30 Jahre The Cures „DISINTEGRATION“: The Dark Side Of The Mood
Im Jahr 1988 kam Robert Smith der Gedanke, dass er nach seinem 30. Geburtstag wohl nicht mehr in der Lage sein wird, ein echtes Meisterwerk zu schaffen. Da war er 29. Dies ist die Geschichte eines legendär eigensinnigen Visionärs, der tatsächlich bekam, was er wollte.
Was halten Sie denn von dieser These: Das Album DISINTEGRATION ist das THE DARK SIDE OF THE MOON der 80er-Jahre?
Klar, eigentlich kann und darf man diese Werke nicht miteinander vergleichen. Man muss doch nur mal auf die Zahlen schauen: THE DARK SIDE OF THE MOON hat bis heute rund galaktische 50 Millionen Einheiten verkauft; DISINTEGRATION hingegen bringt es bislang gerade mal auf runde drei Millionen. Zudem führte Pink Floyds heiliges Prisma das Konzept des Konzeptalbums endgültig in den Mainstream ein, gab der Rockmusik als Ganzes eine Art von höherer Bedeutung und allgemein anerkannte Ernsthaftigkeit, die bis in evangelische Jugend-Teestuben hinein eifrig diskutiert wurde. Allerdings erschien das bedeutungsschwere Album von der dunklen Seite des Mondes auch zu einer Zeit – 1973 –, in der es selbst unter Kennern vielleicht gerade mal ein gutes Dutzend Langspielplatten per annum zu beachten galt. Da konnte man viel einfacher auffallen.
Als hingegen das achte Album von The Cure veröffentlicht wurde, 16 turbulente Jahre später, hatte sich die Rockmusik längst in unzählige Genres, auf immer neue Schubladen und subkulturelle Zielgruppen aufgeteilt. Und selbst die einst belächelte Popmusik hatte inzwischen bewiesen, dass sie auch auf 33 Umdrehungen so einiges Trag- und Haltbares zu fabrizieren weiß.
Auch wenn der Veröffentlichungs-Output von vor 30 Jahren noch lange nicht mit den Freitags-Fluten von heute zu vergleichen ist, war er doch schon einigermaßen unübersichtlich geworden: Allein an dem Tag, an dem DISINTEGRATION erschien, am 2. Mai 1989 – ein Dienstag, an dem übrigens Ungarn als erstes Land des Ostblocks seinen Eisernen Vorhang öffnete und die Sendung „Der Preis ist heiß“ neu ins junge BRD-Kabelnetz eingespeist wurde – wurden auch die STREET FIGHTING YEARS der Simple Minds, damals eine anerkannte Nummer-1-Band, und das retrofantastische Debüt der Stone Roses ins Regal der Popgeschichte gestellt.
Die Wahrscheinlichkeit allerdings, in diesen Tagen auf einen Menschen zu treffen, der sich diese drei Alben gemeinsam von der göttlich gelangweilten Auszubildenden im Erdgeschoss von Elektro-Mayer in die Plastiktüte hatte schieben lassen, war eher gering. Denn die Grenzen zwischen den Genres und Stämmen waren damals für die meisten fast ebenso undurchlässig wie die des bröckelnden Warschauer Pakts. Und auch wenn sich The Cure seit 1982 eine Handvoll ziemlich übermütiger Hits geleistet hatten (in Deutschland besonders: das 1986 wiederveröffentlichte „Boys Don’t Cry“), Menschen mit MTV-Empfang immer wieder von diesen linkischen Gespenstern heimgesucht wurden und diese Gespenster auf der 87er-Tour zu ihrem erfolgreichen Doppelalbum KISS ME KISS ME KISS ME auch in Deutschland große Sporthallen gefüllt hatten, so wurden sie doch immer noch als „Gruftrocker“ oder sogar als „Goths“ kategorisiert.
Der Sänger und Kopf der Band, Robert Smith, obwohl neben Siouxsie Sioux die große frühe Stilikone dieser Subkultur, hasste solche Zuschreibungen, konnte mit dem Großteil der ihm zugeordneten Konkurrenz nichts anfangen und ließ auch mehr als einmal seine Verachtung für ein Publikum durchblicken, dem die Selbstinszenierung und Abschottung so ungemein wichtig war. Jahre später erzählte er allerdings, dass das große Feindbild, über das sich The Cure definierten, vor einem anderen 80s-Schminkspiegel stand: Duran Duran.
Über den Look von Robert Smith und den Seinen macht man sich ja bis heute noch gerne lustig. Mit den von zehn schwarzen Krähen zurechtgezupften Frisuren, Fingerfarben-Make-up und Sackkleidung lässt sich auch einfach nicht so gut altern wie in Springsteens Tankwärter-Jeans oder Nick Caves Dreiteilern aus Soho. Obendrein musste auch Smiths fantastisches Gejaule und untröstliches Gejammer zwangsläufig immer Geschmackssache bleiben. Doch trotz dieser Eigenarten haben The Cure eine Anerkennung gefunden, die fast alle alten Stil- und Zielgruppen-Grenzen überwunden hat.
Und dabei ist es eben vor allem ihr achtes Studioalbum, das nicht nur ihr erfolgreichstes wurde, sondern für sehr viele Leute bis heute eine feste Größe, ein zuverlässiger Fluchtpunkt ist. Der eigensinnige Visionär Robert Smith hat damals mit Hilfe seines Co-Produzenten David M. Allen und einer Band, die sich nicht zufällig zeitweilig ausgesperrt fühlte, dieses Werk so mutwillig missmutig in den ruralen mittleren Süden Englands gerammt, dass man den Erschütterungen bis heute nachspüren kann.
Durch den Monsun
DISINTEGRATION ist eine dieser seltenen Ganz-oder- gar-nicht-Platten, kompromisslos durchgezogen von der Vision bis zum fertigen Monument, klanglich wie atmosphärisch abgedichtet wie ein U-Boot. Da wird auf Refrains verzichtet, weil todesromantische Leadgitarren-Motive längst deren Aufgabe übernommen haben, den Hörer einzuspinnen. Songs bauen sich in schier endlosen Intros auf, die irgendwann gar keine Intros mehr sind, sondern der Song selbst, und die sind am besten über sechs Minuten lang; und erst nach zwei Minuten wird da überhaupt gesungen! Unablässig legen sich immer neue Schichten aus Keyboard-Streichern auf den Hörer, schwer wie Marmorplatten und weich wie Marmorkuchen. Töne bleiben, wohl weil hier drin niemals gelüftet wird, einfach im Raum stehen. Zu allem Überdruss scheint sich das Tempo immer weiter zu verschleppen, bis einen nur noch Simon Gallups körperlicher Bass knapp über der Grasnarbe hält.
Und außerdem scheint es auf dieser Platte immerzu zu regnen, genau wie im „Blade Runner“ – im liedtextlichen Sinne (ihre erste Zeile lautet: „I think it’s dark and it looks like rain, you said“) wie im übertragenen; in Songtiteln wie in Field Recordings. Und auch dieses Flirren des Röhrenglockenspiels an Boris Williams’ Schlagzeug klingt nach … na wenigstens nach Sommerregen.
Noch bevor wir ein weiteres Wort über die Lyrics verlieren, darf DISINTEGRATION deshalb zu einem Konzeptalbum erklärt werden – weil es allein aus seinem ganzheitlichen Klangbild und seiner Grundstimmung eine eigene Welt baut, groß, ja megalomanisch genug, um dann eben doch wieder unseren Eingangsvergleich zu rechtfertigen: Warum sollte dieser 71 Minuten mal 47 Sekunden großer Palast eigentlich nicht das THE DARK SIDE OF THE MOON seiner Zeit sein?
„Es ist, als ob ich mein ganzes Leben schon nach dieser melancholisch-monolithischen Pfütze von einer Platte gesucht hatte, und nachdem ich sie gefunden hatte, wollte ich mich für immer hineinlegen, während die Welt um mich herum zusammenbricht.“ Das hat der Kanadier Airick Asher Woodhead dem Webzine „Drowned In Sound“ erzählt, als er über sein Lieblingsalbum DISINTEGRATION reden sollte. Mag Woodhead mit seinem eigenen Projekt Doldrums auch keinen großen Eindruck hinterlassen haben, so stellt er hier doch eine wichtige Eigenschaft heraus, die seine Lieblingsplatte von den anderen drei dunklen Großtaten von The Cure – SEVENTEEN SECONDS (1980), FAITH (1981) und PORNOGRAPHY (1982) – unterscheidet: Die froren ihre Hörer lebendig ein, verschleppten sie ins Nebelfeld oder drohten, sie einfach zu zermalmen – in DISINTEGRATION jedoch möchte man sich hineinlegen! Die Platte bietet ein Vollbad in Melancholie – und Selbstmitleid. Sie hat etwas Tröstliches in ihrer Traurigkeit.
Es gibt noch viele andere Musiker, für die dieses Werk zu einem Denkmal, Vorbild, Wendepunkt geworden ist. Viele davon sind deutlich zu jung, um ihm noch als Teenager ins Netz gegangen zu sein. Anders als James Murphy, Jahrgang 1970, Chef der Elektrorock-Einheit LCD Soundsystem, auf deren Comeback-Album AMERICAN DREAM (2017) die Website „The Ringer“ wohl nicht ganz zufällig Momente ausgemacht hatte, die klängen „als würde man alle Songs von DISINTEGRATION gleichzeitig spielen“ – Murphy erzählte dem „Guardian“ dazu passend, wie wichtig ihm The Cure Ende der 80er gewesen sind und dass es ihm das Herz gebrochen habe, als er erfahren hat, dass Lol Tolhurst die Band verlassen hat (dazu gleich noch mehr).
Ben Gibbard, Sänger von Death Cab For Cutie, hörte das Album zum ersten Mal als „sensibler, emotionaler Teenager“, es ließ in ihm erst den Wunsch entstehen, selbst Songs zu schreiben. Win Butler von Arcade Fire war 1989 zwar erst neun, holte DISINTEGRATION aber in seiner Highschool-Zeit nach und hörte es „ziemlich obsessiv“. Das hinterließ dann unter anderem ausgerechnet im Sound von Arcade Fires Disco-rhythmischem REFLEKTOR-Album von 2013 seine Spuren.
Wir finden The Cures Meisterwerk außerdem in Lieblingsalbum-Listen von so unterschiedlichen, allerdings allesamt selbst zu einem melancholischen Duktus neigenden Acts wie Pale Waves, Warpaint, The Soft Moon, Chvrches und vielen anderen – und wie gesagt: Viele von ihnen sind jünger, als man meinen könnte, sie beziehen sich auf DISINTEGRATION als längst etablierten Klassiker, der eben nicht nur auf die Dream-Popper und Shoegazer der frühen 90er-Jahre Eindruck machte.
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