11 denkwürdige Momente beim „Preis für Popkultur“ 2016


Wir erinnern uns UND waren da: Jetzt, ein paar Tage nach der ersten Verleihung des „Preis für Popkultur“, dämmern uns noch ein paar offene Fragen.

Am 9. September 2016 wurde zum ersten Mal der „Preis für Popkultur“ vergeben. In elf Kategorien und aus rund 40 Nominierten nahmen unter anderem Casper, Moderat, Bosse, Peaches und die Beginner als Trophäen gemeinte Bilderrahmen entgegen. Live traten Isolation Berlin, Bosse, Casper (feat. Blixa Bargeld und Dagobert), Boy und Drangsal für je einen bis vier Songs auf. Als Laudatoren sprachen etwa Sven Regener, Mute-Gründer Daniel Miller, Musicboard-Chefin Katja Lucker und Kraftklubs Felix Brummer – die beide von Moderator Bernd Begemann im Eifer seines eigenes Gefechts vergessen wurden. Kurzum: Es war eine durchaus stark besetzte und launige Sause, deren Daseinsberechtigung außer Frage steht.

Erfrischend gegen den Strich gebürstet: Max Gruber, der „hoffnungsvollste Newcomer“ des Jahres
Erfrischend gegen den Strich gebürstet: Max Gruber, der „hoffnungsvollste Newcomer“ des Jahres

Jetzt, da der Kater beim und vom Lollapalooza Festival ausgeschwitzt ist, dämmert uns aber: Rund um die Auszeichnungen und Auftritte im Berliner Tempodrom gab es auch ein paar weitere denkwürdige Momente und offene Fragen, die ein Debüt einer so ambitionierten Veranstaltung offenbar so mit sich bringt. Zum Beispiel diese hier.

1. Popkultur, was ist das eigentlich?

Eine Woche vor der ersten Verleihung des „Preis für Popkultur“ fand in Berlin zum zweiten Mal das „Pop-Kultur Festival“ statt. Außer des schwammigen Namens und einem Faible für Qualität abseits des Mainstreams haben beide Veranstaltungen nichts gemein. Der „Verein zur Förderung der Popkultur“ erklärte seine Gründung und Motivation zwar vorab, jedoch nicht live vor Ort. Moderator Bernd Begemann stellte fest, dass Popkultur und Deutschland ein schwieriges Verhältnis hätten, führte das aber nicht aus. Vielleicht, weil eine seiner Synapsen schon wieder drei Moderationszettel weitergesprungen war? Oder weil man sich da besser nicht versteigt?

2. Zwei-Klassengesellschaft beim „The Dome“ für Indiekids

Es schien alles so erfrischend anders zu werden: „No red carpet, no bullshit“, sagte Ex-ME-Redakteur Christoph Lindemann zu unserem Chefredakteur Albert Koch zu Beginn des Abends. Im Laufe der nach gelungenem Liveauftakt immer zäher werdenden Verleihung setzte sich jedoch ein anderer Eindruck fest: Vorne neben dem Bühnensteg die Casper-Fangirls für die Stimmung, im hinteren Teil des Innenraums bestuhlte Gala-Atmosphäre für die Nominierten und ihre Entourage, auf den Rängen die Vereinsmitglieder und, weiter oben, die zahlenden Gäste – der „Preis für Popkultur“ ist leider just another Preisverleihung. Die freilich noch in ihren Kinderschuhen steckt.

3. Ein Bier kostet 5 Euro

Und wer bloß ein gewöhnlicher Gast ist, muss eben auch für seine Drinks zahlen. Ein 0,4-Liter-Becher exklusive Pfand kostete lediglich vier Euro, für fünf bekam man satte 0,5 Liter. Wow! Gut, die Preise setzt das Tempodrom selbst fest, nicht der Veranstalter. Trotzdem: Wem genau soll eine öffentliche Preisverleihung eigentlich Spaß machen, wenn schon die VIPs trotz Freigetränken so gelangweilt dreinguckten, wie sie dreinguckten?

4. Die Nominierungen und Gewinner

Ja, schon klar, der „Preis für Popkultur“ soll eine verkaufszahlenunabhängige und deshalb geschmackssicherere Alternative zum ECHO werden. Mit Ausnahme von AnnenMayKantereit, Casper, Bosse und K.I.Z wurden denn auch keine Acts nominiert, die beim ECHO etwas reißen würden. Dass eine unter Popaspekten gesichtslose Band wie die hervorragenden Moderat aber nicht nur in der Kategorie „Lieblingsalbum“, sondern auch als „Lieblingsband“ gewinnen, darf verwundern – mindestens die aufgeregten Mädchen, die sich auch hier Casper, K.I.Z und AnnenMayKantereit gewünscht hätten.

5. Hauptsache Böhmermann

Die Kategorie „Schönste Geschichte“ ist eine uneindeutige: Soll hier ein journalistisches Lesestück prämiert werden? Eine Anekdote, die sich in Deutschlands Popwelt zutrug? Oder schlichtweg irgendein medial aufbereitetes Thema, über das die Leute sprachen? Heraus kam eine Mischung aus Böhmermann-Hoaxes, einer Intro-Titelgeschichte, einem Wanda-Diss und einer TV-Doku über den Ratinger Hof in Düsseldorf. Aber hey: So konnte man dem derzeit gefragtesten Satiriker unseres Landes immerhin einen Preis verleihen. Darauf springt dann auch die Presse an, die mit Popkultur – was auch immer das ist – sonst nicht so viel am Hut hat.

Der also gleich dreimal nominierte Jan Böhmermann bedankte sich per Videobotschaft für den Preis, den er für sein „Schmähgedicht“ erhielt und quatschte über seine Darmflora, die Abspaltungswürdigkeit Mecklenburg-Vorpommerns von Deutschland und seinen kleinen Beef mit K.I.Z. Dass die Zyklen in der Popbranche sehr kurze sind und sich für ihn im kommenden Jahr womöglich keiner mehr interessiert, weiß der Satiriker selbst. Warum er beim „Preis für Popkultur“ so oft nominiert wurde, mutmaßlich nicht.

6. Die Frauenquote

Außer in der Kategorie „Lieblingssolokünstlerin“ schaffte es kaum eine Frau in die Liste der Nominierten. Ein unhaltbarer Zustand, den vor Ort nicht nur Katja Lucker – in ihrer Laudatio auf das Team von „Plus 1 – Refugees Welcome“ – und Deichkinds Philipp Grütering kritisierten, sondern auch diverse Facebook-User nach Bekanntgabe der Nominierten. Den Jurymitgliedern des „Verein zur Förderung der Popkultur“ ist dieses Problem freilich bewusst. Auflösen konnten sie es für ihr Debüt leider nicht.

7. Bernd Begemann ist ein schwieriger Moderator

Dass der Hamburger Bernd Begemann eine Institution unter deutschsprachigen Songwritern ist, weiß jedes Vereinsmitglied genauso gut wie unsere hochverehrten mündigen ME-Leser. Die Kids unter 25, die nur wegen Casper da sind, wissen das nicht – und machten ihrem Unmut über Begemanns ironische, sexualisierte und anstrengende Moderation in den sozialen Medien Luft: Hilfe, aber wer hat Bernd Begemann gebucht?! Preis für die schlechteste Moderation #facepalm, schreibt eine Userin auf Facebook. Auf Twitter sprachen sie von Begemann aus Unkenntnis heraus bloß von „der Moderator“:

https://twitter.com/allesdunkelblau/status/774332984065351680

 

8. Kraftwerk erhalten Preis für ihr Lebenswerk

Dass Kraftwerk diesen Preis verdient haben, steht außer Frage. Dass ihr Wirken mit einem ausführlichen Video-Einspieler erklärt wird, kommt ein bisschen wie der erste Entwurf der Bowie-Gedenktafel daher:

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9. Es mangelt an Respekt

Ein Mädchen zieht sich mithilfe des Selfiemodus ihrer Smartphone-Kamera Lippenstift nach, während die Macherinnen von „Plus 1 – Refugees Welcome“ (ach, doch Frauen da!) über ihre Idee sprechen. Ein verirrter Proll im Publikum ruft irgendwas Prolliges durch den Raum, als Daniel Miller spricht. Je länger die zugegeben lange Laudatio des Mute-Gründers und Depeche-Mode-Entdeckers auf Kraftwerk dauert, desto unruhiger werden die Zuschauer. Casper-, Kraftklub- und K.I.Z-Manager Beat Gottwald raucht seelenruhig in einem Nichtraucher-Venue. Bernd Begemann vergisst Laudatoren rechtzeitig auf die Bühne zu bitten sowie Gewinnerinnen und Gewinner ausreden zu lassen. Respektlosigkeit und Oberflächlichkeit – zwei schlechte Eigenschaften, die man der Medienbranche offenbar nicht völlig zu unrecht vorwerfen mag.

10. Drangsal muss bleiben

Max Gruber sieht aus wie ein Comedian Harmonist, dessen Anzug in der Wäsche ist. Die Single „Allan Align“ kündigt er mit den Worten an: „Wir sind die Gruppe Drangsal und eure Rausschmeißer. Ich muss dringend auf Klo, deswegen spielen wir jetzt ein Stück, das heißt ‚Kevin allein’“. Oh ja: Gruber ist definitiv der interessanteste Künstler, der an diesem Abend auf der Bühne steht.

11. Aki Bosse ist 1 nicer Typ

Der aus Funk, Fernsehen und Echo-Verleihungen bekannte Schluffi Axel Bosse erzählt nochmal die Geschichte hinter seinem Song „Die schönste Zeit“ (Außenseiter lernt Diplomatentochter aufm Dorf kennen, verliebt sich, hört mit ihr Musik und macht mit ihr „auch alles andere, was Teenager so machen“, Diplomatentochter zieht wieder weg, Klein-Axel ist traurig und spielt Gitarre), bedankt sich bei seiner Frau und seiner Tochter für ihre Geduld – und liefert damit den menschlichsten Moment einer an menschlichen Momenten nicht überbordenden Veranstaltung.

Trotz alldem und ganz ernsthaft: Gut, dass es den „Preis für Popkultur“ jetzt gibt.

Stephan Flad Preis für Popkultur