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50 SOLOALBEN: Vom Klassiker zum Geheimtipp


Von Brittany Howard bis Beyoncé: Wir werfen einen Blick auf 50 bemerkenswerte Soloalben.

In der Regel sind Alleingänge nach oder während erfolgreicher Bandlaufbahnen steinig. Stets wird man am großen Ganzen gemessen. Doch Noel Gallagher stellt hier bei Weitem nicht die einzige Ausnahme dar. Wir haben 50 Soloalben zusammengestellt, die es sich zu (wieder-) entdecken lohnt. Künstler*innen, die es geschafft haben, aus dem Schatten ihrer Band zu treten und sich allein im Rampenlicht sonnen. Auf Solowerke von etwa Bruce Springsteen, Tom Petty oder Neil Young ohne ihre üblichen Begleitbands haben wir dabei der Trennschärfe zuliebe verzichtet. Und sogar, against all odds, auf Phil Collins.

An dieser Liste haben mitgearbeitet: André Boße, Mike Köhler, Martin Pfnür, Stephan Rehm Rozanes, Reiner Reitsamer, Frank Sawatzki, Thomas Winkler und Hella Wittenberg.

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Nico
CHELSEA GIRL
1967

Nico, geboren als Christa Päffgen, wurde im Berliner KaDeWe als Model entdeckt, und später in New York von Andy Warhol zum Superstar erklärt. Als Sängerin wog sie mit Charisma auf, was ihr an Technik fehlte: das tiefe Timbre, dazu ein harter deutscher Akzent – eine Stimme wie eine Totenglocke. Dem Debüt von Velvet Underground verlieh sie damit Glamour und Exotik. Im selben Jahr legte Nico ihre erste Soloplatte nach, unterstützt wiederum von Lou Reed, John Cale und Sterling Morrison. Tim Hardin und Bob Dylan steuerten Lieder bei. Das schönste schrieb Jackson Browne: In „These Days“ singt Nico von Niederlage und Rückzug. Die Streicher, die Produzent Tom Wilson dazumischte, hasste sie. Nico suchte Anmut im Hässlichen – und wurde damit zur Ur-Mutter von Punk Rock. (Reiner Reitsamer)

Die besten unbekannten Platten der 70er-Jahre

Syd Barrett
THE MADCAP LAUGHS
1970

Ob nun LSD-Unmengen oder eine latente Schizophrenie zu Syd Barretts erratischem Zustand führten – im April 1968 setzten Pink Floyd ihn vor die Tür. Im Mai ’68 führte Manager Peter Jenner den Gründer wie Komponisten von Floyds 67er LP-Meilenstein wieder in die Abbey Road Studios. Bis zum August ’69 versuchten Jenner, Malcolm Jones, David Gilmour, Roger Waters sowie Barrett selbst zu produzieren; vor allem Barretts unkalkulierbarer Geisteszustand torpedierte die Aufnahmen. Als das moderat erfolgreiche Proto-Indie-Werk THE MADCAP LAUGHS 1970 erschien, wirkten die 13 Tracks wie aus der Zeit gefallen. Spätestens beim Psychedelik-Revival in den 80ern erhielten Ausnahmestücke wie „Octopus“, „Golden Hair“ und „No Good Trying“ sowie LP-Zweitling BARRETT von 1970 dann offiziell das Etikett kongenial verliehen. (Mike Köhler)

George Harrison
ALL THINGS MUST PASS
1970

„Ins Badezimmer gehen und einfach mal alles laufen lassen.“ So beschreibt George Harrison die Aufnahmen zu diesem opulenten Solo. Wenn es denn einen „Who’s First?“-Wettbewerb unter den Ex-Beatles nach der Trennung 1970 gegeben hätte, ging George Harrison nur als Dritter an den Start, sein Triple-Album aber erzielte große Aufmerksamkeit. Die Single „My Sweet Lord“, bald Gegenstand eines Rechtsstreits, avancierte zum berühmtesten (unbeabsichtigten, so Harrisons Anwälte) Plagiat der Popgeschichte. Sie markierte aber auch Variationen im beatlesesken Ton: Harrisons singende Leadgitarre zeichnete die schönsten Kringel in einen gospeligen Wall-Of-Phil-Spector-Sound, wurde zum Melody Maker eines triumphalen Popsongs („What Is Life“), ordnete sich in einer Allstar-Jam-Session aber auch brav unter. (Frank Sawatzki)

John Lennon
JOHN LENNON/PLASTIC ONO BAND
1970

Inmitten der finalen Beatles-Phase ließen John Lennon und Yoko Ono im November 1970 zwei Soloalben in nahezu identischen Covern vom Stapel. Während Lennons exzellent spartanisch arrangiertes Debüt weltweite Lobeshymnen entfachte, erntete Onos Experimentalopus zu Unrecht den gleichen spöttischen Tenor wie zuvor die drei Alben des Protestduos. Vier Glockenschläge leiten die Zeitlupenballade „Mother“ ein – nicht die einzige gnadenlose Analyse Lennons über den eigenen Werdegang. Weiterer schonungsloser Seelen-Striptease („Hold On“, „I Found Out“, „Look At Me“, „My Mummy’s Dead“) wie auch unbequemer soziopolitischer Klartext („God“, „Love“, „Isolation“, „Working Class Hero“) stand im Fokus des von Phil Spector co-produzierten 11-Song-Zyklus. Wenig verwunderlich – unterzogen sich John und Yoko doch kurz vor den Aufnahmen einer Urschrei-Therapie bei Dr. Arthur Janov. (Mike Köhler)

Paul & Linda McCartney
RAM
1971

Seine Solokarriere eröffnete Paul McCartney mit Home Recordings von der schottischen Farm. MCCARTNEY wirkte etwasambitionslos. Das zweite Album schien in eine ähnliche Richtung zu gehen: Auf dem Cover packt McCartney einen Widder bei den Hörnern. Mehr Lagerfeuer-Lieder vom Bauernhof? Ja, aber! Für RAM wurde eine Band gecastet, Beatles-Produzent George Martin schrieb Arrangements für Streicher und Bläser. McCartney, der Studio-Tüftler, war zurück, der Zeitgeist interessierte ihn allerdings weniger. Diese Songs wollten entdeckt werden. „Uncle Albert/ Admiral Halsey“ gelang das sogar, das Mini-Medley schaffte es an die Spitze der US-Charts. Kritiker hassten das Album. Heute gilt RAM vielen als die beste Soloplatte eines Ex-Beatles. Was auf dem Bauernhof wächst, braucht oft Zeit zum Gedeihen. (Reiner Reitsamer)

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Paul Simon
PAUL SIMON
1972

Sein erstes Soloalbum THE PAUL SIMON SONGBOOK enthielt 1965 die Vorlagen für spätere Welt-Hits mit Art Garfunkel wie „I Am A Rock“ und „The Sound Of Silence“. Zwei Jahre nach dem Split des erfolgreichsten Duos der Popgeschichte etablierte er sich 1972 mit Klassikern wie „Me And Julio Down By The Schoolyard“ und „Mother And Child Reunion“ als alleinstehender Künstler. Besonders letzterem Song kommt besondere Bedeutung zu: ein Reggae-Stück eines Nicht-Jamaikaners, ein Jahr bevor Bob Marley mit CATCH A FIRE das Genre weltweit bekannt machte. In Kingston aufgenommen, geht der Song auf ein gleichnamiges Gericht zurück, das Simon in einem chinesischen Restaurant entdeckte und vor allem aus Ei und Huhn besteht. In anderen Texten verhandelt Simon Drogen und seine schwierige Ehe. (Stephan Rehm Rozanes)

Lou Reed
TRANSFORMER
1972

Hits! Hits! Hits! Lou Reed hatte Velvet Underground sitzen lassen, weil die Band – auch nachdem er John Cale rausgeekelt hatte – partout kein kommerzielles Potenzial entwickeln wollte. Aber auch sein Solodebüt LOU REED führte ihn nicht an die Fleischtöpfe, da brauchte es schon die Unterstützung von Produzent David Bowie, um Reed mit TRANSFORMER in den Mainstream zu befördern. Hilfreich natürlich auch, dass mit „Perfect Day“, „Walk On The Wild Side“ und „Satellite Of Love“ gleich drei Songs in den folgenden Jahrzehnten Heerscharen von unbegabten Lagerfeuergitarristen beschäftigt halten würden. Was den Rezensenten des „Rolling Stone“ nicht davon abhielt, ein nicht nur vernichtendes, sondern auch noch homophobes Urteil abzugeben: „artsyfartsy kind of homo stuff“. Ja, so ändern sich die Zeiten. (Thomas Winkler)

John Cale
PARIS 1919
1973

The Velvet Underground (&Nico!) brachten vier faszinierende Solokarrieren hervor. Am abwechslungsreichsten verlief jene des Waliser Multiinstrumentalisten John Cale: Von avantgardistischer Großkunst bis zu zuckersüßer Popmusik ist alles dabei. Die dritte Soloplatte bleibt wohl das zugänglichste Werk – wobei die barocke Pracht trügt. PARIS 1919 vermittelt ein Gefühl uneasy like sunday morning: die Sonnenstrahlen im Gesicht, den Abgrund im Bauch. Cale nannte es den Versuch, auf die denkbar netteste Weise etwas sehr Hässliches zu sagen: „I’m the church and I’ve come to claim you with my iron drum“, singt er im Titelstück. Und „Hanky Panky Nohow“ liefert eine gute Zeile, um den Heiligen Drei Königen am 6. Januar die lange Nase zu zeigen: „Nothing frightens me more than religion at my door.“ Halleluja. (Reiner Reitsamer)

Robert Wyatt
ROCK BOTTOM
1974

Diese Songs waren zum Teil schon vor Wyatts Fenstersturz 1973 komponiert worden, der Unfall, der den Ex-Soft-Machine-Schlagzeuger an den Rollstuhl band, aber hinterließ Spuren in Sound und Statik seiner Aufnahmen. Unterstützt u.a. von Mike Oldfield und Fred Frith übernahm Wyatt auf ROCK BOTTOM die Rolle des Sängers und Keyboarders. Und bewegte sich weg von Jazz-Rock-Schnitzeljagden, hin zu einer Dynamik und Tempo variierenden freien Form („Little Red Robin Hood Hit The Road“). Es war aber Wyatts Stimme, die diesen Songs eine Bestimmung verlieh: zerbrechlich, zwischen den Lauten hüpfend. Eine Stimme, die einen Love-Letter voller Verwunderung buchstabieren konnte: „It’s your skin, shining softly in the moonlight. Partly fish, partly porpoise. Partly baby sperm whale. Am I yours?“ (Frank Sawatzki)