Was dank Midi-Technik heute in zwei Stunden zu bewerkstelligen wäre, dauerte damals mitunter zwei Wochen.
So lange hätten sich die Kollegen von Ideal nicht geduldet, die machten ihre Stücke nach der Devise „alles, was länger dauert als eine halbe Stunde, ist schlecht“.
“ Wenn wir uns im Übungsraum trafen, was selten genug war“, grinst F.J. Krüger, „haben wir nur ein paar Ideen abgeglichen und losgespielt.“ Der „Musik Express“ empfand es als “ Wohltat und einen starken Schritt der Musiker, den ach so kulturellen Background zu verleugnen und sozusagen unter Niveau zu spielen, was nichts weiter heißt als unter der eigenen Leistungsgrenze. Zugunsten einer in Deutschland selten gehörten Lockerheit. Weniger ist mehr. „
Oder, mit den Worten von Kai Havaii: „Wir gingen in den Keller, haben eingestöpselt, und dann wurde es sehr laut …“
„Laut“ und „schrill“ und „irre fetzig“ fanden auch „Bravo“ und Co. die neue deutsche Musik; und mit dem massiven Einsteigen der Teeny-Zeitschriften auf den neuen Trend sank nicht nur das Durchschnittsalter der Fans, es sanken auch die Ansprüche.
1982 bescherte uns eine Flut frechfröhlicher Mitsing-Liedchen von und mit Markus („Ich will Spaß“), Andreas Dorau („Fred vom Jupiter“), Hubert Kah („Rosemarie“), Frl. Menke („Hohe Berge“), UKW („Sommersprossen“) und schließlich Nena („Nur geträumt“).
Maskerade und Klamotten wurden ebenso wichtig wie Musik und Texte, denn jetzt ging’s ans endgültige Vermarkten der Neuen Deutschen Welle: Man zog sich bunte Hosen oder Dirndl an, ließ sich von Jeans-Gigant Levi’s im Vierer-Pack auf Tourneeschicken und hampelte nicht nur für „Musikladen“ und „Musicbox“, sondern auch für die „ZDF-Hitparade“ (damals noch mit Dieter-Thomas Heck).
Nicht alle natürlich: Was für den einen hui war, war für den anderen pfui und umgekehrt. Ein besonders anschauliches Beispiel für die Gegensätzlichkeit dessen, was da alles als Neue Deutsche Welle abgefeiert wurde, sind die Karrieren von Hubert Kah und Andreas Dorau:
Dorau wollte als Junge immer eine Band haben, „kannte aber nicht die richtigen Leute“. Er nahm Gitarren-Unterricht bei Palais Schaumburg-Mann Hoger Hiller, „der hatte ’ne 4-Spur-Maschine und da habe ich einfach angefangen, Musik zu machen“.
Dorau hat sie auch gleich veröffentlichen lassen, wie z.B. das elektronische Machwerk „Der lachende Papst“ (B-Seite: „Negermuskeln muß man kneten“, auf ZickZack).
Sein Single-Hit „Fred vom Jupiter“ entstand im Rahmen einer Schul-Aufgabe, bei der Doraus Arbeitsgruppe ein Lied komponieren, texten und aufnehmen sollte. Die Musik hatte Andreas schon im Alleingang eingespielt, Klassenkameraden/innen wirkten nur als Texter und Sängerinnen mit, trotzdem stellte sich die Schule quer, als die Nummer von Ata Tak veröffentlicht werden sollte: Dies sei eine schulische Arbeit, und die dürfe er nicht vermarkten. Dorau ließ sich durch einen Freund fünf pubertierende Mädchen von einer anderen Schule besorgen (die Marinas), nahm den „Fred“ einfach noch einmal auf und brachte ihn doch noch heraus.
Nachdem die Teldec das „Pop-Titelchen“ (Dorau) in den Vertrieb genommen hatte, ließ es sich über 100.000 Mal verkaufen, auch das Album TULPEN UND NARZISSEN kam gut an, doch mit der Single „Kleines Stubenmädchen“ gab’s schon wieder Ärger. Als bereits 30.000 Exemplare weg waren, entdeckten mehrere Radiostationen plötzlich Sexismus im Text, Dorau weigerte sich, die geforderte Entschuldigungs- und Richtigstellungs-Cassette zu besprechen, das „Stubenmädchen“ war gestorben, und Andreas wechselte zur CBS.
„Dann habe ich zum ersten Mal versucht, Geld zu verdienen und blöderweise den Fehler begangen, meine Stücke kommerziell machen zu wollen“, grämt sich Dorau im nachhinein über sein zweites Album DIE DORAUS UND DIE MARINAS GEBEN OFFENHERZIGE ANTWORTEN AUF BRENNENDE FRAGEN, das vom Publikum kaum wahrgenommen wurde. Der Hamburger Dorau ging nach München an die Filmhochschule und machte außer einer Oper, die noch während der ersten Vorstellung verboten wurde, erstmal gar keine Musik mehr.
Sein aktuelles Album DEMOKRATIE (wieder bei Ata Tak) erhebt „absolut keinen Chart-Anspruch“, er mag den „Charme des Kaputten, wo nicht alles 100%ig stimmt, sondern wo ’s mal hinkt und Haker drin sind. Demos sind mir immer lieber als das fertige Produkt.“
Am allerliebsten würde Dorau eine reine Instrumental-Platte aufnehmen, „aber was sollte ich denn da machen? Was ich spielen kann, ist nur sehr bescheiden …“ Melodien kann er singen, und das wird er auch weiterhin tun, als „Regisseur, der ab und zu mal ’ne Schallplatte rausbringt“.
Ab und zu mal ’ne Platte, das wäre den Jungs von Hubert Kah erheblich zu wenig. Klaus Hirschburger, Markus Löhr und Mastermind Hubert Kemmler waren schon vor der NDW eine Band, hießen Choice Quality und spielten Westcoast-Rock. „Dann ließen wir uns vom Zeitgefühl anstecken“, sie stiegen in bunte Streifenhosen, trugen ulkige Sakkos und spielten „neue deutsche Schlagermusik“: „Rosemarie“, „Caruso“, „Erika“…
Für viele Kritiker wurden Hubert Kah sofort zum Inbegriff all dessen, was man an der Neuen Deutschen Welle hassen konnte – sie selbst haben sich nur den Vorwurf zu machen, „daß wir uns damals mit diesem furchtbaren Produzenten eingelassen haben, diesem Dr. Zundel, der abgesehen davon, daß er menschlich nicht integer ist, das musikalische Einfühlungsvermögen eines Aschenbechers hat. Das Arschloch hat uns geknechtet und geknebelt und wir haben uns knechten und knebeln lassen – wenn du als 18ähriger einen Vertrag unterschreibst, interessierst du dich nicht für die Konsequenzen.“
Eine der Konsequenzen war, daß das erste Kah-Album MEINE HÖHEPUNKTE in drei Tagen eingespielt werden mußte, inklusive Overdubs und Abmischen. „Zum Glück hatten wir musikalisch soviel Potential, daß es selbst Zundel nicht geschafft hat, das kaputtzumachen“, grinst der selbstbewußte Hubert.
Er hat recht behalten: Seit sie mit dem dritten Album zu Sandra-Ehemann Michael Cretu gewechselt sind und englisch singen, kennt man Hubert Kah auch in Japan und den USA. Inzwischen läuft es so gut, daß sich die drei demnächst ganz auf eigene Füße stellen wollen.
Hubert Kemmler, der seine Show-Karriere mit Schulfest-Auftritten als Elvis Presley und John Travolta-Tanzwettbewerben begann, ist ernsthaft darauf aus, seine „echte unbeeinflußte Identität“ zu finden. Daß er seinen musikalischen Output immer noch unter dem Namen Hubert Kah verkauft, findet der Wahl-Münchner aus Reutlingen durchaus logisch:
„Der NDW-Hubert Kah war nur EINE Inkarnation von Hubert Kah: eine Teil-Identität, wenn du so willst. Wir haben schließlich nicht mit NDW angefangen und auch nicht damit aufgehört…“
Der smarte Hubert hat auf alles eine Antwort, weiß sein Tun und Lassen immer zu rechtfertigen – und Leute wie Andreas Dorau kann er auf den Tod nicht leiden. Was auf Gegenseitigkeit beruht: Die beiden sind sich zwar nie im Leben begegnet, trotzdem verbindet sie herzliche gegenseitige Ablehnung.
Einig sind sie sich nur darin, daß sie mit dem Etikett Neue Deutsche Welle am liebsten nichts zu tun gehabt hätten. Diese Ansicht teilen auch sämtliche anderen NDW-Bands, wobei die starken Sprüche von ’81/’82 (Frl. Menke in „Bravo“:
„Mit den Chrom- und Neonkindern der NDW habe ich nichts am Hut“) inzwischen nüchternen Bestandsaufnahmen gewichen sind.
Carlo Karges: „Neue Deutsche Welle hieß ja nicht, daß plötzlich allen Leuten im Lande die Muse begegnet ist. Die NDW war vielmehr eine Bereitschaft der Firmen, auch mal an was Deutsches zu glauben. Und da man seiner Sache nicht so sicher war, ist man halt in die Breite gegangen: Wenn man 20 Bands auf einmal rausbringt, werden ’s wohl zwei davon packen. Was in einer Hinsicht ganz toll und erfrischend war – aber natürlich in anderer Hinsicht schrecklich ruinös. „
Nicht die Musiker hatten die Neue Deutsche Welle zur Bewegung und zu dem neuen Ding hochstilisiert, sondern Industrie und Medien. Deutschlands Plattenfirmen freuten sich riesig: Nach jahrelangem planlosen Herumsuchen brauchten sie jetzt bloß noch auf die Straße zu gehen und das Portemonnaie aufzumachen – endlich ein Trend vor der eigenen Haustür! Gründlich wie die Deutschen nun mal sind, taten sie allerdings zuviel des Guten, und schon Ende 1982 meldete der Markt erste Übersättigungs-Erscheinungen.
„Over Exposure“ nennt man es heute, wenn ein oder mehrere Künstler derartig häufig in den Medien vertreten sind, daß sie dem Publikum langsam aber sicher auf den Geist gehen. Genausowenig wie der durchschnittliche Teenager (und der kauft immer noch die meisten Platten) drei Madonna-Alben pro Jahr aushalten würde, konnte er 1982/83 20 NDW-Scheiben pro Monat verkraften – die Verkäufe gingen zurück, das Ende war abzusehen.
„Medien und Plattenfirmen haben von Anfang an die falsche Politik betrieben“, faßte Andreas Dorau seinerzeit in ME/Sounds zusammen.
„Der große Fehler war, daß sie die NDW als Mode herausgestellt haben und nicht als ernstzunehmende Zeiterscheinung. Alles, was deutsch war, war einfach gut, selbst wenn es in Wirklichkeil Schrott war.“
Irgendwann kam das Publikum zu dem Schluß, daß die ganze NDW Schrott sei, und hörte – wenn überhaupt deutsch – lieber wieder Leute wie Grönemeyer, Kunze und BAP.
„Wenn ich heute mit dem Material der ersten Nena-LP zu irgendeiner Plattenfirma gehen würde“, mutmaßt Carlo Karges, „würden sie sagen: vergiß es! Durch die NDW war es endlich mal möglich, in Deutschland eine Pop-Sprache zu kreieren, aber dann hat sich das Blatt wieder zu den singenden Literaten gewandt. Viel von dem, was an der NDW so charmant war – der ganze Mut zur Trivialität – ist heute gar nicht mehr möglich, weil die Leute zur Zeit wieder genauso verkrampft drauf sind wie zu der scheußlichen Jazzrock-Zeit, als man seine Abba-Platten unter der Bettdecke hören mußte, damit der Wohngemeinschafts-Partner das nur ja nicht mitkriegte.
Wenn die Schallplattenfirmen zu Beginn der NDW ein bißchen selektiver vorgegangen wären und die Bands ein bißchen mehr geführt hätten, anstatt sie nur auszuschlachten und wieder fallenzulassen, dann hätte man den Begriff ,Neue Deutsche Welle‘ einfach irgendwann vergessen, es wäre aber eine gesunde lebendige Szene mit einem Haufen Bands dagewesen.
In Deutschland wurden die Gruppen damals nicht aufgebaut wie in anderen Ländern, wo man den Musik-Export als echtes Kulturgut betrachtet, fast schon als ideologische Waffe. Nimm bloß mal die Engländer: Die haben ein Selbstwertgefühl als wären sie Pophausen.
Die deutschen Platten-Leute machen ihren Job nicht aus Idealismus, sondern um Kohle zu machen. Und sie haben alle einen Riesen-Schiß um den Stuhl unter ihrem Arsch. Vor ihrer Risikobereitschaft zur NDW-Zeit haben sie sich im Nachhinein selbst erschrocken. „
Daß Karges auf Manager und Firmen-Vertreter nicht allzu gut zu sprechen ist, nimmt nicht weiter wunder, hört man seine Version vom Ende der Nena-Band: „Die CBS hat uns die ganze Nena-Karriere lang vollgesülzt, sie seien die ,family of music‘, und auch wenn’s mal eng würde, dann sollten wir mal sehen, wie sie hinter uns stehen. Aber kaum haben wir statt 500.000 Platten nur noch 200.000 verkauft, da nahmen sich Jim Rakete und die CBS Nena zur Seite und redeten ihr ein, daß sie allein fünfmal soviel verdienen könne.
Nena hat das geglaubt, zumal sie zu der Zeit tierisch auf dem Madonna-Trip war – sie lief ja sogar nun wie Madonna. Die Band wurde ins Büro bestellt, jeder bekam einen Scheck über 100.000 Mark, und das war’s. Das heißt: Offiziell wurde die Band gar nicht aufgelöst, offiziell wurde nur die nächste LP ausgesetzt, was z.B. bedeutet, daß ich versuche, auf dem Klagewege zu verhindern, daß Gabriele Susanne Kerner unter dem Namen ,Nena‘ lukrative Werbe-Jobs annimmt.“
Wie es Fräulein Kerner selbst in der Zwischenzeit ergangen ist, konnte man lang und breit den einschlägigen Illustrierten entnehmen, für die ihr gescheitertes Mutterglück natürlich ein gefundenes Fressen war. Kurz vor dem Tod ihres Sohnes Christopher gab sie der Hamburger Zeitschrift „Petra“ ein Interview, in dem sie für Ende des Jahres eine eigene LP plus Tournee ankündigte – als „Nena“, nicht als „Gabriele Susanne Kerner“.
Nena war einer der beiden Schlußstriche, die spätestens Ende 1984 unter die Neue Deutsche Welle gezogen wurden (Trio der andere); die Nenas durften auch international abräumen, waren aber gleichzeitig die einzige Band, deren Karriere den klassisch-chaotischen Rock’n’Roll-Alptraum-Verlauf nahm, den man hierzulande nur aus dem Kino kennt: Keifereien, Vögeleien, Saufereien und vor allem jede Menge Kohle!
Extrabreits Kai Havaii über die Finanzpolitik der Nena-Kollegen:
„Das habe ich mir immer mit großem Amüsement reingezogen – diese Romantik der Kreditkarten. Carlo Karges kaufte ja nicht eine Hose, der kaufte immer gleich zehn …“
Daß sie „nicht schlecht“ im Geldausgeben waren gibt Karges unumwunden zu – was er so verbraten habe, sei allerdings bloß ein Klacks verglichen mit den Summen, um die er sich „betrogen“ fühlt. “ Wir sind um die Welt gehetzt worden wie bescheuert, wir hatten kaum Zeit zum Schlafen, und in der Zwischenzeit haben andere Leute unser Geld ausgegeben. Allein an einer Immobilie, die uns am Telefon aufgezwungen wurde, hat jeder von uns 600.00 Mark verloren.“
Da fragt sich der Laie natürlich, wie das funktioniert mit dem „aufzwingen“. Laut Carlo wurden seine Bedenken gegen die Investition von der Nena-Finanzverwaltung mit dem schlichten Hinweis „Alter, es gibt auch noch andere Gitarristen, wa?“ abgeschmetttert. Genauso über Nacht wie die
meisten NDW-Karrieren begonnen hatten, waren sie auch wieder vorbei – kaum hatten sich die Musiker daran gewöhnt, kein Privatleben mehr zu haben, da hatten sie schon wieder zuviel davon. Trotzdem sind die meisten dem Musik-Business treu geblieben: und wenn nicht vor, dann hinter den Kulissen. Während Carlo Karges vergeblich versucht, neue Songs zu verkaufen (Textprobe: „So reich und so verloren, für einen Tag geboren, was für ein wilder Traum“), arbeitet Nena-Bassist Jürgen Dehmel lieber als Tontechniker. Keyboarder Uwe Fahrenkrog-Petersen hat sich den früheren Plasmatics/Little Steven-Bassisten Jean Beauvoir geschnappt und spielt mit Voodoo X biederen Heavy Rock.
Ideal-Sängerin Anete Humpe arbeitet heute als talentsuchendes „Träffeischwein“ (Jim Rakete) beim Act-Label in Hamburg, Hansi Behrendt trommelt für eine neue Gruppe, Bassist Ernst Deuker hat einen Science Fiction-Roman geschrieben und spielt mit Gitarrist F.J. Krüger selbstgemachte Swing- und Rockabilly-Nummern. Krüger, im Hauptberuf Oldtimer-Vermieter, hält außerdem engen Kontakt zum früheren Lindenbere-Gitarristen Karl Allaut, zum „Kollegen Krawinkel“ von Trio und ist zusammen mit Ernst und Hansi auf dem neuen Alphaville-Album zu hören.
Was Trio-Frontmann Stephan Remmler heute treibt, weiß jeder, Schlagzeug-Clown Peter Behrens ist „immer noch dabei, sich selbst zu finden“, und Gitarrist Kralle arbeitet mit einem Keyboarder aus Berlin an neuen Songs: ,,’ne Fortsetzung von dem alten Trio-Ding – allerdings mit dem Sound von heute. „
Den wünscht sich auch Extrabreits Kai Havaii für sein geplantes Album (Rock, deutsch). Gitarrist Stephan Kleinkrieg hat ebenfalls was in der Mache, Bassist Hunter baut sich mit Freundin ein Haus, und Schlagzeuger Rolf Möller ist zwischenzeitlich bei Grobschnitt gelandet.
Frl. Menke ist mittlerweile zweifache Mutter, Haushalt und Kinder versorgt allerdings Hausmann Sigi, während Mama mit dem früheren Atlantis- und Lucifer’s Friend-Keyboarder Adrian Askew Musik für Werbespots ausheckt („man ist so schön anonym und kann trotzdem tolle Sachen machen“).
Rheingold-Macher Bodo Staiger betreibt mit einem Partner ein kleines Studio in Düsseldorf, Gabi Delgado remixt alte DAF-Hits und versucht sich mit seiner Freundin Saba Komossa als Finanzmakler zwischen Künstlern und Geldgebern.
Die ganze Palette der meist-gewählten Berufswege findet sich bei den früheren Mitgliedern des Berliner one hit wonders UKW, deren „Sommersprossen“ 1982 das NDW-Faß für viele endgültig zum Überlaufen brachten: Bassist Peer Gerlach hat die Musik inzwischen aufgegeben. Schlagzeuger Thomas Schütze macht Tanzmusik, Kevboarder Andreas Koch hat ein Demo-Studio. Gitarrist Andreas Schwarz spielt bei den Other Ones und Sänger Peter Hubert sitzt am Schreibtisch des Berliner „Prima“-Musikverlags, der sich in erster Linie um die Werke von Jürgen von der Lippe kümmert.
Auch Hubert führt das rasche Ende der Neuen Deutschen Welle in erster Linie auf den Fehler zurück, „Berge von neuen Bands einzukaufen und schiffsladungsweise LPs auf den Markt zu bringen, anstatt an wenigen Sachen kontinuierlich zu arbeiten“.
Langfristig hatte die konzeptionslose Veröffentlichungs-Politik zur Folge, daß mit dem Abebben der Neuen Deutschen Welle auch die deutsche Sprache aus der aktuellen Pop- und Rock-Musik verschwand. Die meisten Bands, mit denen sich die Pop, national-Abteilungen der Plattenfirmen heute beschäftigen, singen englisch: Rainbirds. Phillip Boa, Element Of Crime, Playhaus, Jeremy Days, Monkey See Monkey Do, Jewellers, Metallic Traffic und ein paar Dutzend mehr.
Die einzigen, die textlich genau da weitergemacht haben, wo die NDW aufhörte, waren die Ärzte auf der einen und Max Gold auf der anderen Seite des intellektuellen Spektrums. Mittendrin (auch zwischen den Sprachen): Falco. Eine eigenständige deutsche Pop- (nicht Schlager!) Kultur gibt es nicht.
Daran ist freilich nicht der Ausverkauf der Neuen Deutschen Welle schuld – die Ursachen sind schon wesentlich früher, in der Zeit des Nationalsozialismus, anzusetzen.
Über vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg haben junge Deutsche, obwohl sie das III. Reich nur vom Hörensagen kennen, immer noch erhebliche Schwierigkeiten damit, einfach mir jung und deutsch zu sein. Gleichaltrigen Franzosen, Japanern, Senegalesen, Brasilianern oder Neuseeländern hat man nicht die ganze Schulzeit lang eingetrichtert, daß sie sich für ihr Volk zu schämen haben, drum gibt es auch jede Menge französische, japanische, senegalesische, brasilianische und neuseeländische Popmusik.
Hierzulande reicht es dagegen schon, das Wort Nationalität überhaupt in den Mund zu nehmen, um sich als Republikaner oder Schlimmeres zu disqualifizieren.
Daß es trotzdem machbar ist – und gar nicht schlecht – haben die Highlights der Neuen Deutschen Welle bewiesen. Die ersten Ideal-, DAF-, Fehlfarben-, Plan-, Witt-, Nena- oder Trio-Scheiben sind nach wie vor echte Knaller (wer sie nicht kennt: nachholen!). Ihre Sound-Qualität mag zwar nicht immer heutigen Studio-Standards entsprechen, was aber vom musikalischen Einfallsreichtum mühelos ausgeglichen wird.
Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum sowas heute nicht mehr möglich und gefragt sein sollte, aber der Schock des unrühmlichen NDW-Endes sitzt Musikern und Plattenfirmen offenbar so tief in den Knochen, daß sie lieber die Finger davon lassen: nichts Neues, keine Welle, nichtmal ein Plätschern.